Christiane Mielck-Retzdorff

Fluch oder Segen

Die Erben des Wirtschaftswunders

 

August Kronbach wurde als erster Sohn eines Schlossers geboren, der einen eigenen kleinen Betrieb führte. Es war von Anfang an klar, dass der Sprössling in dessen Fußstapfen treten sollte. Dessen Jugend wurde vom Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg geprägt. Beides überstand seine Familie unbeschadet, auch wenn sie manches Mal ums Überleben kämpfen, Hunger und Entbehrungen ertragen mussten.

Der Wiederaufbau schenkte der Schlosserei reichliche Aufträge. So musste der junge Mann nach Abschluss der Hauptschule sofort im Betrieb mitarbeiten. Dabei zeigte er nicht nur großes Talent sondern auch die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln. Ganz nebenbei machte er seine Gesellen- und Meisterprüfung. Als sein Vater krank wurde und bald darauf starb, übernahm August die Schlosserei.

Daraus entwickelte er einen erfolgreichen Maschinenbau-Betrieb, der mit den Jahren internationale Bedeutung erlangte. Das Unternehmen wuchs zu einem Konzern und August hielt etliche Patente. So wuchs sein Vermögen in Millionenhöhe.

Noch als unbedeutender Schlosser heiratete er eine Friseurin, die ihm einen Sohn und eine Tochter gebar. Die Frau bestand darauf, die Kinder Alexander und Viktoria zu taufen, da sie der Überzeugung war, dass schon diese Namen Erfolg im Leben garantierten. Mittlerweile wohnte die Familie in einer prächtigen Villa, beschäftigte Angestellte für Haus und Garten. Allerdings widmete sich August mehrheitlich seinen Geschäften, überließ die häuslichen Belange und die Erziehung seiner Kinder der Ehefrau.

Die Familie war nun reich und hoch angesehen. Gerade die Mutter wusste, wie sie das Geld ihres Mannes in Luxus anlegen konnte. Sie erkaufte sich den Aufstieg in die bessere Gesellschaft, verwöhnte die Kinder und sonnte sich in den Wonnen des Wohlstands.

August Kronbach gelang es durch Fleiß, Verlässlichkeit, Instinkt und besonnene Kalkulation sein Unternehmen immer weiter auszubauen. Schließlich wandelte er es in eine Aktiengesellschaft um, behielt aber 60 % der Anteile, um weiter die Kontrolle über sein Lebenswerk zu behalten.

Alexander war ein ruhiges, in sich gekehrtes Kind. Seine kleine Schwester war genau das Gegenteil, ein Sonnenschein, der ständig nach Aufmerksamkeit und Lob gierte. Wurden Gäste mit gleichaltrigen Kindern in der Villa empfangen, saß der Junge meistens still beobachtend abseits, während das Mädchen mit den anderen spielte und die Erwachsenen mit ihrem Frohsinn um den Finger wickelte.

In der Schule fiel bald auf, dass Alexander überhaupt kein Verhältnis zu Zahlen hatte. Auch Basteln und Handwerken interessierte ihn nicht. Nur Lesen und Schreiben lernte er schnell. Im Sport zeigte er wenig Talent und Ehrgeiz. Er bewegte sich ungern, schaute lieber den anderen zu, hing seinen Gedanken nach. Da er nie den Unterricht störte, unauffällig blieb, empfanden die Lehrer ihn als angenehmen Schüler. Aber seine Schulnoten lagen stets im unteren Drittel.

Das beunruhigte den Vater, der davon ausging, dass sein Sohn eines Tages die Leitung des Großkonzerns übernehmen würde. Also sollte dieser in einem Internat, das auf weniger talentierte Sprösslinge aus reichen Familien spezialisiert war, auf seine zukünftige Tätigkeit vorbereitet werden. So musste Alexander früh die Geborgenheit seiner Familie verlassen.

Seine Schwester Viktoria war die große Freude ihrer Mutter. Beide liebte es, sich teuer zu kleiden, neue Frisuren auszuprobieren, sich auf Veranstaltungen zu präsentieren und das sorglose Leben im Wohlstand zu genießen. Auch das Mädchen, das langsam zu einer sehr hübschen jungen Frau heranwuchs, war nicht sportlich. Lieber saß sie mit ihrer Mutter in der Gastronomie der angesagten Clubs, übte sich im Flirten. Schließlich ging es darum, gesehen zu werden, nicht um schweißtreibende Betätigungen.

