Ingo R. Hesse

Linus und Malvine

In einem Forum für Unterhundertjährige hatten sie sich kennen gelernt. Wobei das sicher bis zu diesem Moment, in dem Linus zögerlich die Klingel am Hauseingang anstarrte, ein wenig übertrieben war.

 

Sich näher gekommen, traf es wohl eher. Und das auch nur im Chat und per Telefon. Die dralle 64jährige Malvine, der man auf ihren Fotos durchaus die Mittfünfzigerin abgenommen hätte, hatte Linus vor zwei Wochen angeschrieben, nachdem er ein Gedicht über Sehnsucht und Treue veröffentlicht hatte.

 

So war eins zum anderen gekommen. Unterhaltungen über Familie, Vergangenheit, Kunst, Kultur und Sonstiges. Deutliches Lob für sein Gedicht. Vorsichtige Komplimente für ihre Intelligenz. Noch vorsichtigere für das Dekolletée, das sie ihm mit dem letzten Foto gegönnt hatte.

 

Und nun stand der schlaksige, kahlköpfige 71jährige, von Selbstzweifeln und hormonellen Wallungen geschüttelte Linus, in seinem besten hellgrauen Anzug vor diesem Hauseingang und hielt seinen leicht zitternden, rechten Zeigefinger kurz vor den Knopf der obersten Klingel. Und in der linken Hand hielt er die Blumen.

 

Es gab jetzt zwei Möglichkeiten. Entweder ganz schnell hinein und eine möglichst unauffällige Haltung einnehmen. Oder sofort weg.

 

Er klingelte.

 

Schon als sie ihm die Etagentür öffnete, wurde ihm klar, dass schnell weg wohl die bessere Entscheidung gewesen wäre. Und ihr heute noch tieferes Dekolletée und dieses luftige, dunkelblaue Wickelkleid, das so gut zu ihren pechschwarz gefärbten, mittellangen Haaren passte, ..und so einen deutlichen Kontrast zu ihrer hellen Haut bildete, ließ in ihm die Erkenntnis wachsen, dass gleich zwei dieser kleinen blauen Pillen, eine leichte Überdosierung darstellten.

 

Aber, man wusste ja nie. So einige Hinweise hatte sie ihm gegeben. Und gefragt hatte er sie nicht. Ganz Kavalier war er an diesem Abend, mit den besten aller Gedanken und nun mit einer leicht stärker werdenden Erektion bei ihr aufgeschlagen.

 

Prima! Ein Esstisch. Dekoriert. Kerzen. Ein Sektkühler. Zwei Gläser. Aber vor allem, eine recht gnädige Tischdecke! Man kann ja nicht nur Pech haben.

 

Sonst nicht seine Art, riss Linus das Gespräch an sich. Themen, die ihn von dem ablenken sollten, für das er eigentlich hierher gekommen war. Aber schon nach ein paar Versuchen, stellte sich heraus, dass Malvine kein großes Interesse für metrische Gewinde oder Entwurmungs-Methoden bei Jagdhunden zeigte. „Hast Du eigentlich im Forum die Diskussion über One-Night-Stands im Alter mitbekommen?“ fragte sie süß lächelnd.

 

Linus war zwar ein wenig aus der Übung im Umgang mit Frauen. Aber dass das hier ein sehr gefährlicher Moment werden könnte, war ihm durchaus bewusst. Und so rang er sich nur ein beiläufiges „ Ach ja, ..am Rande!“ ab.

 

Glück gehabt ! Beziehungsweise gut gemacht!

 

Denn sie legte nach. „Ist es nicht furchtbar, dass Menschen in unserem Alter noch immer zuerst an Sex denken, wenn sie auf das andere Geschlecht treffen?“ Dabei beugte sie sich über den Tisch, und schenkte ihm nach. So dass ihr Ausschnitt sich ein wenig öffnete. Linus fand das zwar gar nicht. Und im Normalfall hätte ihn jetzt dieser bemerkenswerte Busen aus der Ruhe gebracht. Aber die Ansage war stärker. Deshalb spürte er in dieser Sekunde seine Not schwinden und stimmte zu „Ja das finde ich auch. Sie sollten doch, wenn sie mal über 60 sind, wissen worauf es in einer Beziehung wirklich ankommt!“

 

Eigentlich wollte er noch etwas von Vertrauen und Zugehörigkeit hinzufügen. Um sicher zu gehen. Aber er nutzte die günstige Disposition und erkundigte sich, wo sich denn das Bad befände.

