Anneliese Leding

Ein Leben nach der Uhr

Ein Leben nach der Uhr

Es war an einem Freitag im November, als Ulrich Neumann sein Büro im Finanzamt um 16.00 Uhr verließ. Beim Verlassen der Eingangshalle rief ihm der Pförtner zu: „Pünktlich wie immer, Herr Neumann!“ „Stimmt, Herr Meyer, stimmt. Schönes Wochenende!“ „Danke gleichfalls“, kam es zurück.

Er trat aus dem Gebäude auf die Straße. Ein kalter Wind blies ihm ins Gesicht. Gewohnheitsgemäß zog Neumann den Hut tiefer.

Wie jeden Abend bestieg er die Linie 701. Indem er seine Monatskarte vorzeigte, wechselte er ein paar belanglose Worte mit dem Busfahrer Gerhard Friese, der die Linie schon einige Jahre fuhr. „Heute war es nochmal sonnig.“ „War recht windig. Am Wochenende soll es Regen geben“, erwiderte Friese. Nickend ging Ulrich Neumann weiter und setzte sich auf den gleichen Platz wie jeden Abend. Er freute sich auf das Wochenende. Bei einem Bier wollte er es sich gemütlich machen. Neumanns Leben verlief nach der Uhr. Damit war er zufrieden. Hörte er die Probleme der Kollegen, die sie mit Frau und den Kindern hatten, war er froh, nicht mit einer Familie belastet zu sein. Er war sein eigener Herr und konnte tun und lassen, was er für richtig hielt.