Ohne Interesse an Bildung oder Wissen beschränkten sich Viktorias schulischen Leistungen auf das Allernotwendigste. Irgendwie rutschte sie immer durch. Aber ihre Mutter verlangte auch nicht mehr, denn sie war der Meinung, dass eine Frau sich auf anderen Wegen ein zufriedenes Leben gestalten konnte. Dem viel geschäftlich reisenden und unermüdlich arbeitenden Vater reichte es, seine beiden Frauen glücklich zu sehen.

Nach diversen großzügigen Zuwendungen des Vaters an das Internat erreicht Alexander endlich die allgemeine Hochschulreife. Also kehrte er in die Villa seiner Familie, die er sonst nur in den Ferien besucht hatte, zurück. Dort erkannte er bald, dass das ständige Streben nach Gewinnoptimierung und die Jagd nach Marktanteilen die Kraft seines Vaters erheblich geschwächt hatte. Dieser klagte nicht, doch war kurzatmig geworden, plagte sich mit wiederkehrenden Erschöpfungszuständen.

Als August Kronbach endlich einen Arzt aufsuchte, urteilte dieser, dass es für den Mann schon fünf vor zwölf war. Sein Herz würde nicht mehr lange der Belastung als Leiter eines internationalen Großkonzerns standhalten. Da das Unternehmen einen so hohen Marktwert hatte, dass bei einem Verkauf alle Familienmitglieder weiter in beachtlichem Reichtum leben konnten, entschloss August Kronbach sich, diesen Schritt zu gehen.

Seine Frau begrüßte die Entscheidung. Endlich würden sie in den Süden ziehen, an einen Ort, an dem sich die Reichen und Schönen im Müßiggang tummelten. Diese Vorstellung gefiel auch Viktoria. Und Alexander fühlte sich endlich von der Last, die Nachfolge des Vaters antreten zu müssen, befreit.

Kurz nach dem erfolgreichen Verkauf erlag August Kronbach einem Herzinfarkt. Da er kein Testament hinterlassen hatte, erbten seine Frau und seine Kinder den dreistelligen Millionenbetrag. Alexander war bereits volljährig und durfte nun über ein beachtliches Vermögen bestimmen. Er blieb in der Villa, während Viktoria und ihre Mutter in den Süden zogen.

Nun saß der junge Mann zwischen teuren Antiquitäten und fragte sich, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Schon früh hatte er sich mit der Suche nach dem Sinn des Daseins beschäftigt. Er las philosophische Bücher, setzte sich mit Religionen und Weltanschauungen auseinander. Verständnis für sein Interesse fand er weder Zuhause noch bei seinen Kameraden im Internat.

Dort, wo reichen Sprösslingen die Grundlagen für eine erfolgreiche Zukunft vermittelt wurden, lernte er drei unterschiedliche Arten damit umzugehen, im Reichtum geboren und eines Tages vermögender Erbe zu sein, kennen. Die meisten jungen Männer genossen ihr Dasein ohne finanzielle Sorgen, in dem sie Geld ausgaben, sich gegenseitig versuchten mit ihrem Besitz, ihren Reiseerfahrungen und dem Prahlen über die Geschäfte ihrer Eltern zu übertrumpfen. Übermütig planten sie ihr Leben nach dem Abitur in niemals versiegendem Wohlstand. Niemals gestanden sie einander ein, welche Erwartungen an sie geknüpft wurden und welche Verantwortung damit verbunden war. Ihr Programm war Sorglosigkeit gepaart mit Prasserei.

Die zweite Gruppe wollte unbedingt die Erwartungen ihrer Eltern, deren Lebenswerk fortzusetzen, erfüllen. Sie verwehrten sich selbst zwanglosem Amüsement, paukten für die Schule wie besessen und bereiteten sich gezielt darauf vor, die an sie gestellten Ansprüche zu erfüllen. Ihre Gespräche drehten sich fast ausschließlich um Geschäfte.

Und dann gab es noch jene, die den Reichtum, in den sie hineingeboren waren, als Last empfanden. Wie ein Korsett schürte er ihnen den Atem ab. Sie wollten aus eigener Kraft etwas schaffen, stets von dem Bewusstsein gequält, dass sie dabei schwerlich auf das Geld ihrer Eltern verzichten konnten. Der Gedanke als Erwachsene nur Erben ohne eigene Leistung zu sein, bereitete ihnen ein schlechtes Gewissen. Doch die einzige Möglichkeit zur freien Entfaltung wäre ein Abkehr von der Familie gewesen und ein Leben in Armut in Erwägung zu ziehen. Aber sie mussten sich eingestehen, dass ihnen dazu der Mut fehlte.

Nun war Alexander also Erbe, konnte sorglos von den Früchten der Arbeit seines Vaters leben. Seine Mutter und seine Schwester hatten sich entschieden wie die erste Gruppe ihr Dasein einfach zu genießen. Geld auszugeben, sich mit kostbaren Juwelen und teurer Kleidung zu schmücken, machte ihnen Spaß. Sie fühlten sich als Privilegierte und wollten das auch zeigen.

Zwar hatte Alexander sich nie berufen gefühlt, das Lebenswerk seine Vaters fortzuführen und war dankbar dafür, dass dieser den multinationalen Konzert verkauft hatte, doch sich einfach auf den Lorbeeren auszuruhen, sich mit Luxus zu umgeben und sich unter die Reichen zu mischen, behagte ihm auch nicht. Das konnte doch nicht der Sinn seines Lebens sein.

Natürlich dachte er darüber nach, sein Vermögen für gemeinnützige Zwecke zu spenden, doch auch ihm fehlte der Mut, sich von größeren Summen seines Vermögens zu trennen. Wovon und wie sollte er dann leben? Verzweifelt erkannte er in sich den feigen Nichtsnutz.

Alexander entschloss sich, Philosophie zu studieren in der Hoffnung, dadurch endlich den Sinn seines Lebens zu erkennen. Was seine ehemaligen Schulkameraden so trieben, erfuhr er aus der Boulevard-Presse, denn diese lebte ja davon, ihre Leser an dem Leben der Reichen teilhaben zu lassen. Oft entdeckte er Fotos von jenen, die bei Champagnerorgien mit schönen Frauen ihren Wohlstand vorführten, sich benahmen wie die Herrscher der Welt.

Die Mitglieder der zweiten Gruppe traten nur selten als neue Generation der Wirtschaft in Erscheinung. Sie mieden die öffentliche Aufmerksamkeit und erfüllten pflichtgemäß die Erwartungen ihrer Eltern. Nur was Alexander über jene erfuhr, die den Reichtum als Last empfanden, betrübte ihn manchmal. Sie flüchteten in Drogen oder Alkoholexzesse, gingen keiner Tätigkeit nach und umgaben sich mit undurchsichtigen Gestalten.

Das Studium gefiel dem jungen Erben, doch er erntete wenig Verständnis für sein Interesse an einer sterbenden Geisteswissenschaft. Alexander lebte bescheiden und zurückgezogen. Er traute sich nicht, Kommilitonen zu sich nach Hause einzuladen, weil die Prachtvilla seine finanzielle Situation preisgab und vermutlich nur Neid erzeugte. Er wollte als einer unter Gleichgesinnten angesehen werden und nicht als sorglos reicher Erbe.

Dann verliebte sich Alexander in Julia, die sich in ihrer sachlich dem Leben zugewandten Art erheblich von ihm unterschied. Sie studierte Jura, doch seine philosophischen Gedanken faszinierten die junge Frau. Vorher war ihr nie in den Sinn gekommen, über den Sinn allen Seins nachzudenken. Zwar empfand sie es wie ein Spiel, doch es gefiel ihr. Das war vor allem Alexanders Wissens und Klugheit auf diesem Gebiet zu verdanken.

Julia drängte darauf, Alexanders Wohnung kennenzulernen. Lange gelang es ihm, dieses mit den abenteuerlichsten Ausreden zu verhindern, aber irgendwann gab er auf. Seine Gefühle für Julia waren stetig gewachsen und nun sah er sich gezwungen, ihr reinen Wein einzuschenken. Doch das sollte nicht durch den Anblick seiner Villa geschehen sondern in einem Gespräch.

Beide saßen sich gegenüber und tranken ein Glas Wein. Alexander hatte für seine Offenbarung ein Studentenlokal gewählt, in dem er sich schon oft mit Julia getroffen hatte. Anfangs plauderten sie locker über ihre Erlebnisse an der Universität. Doch der junge Mann konnte seine steigende Spannung kaum verbergen. Wie würde Julia reagieren? Würde sie wütend über seine Lügen sein, weil sie bisher davon ausging, dass Alexander, wie auch etliche andere Studenten, von der Unterstützung seiner Eltern lebte? Als sie ihn einst fragte, ob er mit der Familie des Großindustriellen August Kronbach verwandt sei, hatte er dieses verneint. War sie überhaupt in der Lage zu verstehen, warum er seinen Reichtum geheim hielt? Oder würde sie in ihm vielleicht nicht mehr den Studenten sondern den vermögenden Mann sehen?

Nach dem zweiten Glas Wein, als Julias ihn immer mehr drängte zu sagen, was ihn belastete, begann er mit dem Geständnis, dass er sie belogen hatte. Ungläubig schaute sie ihn an, denn sie kannte ihn als grundehrlichen Menschen. Verunsichert fragte sie, ob er schon verheiratet sei oder eine andere Freundin sein Leben teilte? Lachend verneinte Alexander, nahm ihre Hand und küsste diese.

Dann flüsterte er, immer noch Julias Hand haltend, beinahe beschwörerisch, dass er einer der Erben von August Kronbach sei. Die junge Frau brauchte etwas Zeit, um diese Aussage zu begreifen und fasste diese schließlich mit den Worten zusammen, dass Alexander also steinreich sei. Er nickte nur und drückte ihre Hand. Sachlich wie Julia nun mal war, wollte sie eine konkrete Zahl hören, die ihr Begleiter auch lieferte. Der Betrag von einem zweistelligen, hohen Millionenvermögen verschlug ihr die Sprache.

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück, wobei sie ihm ihre Hand entzog. Dann schaute Julia sich prüfend um, ob vielleicht jemand ihr Gespräch belauscht hatte, doch die Studenten an den anderen Tischen waren mit sich selbst beschäftigt. In Alexanders Gesicht spiegelte sich seine Angst, die junge Frau, die er liebte, zu verlieren. Schnell beugte sich Julia zu ihn herüber und küsste ihn innig.

Bald lebten beide zusammen in der Villa und die neue Hausherrin fühlte sich sehr wohl in ihrer Rolle. Sie forderte, dass die alten Antiquitäten modernen Designermöbeln wichen. Auch empfand sie ihre Garderobe als der neuen Umgebung unangemessen. Alexander erfüllte ihre Wünsche, auch wenn er eine Veränderung der Persönlichkeit von Julia bemerkte. Doch sie verstand es trefflich, ihn immer wieder durch Schmeicheleien und Zärtlichkeiten zu becircen. Schließlich bestand sie darauf, Alexanders Mutter und seine Schwester Viktoria kennenzulernen.

Also reisten sie ans Mittelmeer, wo Julia einen Schnellkurs im wirklich luxuriösen Leben bekam. Mutter und Schwester waren begeistert, dass Alexander nun eine Partnerin hatte, noch dazu eine, die wusste, wie wichtig es war, seinen Reichtum auch nach außen zu zeigen. Die drei Frauen verstanden sich prächtig und den jungen Mann beschlich mehr und mehr das Gefühl, überflüssig zu sein.

Die fleißige und besonnene Jurastudentin, in die er sich verliebt hatte, wandelte sich angeleitet von Viktoria zum Partygirl. Alexander blieb oft allein zurück, saß am Meer und ließ seine Gedanken treiben, wobei er sich langsam von Julia entfremdete. Er verstand nicht, warum Julia ihre Fähigkeit zum Denken, dem Philosophieren, der kritischen Betrachtung auf dem Altar des luxuriösen Scheins opferte. Das konnte doch nicht der Sinn des Lebens sein.

Auch wenn seine Liebe zu Julia erlosch und sie ihm immer fremder wurde, fehlte ihm der Mut, sich von ihr zu trennen. Während sie schon die gemeinsame Hochzeit plante, dachte er nur an Flucht. Schließlich wurde sein Drang, die Fesseln abzuwerfen so groß, dass er Julia unmissverständlich zu verstehen gab, dass ihre Beziehung zu Ende war. Zwar machten ihn ihre Tränen, ihr Entsetzen und Unverständnis betroffen, doch er ließ sich nicht beirren. Sofort reisten seine Mutter und Victoria an, um Alexander umzustimmen, aber sein Entschluss stand fest.

Julia rächte sich, in dem sie an der ganzen Uni verbreitete, wie unfassbar reich ihr ehemaliger Partner war. Auch in den sozialen Netzwerken verbreitete sie diese Nachricht. Sofort scharten sich Studentinnen um Alexander, die hofften, Julias Nachfolge antreten zu können und bald in nie versiegenden Wohlstand zu leben. Auch Männer suchten nun seine Gesellschaft, versuchten ihn von Möglichkeiten, das viele Geld gewinnbringend anzulegen, zu überzeugen oder wollten sich einfach nur im Glanz der Freundschaft zu diesem Erben sonnen. Andere mieden ihn, weil sie Alexander als sorglosen Nichtsnutz betrachteten, der sich auf den Lorbeeren seines Vaters ausruhte.

Diese ständige Bedrängung, von der er wusste, dass sich nur seinem Vermögen zu verdanken war, missfiel dem jungen Mann. Selbst die Presse und ihre Paparazzos scheuten sich nicht, ihm überall aufzulauern und die absurdesten Lügen über ihn zu verbreiten. Alexander entschloss sich, seine Heimat zu verlassen.

Er wollte weiter studieren und ihm fiel nur ein Ort ein, an dem der Reichtum von Studenten nicht ungewöhnlich war. Oxford. Also schrieb er sich, unterstützt von einer großzügigen Spende an dieser Universität ein. Er verkaufte seine Villa und zog nach England.

In den altehrwürdigen Mauern des Universitätsgeländes gingen die Studenten und Professoren tatsächlich entspannter mit dem Thema „großes Vermögen durch Erbschaft“ um. Dort tummelten sich jede Menge Töchter und Söhne, denen es ähnlich ging oder die Entsprechendes zu erwarten hatten. Alexander konnte sich ungestört seinen Studien widmen, denn er beherrschte die englische Sprache vorzüglich.

Wie viele seiner Kommilitonen wohnte er in einer kleinen Studentenwohnung. Besonders gefiel ihm, dass das Universitätsgelände von Grünflächen umgeben war, auf denen er immer wieder Plätze der Ruhe fand. Dort flossen die Themse und die Cherwell friedlich vor sich hin. Auf diesen in Holzbooten über das Wasser zu gleiten, was Punting genannt wurde, war ein beliebtes Freizeitvergnügen.

Eines Tages saß Alexander an einer uneinsichtigen Stelle am Ufer der Themse und hing seinen Gedanken nach. Die Mauern der Ehrfurcht gebietenden alten Gebäude der Universität ließen als Zeitzeugen die Geschichte des Ortes wieder aufleben. Stumm erzählten sie von Menschen und ihrem bewegten Leben. Doch unbeeindruckt davon, floss das Wasser vor sich hin, getrieben von dem Gleichgewicht aus Veränderung und Beständigkeit.

Unaufgefordert nahm eine junge Frau neben ihm Platz. Alexander hatte sie schon auf dem Campus gesehen, aber noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Und auch jetzt blieben beide stumm, wollten den Anblick des in der Sonne glitzernden Flusses, der umherschwirrenden Libellen und dem Spiel von Licht und Schatten nicht durch Worte stören. Erst nach einer ganzen Weile schaute die Studentin den Mann neben sich an und flüsterte ihren Namen Carolin. Nun stellte auch Alexander sich leise vor.

Wieder versanken beide in der Betrachtung der Natur. Dann sagte die junge Frau andächtig, dass sie an diesem Ort den Sinn des Lebens spüren konnte. Alexander sah sie erstaunt an, denn er hatte nicht erwartete, dass sich außer ihm noch jemand in Oxford mit der Suche nach dem Sinn des Lebens beschäftigte. Carolin hatte sein Interesse geweckt.

Sie studierte nicht Philosophie sondern Biologie und Zoologie. Aber was hatte die Sinnsuche mit den sachlichen Naturwissenschaften zu tun? Die Studentin erklärte ihm, in wieweit die Welt leichter zu begreifen sei, wenn wir uns mit ihren Ursprüngen beschäftigten. Schließlich war auch der Mensch ein Produkt der Natur. Von den Tieren unterschied ihn nur die Fähigkeit der Vorstellungskraft über die Wirklichkeit hinaus. Aber war das ein Fluch oder ein Segen? Und in wieweit wurde das Denken und Handeln der Menschen noch von ihren Urinstinkten geprägt? Mussten wir vielleicht erst die Tiere verstehen, um uns unserem eigenen Wesen zu nähern? Bis die Dunkelheit sie fast vollständig eingehüllt hatte, tauschten die beiden ihre Gedanken aus. Dann verabredeten sie sich an der gleichen Stelle für den nächsten Tag.

Carolin, Lady Westwood, war die einzige, noch lebende Angehörige eines sehr alten, britischen Adelsgeschlechts. Sie lebte auf einem Schloss, das umgeben war von Ländereien und Wäldern, die schon sehr lange ihrer Familie gehörten. Aus diesen Erträge zu erwirtschaften überließ sie einem Verwalter. Das sicherte ihr Auskommen, auch wenn davon noch reichlich Personal entlohnt werden musste. Mit diesem und ihren Hunden wohnte sie auf dem Anwesen.

Schon bald hatte sie Alexander gebeten, sie in den Semesterferien auf ihr Schloss als Gast zu begleiten. Diese Einladung nahm er gern an, denn er hatte sich in Carolin verliebt. Auch die junge Frau fühlte sich stark zu ihm hingezogen, doch beide waren sehr schüchtern und ließen sich einige Zeit, um ihre Gefühle füreinander zu offenbaren.

Bei ihrer Ankunft auf dem Anwesen wurde sofort deutlich, wie sehr Carolin ihre Hunde vermisst hatte. Und Alexander wurde bewusst, dass es von großer Bedeutung war, dass diese auch ihn freundlich aufnahmen. Doch er kannte sich überhaupt nicht im Umgang mit Tieren aus. Also wartete er ab, was geschehen würde. Nach der Begrüßungszeremonie mit Carolin hielten die Fünf erst mal Abstand und beäugten den Fremden. Alexander machte keine Anstalten, sich ihnen zu nähern, hatte aber auch keine Angst. Dann schritt der erste Hund auf ihn zu, beschnüffelte ihn und ließ sich streicheln. Die anderen taten es ihm gleich und schnell war der Gast als Freund anerkannt.

Carolin lobte ihren Begleiter. Das Abwarten sei richtig gewesen, denn immerhin gehörten die Hunde zu ihr und auf dieses Anwesen. Aber die meisten Tiere verstanden hervorragend ihr Gegenüber ohne Worte oder Gesten einzuschätzen. Diese Gabe hatten die Menschen leider verloren.

Das Schloss war ein sehr altes Gemäuer und bot nur eingeschränkten Luxus. Trotzdem fühlte sich Alexander dort gleich zuhause. Nur ein Flügel im ersten Obergeschoss wurde von Carolin genutzt. Dort bezog auch der Gast ein Zimmer. Von dort hatte er einen hervorragenden Blick auf den Park, der das Gebäude umgab. Aber schon bald verbrachten er und Carolin die Nächte gemeinsam. Aus ihrer Zuneigung war Liebe geworden.

Die anderen zahllosen Räume wurden überwiegend von dem Personal bewohnt. Das mochte den Eindruck einer gleichberechtigten Gemeinschaft erwecken, doch gerade die Angestellten achteten darauf, Julia und ihren Gast mit Abstand und Respekt zu begegnen. So nahmen die beiden ihre Mahlzeiten stets allein in einem Esszimmer ein, wobei sie freundlich bedient wurden. Carolin verstand es durch ihre vornehme Würde prächtig, die gegenseitige Abhängigkeit von Dienern und Herrschaft nicht unangenehm sondern selbstverständlich wirken zu lassen.

Alexander war begierig, alles zu lernen, was mit dem Betrieb des Anwesens einherging. Dazu musste er erstmal im nahen Dorf seine Kleidung auf robust und praktisch umstellen. Nun trug er oft Gummistiefel, die er nicht mal aus seiner Jugend kannte. Er wohnte der Geburt eines Kalbs genauso bei wie der Schlachtung eines jungen Ebers. Täglich genoss er zum Frühstück die frischen Eier und labte sich an dem schmackhaften, aber einfachen Mittagsessen, zu dem einmal auch eine mit Gemüse aus dem Garten angereicherte Hühnersuppe gehörte, für die eine Legehenne geopfert worden war. An diesem Ort lagen Leben und Tod so dicht beieinander.

Nach den Semesterferien kehrten Carolin und Alexander nach Oxford zurück. Auch wenn die Wohnung des Studenten recht klein war, zog seine Liebste schnell bei ihm ein. Ihre Ansprüche waren bescheiden und sie achtete streng darauf, das Geld zusammenzuhalten, denn der Erhalt des Schlosses war teuer. Schon bei seinem Besuch auf dem Anwesen hatte Alexander auf eigene Kosten einen Handwerker bestellt, um ein Loch im Dach zu flicken. Zuerst war Carolin erbost über diese Eigenmächtigkeit gewesen, doch er erklärte ihr, dass dieses seine Art sei, Dankbarkeit auszudrücken.

Schnell erfüllte Alexander Sehnsucht nach dem Schloss, den Ländereien und den Tieren. Sein Studium erschien ihm plötzlich zu theoretisch. Natürlich war es bereichernd, sich mit den Theorien Gelehrter über den Sinn und Unsinn des Lebens auseinanderzusetzen, aber deren Betrachtungen beschränkten sich meistens auf vom Verstand zu erfassende Umstände. Wie weit der Mensch von seinen Urinstinkten geprägt wurde, war selten bis nie ihr Thema.

Natürlich verbrachte das Liebespaar die Weihnachtsfeiertage auf dem Schloss. Voller Stolz bemerkte Alexander, dass das Personal ihn schon als Hausherren anerkannte. Nirgendwo hatte er sich je so zuhause gefühlt. Durch seinen Reichtum hätte er Carolin Diamanten zum Fest schenken können, doch stattdessen überraschte er sie mit der Anschaffung einer neuen Heizungsanlage für das Schloss. Sie bedankte sich mit Tränen der Rührung und einem selbstgestrickten, rustikalen Pullover.

Kurz nach ihrer Rückkehr nach Oxford erkannte Carolin, dass sie schwanger war. Alexander war außer sich vor Freude. Beide brachen ihr Studium ab und beschlossen zu heiraten. Das Fest sollte natürlich auf dem Schloss stattfinden und so nahm der Bräutigam einen Haufen Geld in die Hand, damit das Ereignis würdevoll gefeiert werden konnte. Noch nie war er seinem Vater so dankbar für das üppige Erbe gewesen.

Carolin bestand darauf, dass auch seine Mutter und seine Schwester Viktoria eingeladen wurden. Beide waren mehr als glücklich, dass sie sich nun mit einem Mitglied des britischen Hochadels in ihrer Familie schmücken konnten. Umso erstaunter waren beide, dass an der Hochzeitsfeier überwiegend das Personal und einige wenige Freunde der Braut teilnahmen. Überhaupt ließ das Fest den erwarteten Prunk vermissen. Enttäuscht reisten sie kurz nach der Hochzeit wieder ab.

Alexander stand seiner Frau bei der Geburt des ersten Sohnes zur Seite. Auch wenn er wie jeder aufgeklärte Mensch über den Vorgang an sich Bescheid wusste, konnte er kaum fassen, was geschah. Als er das Baby in seinen Armen hielt, auf seine erschöpfte, aber glückliche Carolin blickte, hatte er das Gefühl, einem Wunder beigewohnt zu haben. Dieses Erlebnis war mit dem Verstand kaum zu fassen. Und er erkannte, dass der Sinn des Lebens einfach nur das Leben war.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.06.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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