Ali Yüce

Selim im Beton: Teil 2

Selim hatte schlechte Träume. Nicht so schlecht, dass er sie Alpträume genannt hätte, sie waren mehr nervig als furchteinflößend. Ein Hin und Her zwischen dämonischem Aberwitz und hitzigen Streitereien mit seiner Mutter. Schlecht war, dass er genau wusste, dass er träumte, und dass er nicht einmal im Traum daran dachte, sich ganz auf diesen Blödsinn einzulassen. Deswegen langweilte er sich. Hin und wieder murmelte er: „Mama, kannst du nicht wenigstens einen Bogen um meine Träume machen? Ist ja schon irgendwie privates Gebiet, nicht?“ – „Aaaah aaaah, bu günleri de mi görecektim? Ich bin doch deine Mutter! Weißt du nicht mehr, als...“ Und alles begann von vorne. Aus Langeweile malte Selim die Szene etwas aus, verpasste ihr hier und da kleine Hörner, drei Reihen Giftzähne in Ober- und Unterkiefer, etwas mehr faltige Haut und einen Krückstock, um sie zu ärgern und...

Irgendwann, als er fast soweit war, sich aus Frust auch noch im Traum zum Schlafen hinzulegen, löste sich alles in blaues Licht und hohe Fanfarenklänge auf. Nach einer Weile manifestierte sich einige Meter vor Selim ein Mann mit seltsamer Kleidung, einer roten Kappe und entschlossenem Gesichtsausdruck. Er
wirkte so andächtig und irgendwie... gütig, dass Selim meinte, einem heiligen Weisen begegnet sein zu müssen. Und dieser fing auch noch an zu schweben. Millimeter für Millimeter flog er hoch. Ja, klar. Natürlich war es ein Traum, da ist Schweben nun wirklich keine große Kunst, oder? War es eben doch! Selim hatte es nie geschafft, in einem Traum zu schweben, nicht einmal in einem fremden. Manchmal, wenn er Mama besuchte, schniefte sie ganz aufgelöst: „Ach, Selim. Ich habe letzte Nacht so schrecklich geträumt, du wärst vom Baum gefallen und hättest dir die Rippen gebrochen, und deine Augäpfel baumelten aus dem Schädel, und...“ Und dann tat sie noch so, als müsste Selim Mitleid mit ihr haben. Verrückte Gans. Aber dieser Mann hier... Er schwebte. Und Selim konnte nicht anders, als ihn zu bewundern.

„Oh, Weiser“, rief er, „was tust du hier? Bist du gekommen, um meine Mutter, die alte Hexe, aus meinem Kopf zu vertreiben?“

Aber der Weise antwortete nicht. Er schaute Selim nicht mal an! Sein Blick war nach oben gerichtet, und er stieg langsam weiter hinauf. Ganz schön hochnäsig, dachte Selim. Aber da! Er hörte eine Stimme, obwohl der Weise nicht die Lippen bewegte: „Ich springe!“ Selim fand, dass die Stimme irgendwie nicht zu dem Mann passte. So schrill. Außerdem, was sollte es heißen, ich springe? „Oh, Weiser, du hättest dir ruhig einen anderen Traum dafür aussuchen können. Und da fällt mir noch was ein! Ich finde es nicht so prickelnd, dass du einfach so an meinem Fenster vorbeischwebst. Hättest mich beim Wichsen erwischen können, und das wäre für uns beide etwas peinlich gewesen, nicht?“

Was für ein Fenster? Tatsächlich, da war ein Fenster! Und der Weise hielt verkrampft eine Leiter in der Hand! Nein, er hielt sich an der Leiter fest! So ein Schwindler!

Selim hüpfte aus dem Bett, um nachzusehen, was da passierte, und dann hüpfte er wieder zurück, weil es ihn fast innerlich schmerzte, als die Bettwärme seiner Haut verflog. Also wickelte er sich in die Decke und watschelte zum Fenster. „Hey!“ rief er hinaus und der Feuerwehrmann rutschte beinahe von den Sprossen. Der Feuerwehrmann kreischte, und außer ihm taten es irgendwo noch fünf sechs andere Leute, die ihm
zusahen. Und dann atmeten alle laut auf. „Sind Sie wahnsinnig, mich so zu erschrecken?“ fuhr er Selim an. Bevor Selim antworten konnte, schrie der Bengel aus dem Fünften: „Ich springe!“ Er balancierte dabei auf dem Geländer des Balkons. Selim seufzte. Jetzt ergab alles einen Sinn. Sinn? Selim wunderte sich nicht zum ersten Mal darüber, wie wenig Sinn bedeuten konnte.

„Ahmet!“ rief er dem Balg zu. „Erkeksen atla lan! Göster kendini!“

„Bok ye!“ kreischte es zurück.

„Was haben Sie ihm gesagt?“ fragte der Feuerwehrmann Selim.

„Dass er endlich springen soll.“

„Sind Sie wahnsinnig?“

„Sindsiewahnsinnigsindsiewahnsinnig“, äffte Selim ihn nach, „wenn ich ja sage, hören Sie dann endlich auf, sich zu wiederholen?“

Der Feuerwehrmann stieg einen Meter hinab, damit sie beide auf einer Höhe standen. „Sie könnten dafür ins Gefängnis kommen“, sagte er in einem nicht besonders leisen Flüsterton, „wegen Beihilfe oder Anstiftung, oder wie das heißt.“

„DA KANN MAN WENIGSTENS IN RUHE SCHLAFEN!“ Noch eine Silbe mehr, und der Feuerwehrmann wäre wirklich von der Leiter gefallen. „Mustafaaa!“ brüllte Selim.

„Hier“, sagte Mustafa gelangweilt aus dem Fenster direkt über Selim.

„Willst du nicht endlich was tun?“

Mustasfa zuckte mit den Schultern. „Was denn? Ich sag' ihm, er darf tun, was er will, solange er keine Scheiße baut, und was macht er? Schmeißt Einkaufswagen runter. Ich sag' ihm, wenn er das noch einmal macht, breche ich ihm die Arme, was macht er? Schmeißt mit Wasserbomben. Ich versohle ihm den Arsch, damit er mit dem Scheiß aufhört, was macht er? Ruft die Bullen und will vom Balkon springen.“

„Ich habe nicht die Bullen gerufen!“ kreischte Mustafas Sohn so schrill, dass Selim ihn kaum verstehen konnte.

„Siehst du“, fuhr Mustafa fort, als wäre nichts gewesen, „irgendwie mache ich alles falsch. Ich mache nix mehr, das kannst du mir glauben, Selim. Nachher fällt er auf jemanden rauf und morgen steht in der Bild: Dreizehnjähriger beging Selbstmordattentat auf alte Oma, und ich werde dafür angeschissen. Soll er doch springen, aber ich will damit nichts zu tun haben; brauche auch mal ein wenig Ruhe, vallaha.“

„Ich springe!“

Mustafa machte eine einladende Geste nach unten und zündete sich eine Zigarette an.

„Ist ordentlich was los, hä?“ hustete Gerd rechts neben Selim.

„Kann man wohl sagen“, rief Schorsch weiter oben aus dem Fenster.

„Pass bitte auf, wohin du aschst“, sagte Selim.

„Entschuldige“, sagte Mustafa.

„Und alles wegen diesem verrückten Kanaken“, rief Schorsch.

„Du hast doch die Bullen gerufen“, rief Selim zurück.

„Stimmt“, sagte Gerd.

„Schorsch hat auch die Bullen gerufen?“ hakte Mustafa nach.

„Er hat sie zu mir gerufen, die wollten dann aber doch lieber zu dir“, antwortete Selim.

„Was? Ahmet war das gar nicht?“

„Nein. Schon verrückt irgendwie, nicht? Wo sind die Bullen eigentlich hin?“

„Haben so 'ne Tussi und zwei Idioten weggebracht. Kommen bestimmt gleich wieder wegen dem da.“ Mustafa zeigte beiläufig auf seinen Sohn.

„Ich springe!“

„Was sollen wir denn jetzt machen?“ fragte der Feuerwehrmann.

„Keine Ahnung“, sagte Mustafa. „Ahmet, mein Bastard, was würdest du denn gerne machen?“

„Ich... weiß nicht?“

„Also nicht unbedingt springen“, bemerkte Selim.

Es fing an zu regnen und Ahmet hüpfte vom Geländer. Auf den Balkon.

Der ratlose Blick des Feuerwehrmanns erinnerte Selim überhaupt nicht mehr an den Weisen, den er im Traum gesehen zu haben glaubte. „Ist es jetzt vorbei?“ fragte der Feuerwehrmann vorsichtig.

„Scheint so“, sagte Selim

„Einfach so?“

„Ja.“

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.07.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Es wurde sehr viel geschrieben über jene Jahre der unseligen Diktatur eines wahnwitzigen Politikers, der glaubte, den Menschen das Heil zu bringen. Das meiste davon beschreibt diese Zeit aus zweiter Hand! Ich war dabei, ungeschminkt und nicht vorher »gecasted«. Es ist ein Lebensabschnitt eines grünen Jahzehnts aus zeitlicher Entfernung gesehen, ein kritischer Rückblick, naturgemäß nicht immer objektiv. Dabei gab es Begegnungen mit Menschen, die mein Leben beeinflussten, positiv wie auch negativ. All das zusammen ist ein Konglomerat von Gefühlen, die mein frühes Jugendleben ausmachten. Ich will versuchen, diese Erlebnisse in verschiedenen Episoden wiederzugeben.

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