An der Haltestelle „Allee“ verließ Neumann den Bus. Seine Aktenmappe klemmte er fest unter den Arm. Über eine Holzbrücke gelangte er in die Allee, an deren Ende sein Einfamilienhaus stand. Den Eingang, der mit Efeu berankt war, konnte er von weitem sehen. Er wunderte sich über die Person, die vor seiner Haustür saß. Beim Näherkommen erkannte er einen jungen Mann, der auf der Gitarre spielte und leise dazu sang. Forsch durchschritt er den Vorgarten und lief auf den Eingang zu. Empört rief er: „Was fällt Ihnen ein, sich vor meine Haustür zu setzen und Gitarre zu spielen! Können Sie nicht woanders betteln gehen? Verschwinden Sie sofort von meinem Grundstück!“ Sichtlich erschrocken erhob sich der junge Mann. Neumann sah in ein schmales Gesicht, aus dem ihn ein Paar hellblaue Augen ansahen. Sein Blick glitt an dem großen, etwas zu dünn geratenen Gitarrenspieler hinab. Dieser war mit zerfransten schwarzen Jeans, Turnschuhen und einer grauen abgewetzten Lederjacke bekleidet. Unter einer dunkelgrauen Häkelmütze hatte er die langen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein großer Rucksack lag auf der untersten Treppenstufe. Schweigen trat ein. Nach einer Weile fragte der Jüngere: „Sie sind doch Ulrich Neumann und Finanzbeamter?“ „Ja, der bin ich“, erwiderte Neumann ärgerlich. „Ich heiße Olaf Hansen und komme aus Bremen.“ „Soso, und was geht mich das an?“, fragte Neumann; er schüttelte den Kopf. „Ich glaube, eine ganze Menge“, konterte der Jüngere. „Sie waren doch vor langer Zeit mit Waltraud Hansen liiert“, und reichte dem Älteren ein Foto, auf dem eine junge Frau zu sehen war. Verdutzt antwortete Neumann: „Ja, ja, aber das ist schon eine Ewigkeit her.“ „Hey, Dad! Endlich habe ich dich gefunden!“ „Momentmal! Was heißt hier Dad!? Da könnte ja jeder kommen und behaupten, er sei mein Sohn. Nicht mit mir!“ Olaf trat einen Schritt vor und nahm einen verschlossenen Brief aus dem Seitenfach seines Rucksacks. „Diesen Brief hier hat mir meine Mutter, kurz vor ihrem Tod für dich gegeben.“ „Waltraud ist tot?“, fragte Neumann. Im versöhnlicherem Ton sagte er: „Ich glaube, hier draußen können wir nicht stehenbleiben. Komm erst einmal herein.“ Der junge Mann nahm seine Siebensachen und folgte ihm. Interessiert sah sich Olaf um: „Lebst du hier allein?“ „Ja! Das möchte ich auch in Zukunft“, konterte Neumann brummig und hängte seinen Mantel mit Hut ordentlich an die Flurgarderobe. Mit einem weichen Tuch putzte er über seine Schuhe, bevor er diese in den Schuhschrank stellte. Dann schlüpfte er in seine Pantoffel. „Hier links geht es ins Bad, eine Tür weiter ist die Küche und geradeaus geht es ins Wohnzimmer“, erklärte er Olaf, der darauf schnell im Bad verschwand. Ulrich Neumann ging in die Küche, nahm Geschirr aus dem Schrank, um den Tisch zu decken. Routiniert setzte er Wasser für Tee auf und holte Reste von Wurst und Käse aus dem Kühlschrank. Die Pfanne stellte er auf den Herd und fragte Olaf, der angelehnt im Türrahmen stand, ob er Eier mit Schinken haben wolle. Freudestrahlend erwiderte der junge Mann: „Ja gern. Seit heute Morgen habe ich nichts mehr gegessen.“ Ein herrlicher Duft von Gebratenem zog durch die Küche. Schweigend saßen sich Vater und Sohn gegenüber. Der junge Mann aß mit großem Appetit, dabei streifte sein Blick durch den Raum. Nach einer Weile bemerkte er: „Super Küche und alles aus Massivholz. Sogar die Tisch- und Stuhlbeine sind gedrechselt.“ Erstaunt sah Neumann hoch. Zum ersten Mal an diesem Abend huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Die Möbel habe ich selbst entworfen und selbst gebaut.“ „Duuu? Das glaub ich nicht! Dafür braucht man Maschinen und Werkzeug.“ „Vor langen Jahren habe ich mir im Keller eine Werkstatt eingerichtet. In meiner Freizeit arbeite ich gern mit Holz. Ach, was sage ich, es ist meine größte Leidenschaft“, äußerte er mit Stolz in der Stimme. „Super, einfach super!“, rief Olaf und sprang auf, um sich alles aus der Nähe anzuschauen. Zart strich er über die Profilleisten an den Schranktüren und leise kam über seine Lippen: „Holz ist nur ein einsilbiges Wort, aber dahinter steckt eine Welt von Märchen und Wunder.“ Überrascht setzte Neumann seine Tasse Tee ab und fragte: „Woher kennst du das Zitat von Theodor Heuss?“ „Schon als Kind habe ich gern mit Holz gebastelt, und das ist bis heute so geblieben. Zurzeit suche ich hier in der Stadt eine Lehrstelle als Tischler. Danach möchte ich Innenarchitektur studieren“, erklärte Olaf. Jetzt war Ulrich Neumann sprachlos. Kurz darauf fragte er: „Wo übernachtest du heute?“ Leise erwiderte Olaf: „Ich dachte … ich meine … vielleicht könnte ich ein paar Tage bei dir wohnen, nur so lange, bis ich ein möbliertes Zimmer gefunden habe.“ Neumann zog seine Stirn kraus: „Aber nur so lange, bis du was gefunden hast, nicht einen Tag länger. Und jetzt zeige ich dir das Schlafzimmer.“

Olaf lag auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Da lebte sein Vater allein in so einem schönen Haus und war entsetzt darüber, einen Sohn zu haben. Grenzenlose Traurigkeit machte sich in dem Neunzehnjährigen breit. Er lag noch lange wach und starrte in die Dunkelheit.