 

Etwa eine Stunde später saßen die beiden locker in der Ecke ihrer wuchtigen Wohnlandschaft. Ihr Kleid hatte das, über das andere geschlagene Bein bis übers Knie freigegeben. Und die Chemikalien in seinem Körper waren noch nicht völlig ausgeschieden. Malvine schaute ihm tief in die Augen. „Ich denke, erst wenn man sich ein paar Monate lang kennt, wenn man eine Aussicht darauf hat, dass man auch zusammen bleibt, …!“

 

Linus unterbrach sie. „Sei mir nicht böse! Es ist wunderschön hier bei Dir und ich lade Dich gerne zu mir ein. Aber im Moment macht mir mein Kreislauf ein paar Probleme. Ich möchte mich gerne jetzt verabschieden.“

 

Ein Moment, in dem ihm die äußerst gute Durchblutung, die jetzt sein Gesicht erreicht hatte, zugute kam.

 

Malvine zeigte sich als verständnisvolle und unkomplizierte Gastgeberin und Verabschiederin. Etwa drei Minuten später stand Linus, der es schon um den nächsten Häuserblock geschafft hatte, unter einer Laterne und schnupperte die frische Abendluft. Ein herzhaftes „Uff!“ entfuhr ihm. Dann steuerte er seinen dort geparkten Wagen an.

 

Malvine hatte ihn vom Küchenfenster aus beobachtet, bis er um die Ecke gegangen war. Nun rief sie ihre Freundin Erdmute an. „Hey, ich bins!“ Erdmute war neugierig aber auch erstaunt, dass der Anruf jetzt schon kam. Und Malvine ließ sich nicht lange bitten.

 

Ach was! Kannst Du vergessen! Ich weiß nicht, ob er nicht kann oder nur auf junge Hühner steht. Ich habe alles gegeben. Aber zunächst hat er wie ein Haken am Esstisch gesessen. Und als er mein nacktes Knie sah, hat ihn ein Herzkasper befallen. Er konnte es nicht erwarten hier raus zu kommen. Ich habe es Dir doch gesagt, ..im Internet haben sie alle die große Klappe. Aber wenn es darauf ankommt …!“

 

Es wurde noch ein langes Gespräch. Bis in die Nacht hinein.

 

Und Linus saß mit seinen Gedanken und seiner Rest-Erektion alleine vor dem Fernseher und schaute sich einen Bericht über Einsiedler-Krebse an.

 

Das half ein wenig.

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Ingo R. Hesse).
Der Beitrag wurde von Ingo R. Hesse auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.07.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Ingo R. Hesse als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Schwerenöter - Gereimtes und Ungereimtes von Rainer Tiemann



Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Nach diesem Motto sind viele Gedanken und Erlebnisse im neuen Buch "Schwerenöter" des Leverkusener Autors Rainer Tiemann festgehalten. Gereimt und ungereimt werden Geschehnisse des täglichen Lebens und autobiografische Erlebnisse mal ernst, mal heiter, aber immer menschlich beleuchtet. Sollten die unterschiedlichen Themen des Buches dazu anregen, sich erneut mit Lyrik zu befassen oder über sich und die Beziehungen zum Mitmenschen nachzudenken, wäre ein wichtiger Sinn dieses Buches erfüllt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Wie das Leben so spielt" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Ingo R. Hesse

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Die beste aller Zeiten von Ingo R. Hesse (Gedanken)
Regen in Posen von Rainer Tiemann (Wie das Leben so spielt)
Warum können Männer nicht so sein wie wir? von Eva-Maria Herrmann (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen