Ali Yüce

Wahnwitz: Horizontenflucht

Sie war ziemlich aus der Puste. Im Erdgeschoss hatte sie sich noch vorgenommen, auf jeder Etage aus der Treppenhaustür ins Freie zu schauen, um zu sehen, wie sich der Horizont entfernte. Dabei wollte sie auf dem Weg zu ihrer eigenen Hinrichtung „ode to the sun“ singen, als positive Hintergrundmelodie zur negativen Einstellung. Wieso überhaupt negativ? Sie sah die Dinge immer von der positiven Seite. Es gibt einfach keine bessere Art, Probleme aus der Welt zu schaffen. Das ist Fakt. Fuck the facts, fing der Typ von H-Blockx in ihrem Kopf zu sing an und ihre Mundwinkel zogen sich in einem bitteren Winkel nach unten.


Im vierten Stock sang sie nicht mehr. Anstrengend dieses Treppensteigen. Sie war sowieso nicht mit dem Herzen dabei gewesen, sonst hätte jeder im Haus ihr Gekrächze gehört. Das fehlte noch. Den Horizont sah sie erst auf der sechsten Etage, aber sie war viel zu beschäftigt mit dem Atmen, um noch an ihren tollen Plan zu denken. Sie sah kein einziges Mal auf.

Auf der zehnten Etage sah sie endlich ein, dass eine kleine Pause nicht verkehrt war, und obwohl sie nur noch drei Stockwerke zu laufen hatte, wollte sie sich nicht dazu überreden müssen, so kurz vor dem Ende irgendwelche Heldentaten auf sich zu nehmen. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sie sich hinsetzte; ihre Beine knickten einfach ein und sie plumpste mit dem Hintern auf die Stufe. Sie erinnerte sich plötzlich nicht mehr, warum sie nicht den Fahrstuhl genommen hatte. „Let the demons have their place if so its angels you’ll create”, flüsterte sie mehr, als dass sie sang. “And disguised within the dark light will wait.”

“Fik deine mudda”, hatte jemand an die Wand gekrakelt. Ein anderer Jemand hatte sich die Mühe gemacht, mit einem roten Filzer die Rechtschreibfehler zu markieren und neben einer doppelt unterstrichenen „6“ die Bemerkung „lern schreiben du Trottel“ zu notieren. Unter anderen Umständen hätte sie sich darüber amüsiert, doch jetzt nahm sie die Worte beim Lesen kaum wahr. Sie konnte aber diesen Gestank von getrockneter Pisse nicht ignorieren, der langsam in ihre Nase stieg. Sie brüllte auf, sprang auf die Beine und nahm mit donnernden Schritten die letzten Stufen zu ihrem Ziel.

Als sie oben angelangt heftig die Treppenhaustür aufstieß, drehten sich zwei Jungs zu ihr um und der größere von ihnen versteckte schnell etwas hinter seinem Rücken.

„Eeeeey“, rief der Kleine, „eeey, das is’ nur Steffi! Du Schisshase hast beinahe den Joint runtergeschmissen!“
„Halt’s Maul“, sagte der Große missmutig. „Hey, Steffi. Alles klar?”

“Klar”, sagte Steffi teilnahmslos und verfluchte innerlich ihr Pech. „Habt ihr ins Treppenhaus gepinkelt?“

„Ich nicht“, sagte der Große, „aber vielleicht dieser Schwachkopf hier.“

„Kevin, wie redest du denn mit deinem Bruder?“ protestierte Steffi halbherzig.

„Wenn ich nicht so rede, versteht der nichts“, antwortete Kevin und drehte sich zu seinem Bruder. „Ist das
nicht so, du Opfer?“

„Ach, scheiß auf dich“, sagte der Kleine, ohne sehr verärgert zu klingen. „Gib endlich die Lunte her.“

„Was machst du hier oben?“ fragte Kevin und gab seinem Bruder den Joint.

Steffi brauchte eine Weile, bis sie merkte, dass die Frage ihr galt. „Ach...“, sagte sie, mehr fiel ihr nicht ein.

„Schon klar“, bemerkte Kevin gleichgültig und schaute vom Geländer hinaus zu den Schornsteinen, die im Havenviertel in den Himmel stachen. Daneben drehten sich träge mehrere Windräder. „Chris, du Mädchen, gib die Tüte weiter.“


Der Kleine reichte ihr den Joint und sie griff zu, ohne sich darüber bewusst zu sein. Ihr Husten dauerte eine halbe Minute; als sie ein zweites und schließlich noch ein drittes Mal an der Tüte zog, dauerte es nicht lange, bis eine angenehme Schwere ihren Körper befiel. Sie hatte letztes Jahr aufgehört. Warum eigentlich? Sie streckte sich, um sich zu entspannen, und es fühlte sich für einen winzigen Moment so an, als würde jemand sie massieren. Ja, warum eigentlich? Sie bemerkte, wie sehr ihr allein der Geruch gefehlt hatte.

„Da sind neue Leute eingezogen“, Opfer deutete auf eine Wohnungstür hinter ihnen. Steffi musste grinsen, aber sie konnte sich in diesem Moment beim besten Willen nicht daran erinnern, wie Kevs Bruder hieß. „Sind irgendwie komisch drauf“, fuhr er fort. „Sagen nichts. Grüßen nicht. Gehen kaum raus. So’n alter Sack und seine Olle. Die Tochter ist aber scharf. Echt.“

„Vergiss es, Chris, dich fickt keine scharfe Tussi“, scherzte Kevin.

Für einen Moment wirkte Chris so, als wollte er auf seinen großen Bruder losgehen. Stattdessen sagte er nur trocken „Wichser“, drehte sich abrupt um und ging.

„Hey“, rief Kevin ihm nach, „wo soll’s denn hingehen.“

„Ich will wissen, wie sie heißt.“

Kevin lachte. „Mein kleiner Bruder ist verliebt, ist das nicht süß?“

Auch Steffi musste grinsen, und das Zeug in ihrem Körper ließ sie auch nicht mehr damit aufhören. Als Chris sich entschlossenen Schrittes der Wohnung näherte, auf die er eben gezeigt hatte, und sich zum Klingelschild beugte, war Steffi dabei, sich Krämpfe aus dem Gesicht zu massieren, konnte das Grinsen aber noch immer nicht lassen.

„Scheiße. Sie haben das Schild noch nicht ausgetauscht“, rief Chris, und genau in diesem Moment wurde vor ihm die Tür aufgerissen und ein stämmiger Mann mit krausen und angegrauten Haaren fixierte ihn mit boshaftem Blick. Chris sprang einen Schritt nach hinten und wäre dabei beinahe über seine eigene Füße gestolpert.

„Was machst du hier?“ knurrte der Mann ihn an.

Chris hob die Hände. „Hey, keine Panik! Ich wollte nur schauen, wie Sie heißen.“

„Und was für’n Scheißdreck interessiert es dich, wie ich heiße?“

Chris’ Gesicht lief rot an, er starrte auf den Boden und stammelte leise vor sich hin.

„Er ist scharf auf deine Tochter!“ bemerkte Kevin fröhlich. „Er meint, sie hätte einen geilen Arsch.“

Plötzlich zauberte der Mann eine metallene Baseballkeule in seine Hand. Sie musste neben der Tür gestanden haben. Seine Miene verzerrte sich fast ohne Übergang zu einer wütenden, dunkelroten Fratze.
Noch bevor der Mann die Keule angehoben bekam, war Chris ins Treppenhaus verschwunden und Kevin lief ihm johlend und kreischend hinterher. Der Mann machte Anstallten, sie zu verfolgen, aber sein massiger Körper ließ sich offensichtlich nicht schnell genug bewegen, also blieb er nach wenigen Schritten stehen.
Genau vor Steffi.

Sie grinste ihn an. Sie wollte es nicht. Es schien sich in ihr Gesicht gefressen zu haben. Nicht dass es ihr was ausmachte. Dieser Typ beeindruckte sie nicht im Geringsten. Er war nichts. Das Pflaster da unten war alles. Und überhaupt, was sollte er schon tun?

„Verschwinde!“ brüllte er sie an und deute mit der Keule zum Eingang des Treppenhauses.

„Ich will noch etwas die Aussicht genießen“, sagte sie. Die Krämpfe in ihrem Gesicht hatten zwar nachgelassen, doch das Sprechen blieb anstrengend, zumal ihre Zunge langsam taub wurde. Sie war mit den Gedanken schon auf dem Pflaster, sollte sie sich von dem da verscheuchen lassen?

„Verschwinde auf der Stelle, du Fotze!“ Er schrie dieses Mal so laut, dass sie zusammenzuckte.

Sie grinste weiter. Aber sie war wütend. Stinkwütend. Niemand hatte es bisher gewagt, sie so zu nennen. Nicht mal die schandmäuligen Kids aus dem Erdgeschoss. Und sogar dieser Hurensohn damals hatte es nicht gewagt.

Eine Kälte breitete sich in ihr aus, wie sie sie nur einmal in ihrem Leben vorher gefühlt hatte. Sie merkte fast körperlich, wie sich in ihrem Kopf die Gedanken einzeln auschalteten. Klick, klick, klick...

„Verpiss dich“, sagte sie gelassen, „Bevor hier etwas passiert.“ Ihre Mundwinkel pressten sich erbarmungslos in ihre Wangen. Zusammen mit ihrem eisigen Blick stellte ihr breites Lächeln etwas dar, was ihr Gegenüber offenbar noch nie erlebt hatte. Seine weit aufgerissenen Augen zogen sich zu misstrauischen Schlitzen zusammen und die Stirn legte sich in Falten.

„Willst du mich verarschen, oder was?“ fragte er sie bedrohlich leise.

Sie sagte nichts und starrte ihn ohne das kleinste Blinzeln direkt in die Augen.

„Wills du auf die Fresse, oder was?“ Er reckte das Kinn hervor.

Klick...

„Denkst du, nur weil du’n Mädchen bist, kannst du hier alles machen, oder was?“

Sie hörte ihn fast gar nicht mehr.

„Du gehörst doch durchgefickt, du kleine Hure!“

Klick...

Als ein vielleicht vierzehnjähriges blondes Mädchen den Kopf aus der noch immer offenen Wohnungstür schob, wanderte Steffis Blick in ihre Richtung und wurde etwas sanfter. „Wie heißt denn du, Kleine?“ fragte Steffi in einem Ton, den die meisten Menschen anschlagen, wenn sie Säuglingen Worte wie Gutschigutschigu sagen.

„Papa?“ sagte das Mädchen ängstlich.

„Lass meine Tochter in Ruhe, du Schlampe! Bist du’n Psycho, oder was?“ Er drückte Steffi den Griff des Baseballschlägers in die Schulter und schubste sie so einige Schritte zurück.

Klick...

Sie hielt sich mit beiden Händen an der Keule an ihrer Schulter fest, um dem Mann mit ausgestrecktem Bein ihren Turnschuh in den Unterleib zu rammen.

Klick...

Mit dem selben Fuß trat sie nach seiner Schläfe, als er sich kniend und atemlos zwischen die Beine griff.

Klick...

Sie spuckte ihm ins Gesicht.

Klick...

Noch immer grinsend versuchte sie, das weinende Mädchen mit tröstlichen Worten zu beruhigen.

Klick...

Er trat ihr in den Rücken.

Klick...

Er holte mit der Baseballkeule aus.

„Klick“, macht es, als das Licht in ihrem Zimmer eingeschaltet wird. Sie bekommt die Augen nicht auf, es ist
zu grell. Mindestens zwei Menschen kommen hinein.

„Armes Ding“, flüstert eine Frau mit gequälter Stimme. „Ihre Eltern waren vorhin hier. Haben mir erzählt, was ihr passiert ist.“

„Na ja“, sagt ein Mann ungerührt, „ist doch offensichtlich.“

„Nein, ich meine vorher. Jemand hat sie vor drei Monaten vergewaltigt. Und als wäre das nicht genug, passiert ihr jetzt auch noch das.“

„Scheiße“, sagt der Mann.

„Ja“, sagt die Frau. „Sie bekommt ein Zimmer in der HNO im siebten Stock. Wegen der Nase. Der Rest ist nicht so schlimm.“

Ein breites Grinsen zieht sich über Steffis Gesicht. Siebter Stock?, denkt sie. Schön hoch.

Klick.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.07.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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