Ali Yüce

Wahnwitz: Scheißtrip

„Die Welt geht unter“, rief sie mit schmerzhaft geweiteten Augen und zappelte mit den Armen.

Steffi beugte sich in dem schwarz angemalten Strandkorb über sie. „Muna, geht’s dir nicht gut?“ Sie brüllte ihr ins Ohr, um gegen die laute Musik anzukommen. Why can't we not be sober, dröhnte es aus den Lautsprechern, I just want to start this over. Blitzlichtgewitter.

„Die Welt geht unter!“

„Was?“ Steffi glaubte, sich verhört zu haben.

„Das Zeug ist der Hammer! Was war da drin?“ fragte Muna.

„Nur Gras. Was ist denn los?“

„Die haben dich verarscht, Steffi. Wenn das Gras ist, dann...“ Muna wollte noch mehr sagen, aber ihre Zunge schien, in der Mundhöhle unkontrolliert hin und her zu rollen.

„Los, wir gehen.“

„Nnnnnn. Allsch. Cool. Alles cool. Ich will tanzen! Lass uns tanzen!“ Ihre Augen starrten Steffi leer an, die unbeeindruck Muna an den Armen aus dem Strandkorb hievte.

„Ja, komm. Wir tanzen.“

„Cool. Warum ziehen wir uns an?“

„Wir tanzen draußen.“

„Cool. Warum?“

Die Nacht hatte erst begonnen und die Große Freiheit bot kaum Platz zum Stehen. Die grellen Lichter stachen Muna in die Augen und je mehr sie versuchte, sie offen zu halten, desto schwerer wurden ihre Lider. Vor Anstrengung liefen ihr Tränen über die Wangen. Schließlich ließ sie sich von Steffi führen. Kalter Schweiß ließ sie frösteln.

„Muna?“ fragte Steffi. Ihre Stimme klang besorgt.

„Nein, ich weine nicht. Meine Augen tun nur weh“, schniefte Muna. „Das ist echt scheiße. Ist mir noch nie passiert. Und das von zwei Zügen. Du hast viel mehr geraucht als ich, fühlst nichts?“

„Muss ich dir einen schlechten Trip erklären?“

„Mir ging’s doch gut“, protestierte Muna kleinlaut. „Wollte doch nur tanzen.“

„Ist gut, Schatz. Wir kommen nächste Woche wieder.“

Muna ließ sich von Steffi aus der Freiheit ziehen und behutsam nahmen sie Stufe für Stufe die Treppe hinunter zur S-Bahn.

„Ey, guck mal die an!“ grölte jemand. „Die ist echt breit.“

„Deine Mutter ist breit“, sagte Muna, ohne sich nach dem Deppen umzugucken. Noch zwölf Minuten auf die S3 warten, sie stöhnte. „Steffi, da, zur Säule, muss mich anlehnen.“

„Muna, das ist ein Mülleimer.“

„Ist gut.“ Muna hockte sich davor und lehnte ihren Rücken gegen schmutziges Blech.

„Musst du kotzen?“ fragte Steffi.

...

„Was? Nein, ich bin nur Müde. Wann sind wir in die Bahn eingestiegen?“

„Ist gut, Muna. Sind schon am Hauptbahnhof. Entspann dich, ich passe auf dich auf.“

„Habe ich geschlafen? Ich kriege die Augen nicht auf.“

Irgendwo lachten Frauen.

„Alles gut, Muna. Lass’ sie zu.“

Munas Gesicht lehnte an der kühlen S-Bahntür. Steffi stützte sie. Es war ein Wunder, dass Muna nicht einfach umfiel, so schwach, wie sie sich fühlte. Stimmen von Leuten wurden laut, aber sie konnte wenig heraushören, sie klangen fast wie ein gemütlicher Schwarm Wespen. Was sie hörte, verstand sie nicht, trotzdem gefiel es ihr nicht.

„Lasst sie doch in Ruhe“, rief Steffi. „Wie dumm seid ihr eigentlich?“

„Wer?“ murmelte Muna. „Was haben sie gesagt?“

„Ich hab’ den ganzen Tag gearbeitet“, hörte sie eine Frauenstimme, „ich bleibe hier sitzen. Soll sie sich auf den Boden pflanzen.“

„Gute Idee“, sagte Muna. „Lass mich sitzen.“

Steffi umklammerte ihre Arme. „Hör nicht auf die.“

„Ich habe Angst, Steffi. Ich fühle mich wie ein Baby.“ Die Angst war es, die sie weckte. Steffis Gesicht sah nicht annährend so etspannt aus, wie ihre Stimme es Muna glauben lassen wollte. Brocken gemurmelter Sätze fielen ihr aus dem ganzen Abteil zusammenhangslos ins Ohr. Muna begann, in Steffis Griff zu zittern, das Frösteln schüttelte sie durch, bis Steffi sie noch härter anpackte und ihr in die Augen starrte. Muna sah sie an. Ohne zu blinzeln. Ohne zu atmen. Steffi sagte nichts, verzog keine Miene. Die Wespen verstummten nach und nach, einige wenige schienen noch, um sie herum zu kreisen, ihr böse Flüche zuzuflüstern. Sie hörte genau zu. Und plötzlich erkannte Muna, dass sie in Schwierigkeiten steckten. Das Zittern hörte auf.

Sie straffte sich. Versuchte es. Dachte nach. Schaute sich um und erkannte sogar einige Leute aus ihrem Viertel. Und alle starrten sie an. Alle, als würden sie darauf warten, dass sie endlich mit der Show begann. Es ekelte sie an. „Was wollen die, Steffi? Warum gucken sie so?“

„Lass sie gucken."

„Wie Aliens. Nee. Roboter.“ Muna imitierte mit wenig Erfolg eine Roboterstimme: „Habe den ganzen Tag funktioniert, kann nicht aufstehen, muss Batterien aufladen.“

Steffi lächelte. Einige Gaffer lachten. Aber Muna konnte die boshaften Blicke spüren, noch bevor sie sie sah. Sie kamen aus den Gesichtern von Frauen, die zusammen vier Sitzbänke teilten. „Fresse halten“, sagte eine von ihnen. Muna formte im gespielten Erstaunen ein O mit den Lippen.

Steffi musste lachen. „Du bist wieder da“, stellte sie leise fest. Muna nickte. Steffis Lachen zerfiel ihr plötzlich im Mund. Und da erkannte sie, dass sie in Schwierigkeiten steckten. Sie schüttelte warnend den Kopf. Aber Muna nickte wieder. Steffis Griff wurde eisern. „Komm schon. Wir sind fast da. Zwei Minuten, verdammt.“ Muna ignorierte sie.


„Ich hatte einen schlechten Trip“, rief sie über Steffis Schulter den Frauen zu. „Eigentlich wollte ich etwas tanzen, einen Kerl aufreißen, die Nacht durchficken, mir ein Frühstück servieren lassen und danach nochmal Ficken. Aber ich hatte einen schlechten Trip.“ Sie klang heiter.

Die Frauen, alle unterschiedlichen Alters und außer giftigen Mienen zu keiner Gemeinsamkeit fähig, starrten sie angeekelt an. Es lachte wieder jemand, aber so, als hätte er den Witz nicht ganz verstanden.

Muna erschlaffte in Steffis Armen. Den Trick hatte sie im Jugendknast von so einer Öko-Tante gelernt. Steffie zog an ihr, verlor das Gleichgewicht; es brauchte nur einen kleinen Schubser und sie fiel auf den Hintern. „Und der Tag ist noch nicht vorbei“, rief Muna, wühlte sich durch die Menge und schlug mit der Faust einer der Arbeiterinnen zwischen die Brillengläser. Wo sie außerdem noch hinschlug, konnte sie ab diesem Moment nicht sagen. Wovon und von wem sie getroffen wurde, wusste sie ebenso wenig. Zuletzt glaubte sie, dass jemand sie würgte, doch als sie plötzlich auf dem Bahnsteig stand, begriff sie, dass Steffi sie am Kragen aus dem Zug gezerrt hatte.

„Lauf“, rief Steffi und sprintete los, Muna torkelte hinterher. Keine der Frauen verfolgte sie. Weit hinter ihnen wurden Geräusche von schnellen Schritten laut. Muna drehte den Kopf und sah Wachmänner. Alles gut, dachte sie. Harmlos. Die laufen nie weiter als bis zum Ausgang.

Auf dem sandlosen Spielplatz zwischen hohen Häuserwänden teilten sie sich auf der Korbschaukel eine Zigarette.

„Du Psycho“, sagte Steffi. „Kannst nächste Woche alleine tanzen gehen.“

„Ohne dich gehe ich nicht“, sagte Muna. „Wer soll denn auf mich aufpassen?“

„Ach ja? Und wer passt auf mich auf?“

Männer lachten irgendwo und die Mädchen wurden still. Das Gelächter wurde lauter und drei Affen in Lederjacken und mit Gelfrisur tauchten im Laternenschein auf. „Da sind sie ja“, bemerkte einer. „Habt ihr die Faust gesehen? Ich habe voll gehört, wie die Nase geknackt hat!“. Sie gaben ein Kojotenheulen von sich. „Du bist voll die Psycho!“ Er zeigte mit der Nasenspitze auf Muna. „Krasse Faust, Mann!“ Sie blieben nicht stehen und gaben noch aus der Ferne Gejohle von sich. Das war gut. Sonst hätten sie Muna zittern sehen.

Steffi begann auch zu lachen, „krasse Faust, Mann!“ ahmte sie den Affen mit ihrer tiefsten Stimme nach. Als Muna nicht in ihr Lachen einfiel verstummte sie wieder.

„Ich habe sie in der Bahn gehört“, sagte Muna fast stotternd, während sie den drei dunklen Schemen hinterhersah.

„Diese Honks da? Was haben sie gesagt?“

„Einer hat gesagt: Die da, die kann sich sowieso nicht wehren.“

„Hah! Die wussten ja nicht, was für ein Psycho du bist!“

„Ja. Und sein Kumpel hat gesagt: Mit der anderen werden wir schon fertig.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.07.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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