Zwischenzeitlich hatte Neumann die Küche fein säuberlich aufgeräumt. Ihm Wohnzimmer setzte er sich vor den Kaminofen und starrte in die Flammen. Von einem gemütlichen Wochenende war nichts mehr zu spüren. Der Brief von Waltraud ließ ihm keine Ruhe. Mehrmals las er ihre Zeilen. Erst jetzt erfuhr er, dass all die Briefe, die er ihr geschickt hatte, ungeöffnet von ihren Eltern einbehalten wurden. Da er nie eine Antwort bekommen hatte, musste er annehmen, Waltraud wolle nichts mehr von ihm wissen. Wie hätte er sich über ein Kind gefreut! Leider konnte man die Zeit nicht zurückdrehen.

Vier Wochen lebte Olaf schon im Haus seines Vaters. Ständig kam es zu Reibereien. Mal war die Musik zu laut. Mal war er nicht pünktlich zum Essen erschienen. Manchmal hatte es den Anschein, als sei man sich näher gekommen. Dann aber trat wieder eine Kluft zwischen Vater und Sohn. Es war ein Wechselbad der Gefühle und für Olaf nicht mehr zu ertragen. Kurzentschlossen packte er seine Sachen, legte eine kurze Mitteilung auf den Küchentisch und verließ das Haus.

Seit einer Woche hatte Ulrich Neumann sein Reich wieder für sich. Alles lag wie gewohnt an seinem Platz. Kam er abends heim, klang keine Gitarre mehr durch Haus oder ein „hallo, Dad, wie war´s im Büro?“, zur Begrüßung. Die Stille, die er früher so genossen hatte, ging ihm plötzlich aufs Gemüt. Sein Essen schmeckte ihm nicht mehr. Auch seinen Werkraum im Keller hatte er nicht betreten. Ging das Telefon – was recht selten vorkam -, hoffte er, Olaf würde sich melden.

Es war Samstag kurz nach Mitternacht, als das Telefon läutete und sich eine männliche Stimme meldete: „Spreche ich mit Herrn Ulrich Neumann?“ „Ja, der bin ich.“ „Hier Oberarzt Dr. Großmann vom Klinikum Lippe. Wir haben Ihre Adresse bei Olaf Hansen gefunden. Sind Sie ein Angehöriger?“ „Ja, ich bin der Vater!“, rief Neumann aufgeregt in den Hörer. Seine Beine gaben nach. „Was ist mit meinem Sohn?“ „Ihr Sohn hatte einen Verkehrsunfall und liegt auf der Intensivstation. Es ist besser, Sie kommen.“

Völlig verzweifelt, war Ulrich Neumann auf dem Stuhl vor der Intensivstation zusammengesunken. Alle paar Minuten starrte er auf die runde Uhr über der Eingangstür. Er hatte das Gefühl, dass die Zeiger nicht vorwärtsgingen. Huschte ein weißer Kittel vorbei, fragte er jedes Mal nach dem Befinden seines Sohnes. Immer lautete die Antwort: „Sie müssen Geduld haben. Die Ärzte tun ihr Bestes.“

Die Nach wollte kein Ende nehmen. Langsam stand Neumann auf. Seine Beine waren schwer wie Blei, als er im Flur auf und ab ging. Am Fenster blieb er stehen und öffnete es einen Spalt. Der Tag erwachte, ein Nebelschleier lag über der Stadt und er spürte eine frische Brise im Gesicht. Plötzlich legte sich eine Hand auf seine Schulter. Erschrocken drehte er sich um, denn er hatte Dr. Großmann nicht kommen gehört. „Herr Neumann, Sie dürfen jetzt zu Ihrem Sohn. Sein Zustand ist stabil.“ Lächelnd fügte er hinzu: „Wir gehen davon aus, dass er wieder ganz gesund wird.“

Ulrich Neumann betrat den Raum und erschrak über die technischen Geräte, an die Olaf angeschlossen war. Leise setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett. Liebevoll umfasste er die Hand seines Sohnes. Olaf öffnete die Augen: „Dad?“ „Ja, mein Sohn, ich bin es. Bleib ganz ruhig, es wird alles gut werden. Die Zeit können wir nicht zurückdrehen, aber die Zeit die vor uns liegt, wollen wir nutzen. Gemeinsam werden wir es schaffen.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.06.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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