Ines Wertenbroch

Tee für zwei

Ich wartete im Eingangsbereich des Cafés, als ich Daniel auf mich zukommen sah. Er lächelte mir zu. Er hatte mich erkannt. Heute trug er einen hellen Mantel und einen blauen Hut, unter dem sein dunkles Haar hervorkam. Er lächelte immer, wenn er mich sah. Doch seltsam, es war, als meinte er nicht mich damit.
Wir betraten das Café durch die hölzerne Drehtür. Im Hintergrund spielte ein französisches Chanson. Wir setzten uns an einem Zweiertisch gegenüber. Gerard, der Kellner, hatte uns schon gesehen und winkte uns zu. Er kannte uns, denn wir waren in den letzten Wochen oft hier gewesen. Er kam zu unserem Tisch und reichte erst mir, dann Daniel seine Hand. Mit seinem französischen Akzent fragte er, wie es uns ginge.
In Anbetracht der letzten Tage hatte diese einfache Frage einen bitteren Beigeschmack, noch mehr jedoch ihre Antwort.
„Gut“, gaben Daniel und ich gleichzeitig zurück. Wir sahen uns an, unschlüssig er und fra-gend ich.
Gerard hatte seine Aufmerksamkeit auf eine hereintretende Frau gerichtet und konnte unsere Antwort nicht gehört haben, jedenfalls schien es so.
Er winkte seiner Kollegin und rief: „Ich komm’ gleich!“ Er nahm unsere Bestellung auf und verschwand hinter seiner Theke.

Daniel schaute sich die Gäste des Cafés aufmerksam an, und ich ihn. Ich beobachtete seine Augen, die umherschweiften und mich bewusst nicht trafen. Ich wartete.
Gerard kam mit zwei Gläsern Tee: „Schwarzer Tee für die schöne Frau und Kamillentee für den Herrn.“ Er zwinkerte mir zu. Ich konnte ein Lächeln nicht verbergen. Daniel hatte Gerard kaum zur Kenntnis genommen und starrte auf den Eingang, der unbeweglich blieb. Als warte-te er auf jemanden. Ich wusste bei ihm nie, mit wem er sich traf, wenn wir uns nicht sahen. Er sprach nicht davon.
Mit voller Konzentration schwenkte er seinen Teebeutel im Glas, nach oben und nach unten, bis sich das heiße Wasser leuchtend gelb färbte. Er nahm den Beutel nicht heraus. Das tat er nie.
Ich ließ zwei Zuckerstücke in mein Glas fallen. Kamillenduft zog zu mir herüber. Was er wohl dachte? Früher hätte ich ihn danach gefragt.
Ich nahm den Löffel und verrührte den Zucker. Er zog an dem Faden seines Teebeutels, als wollte er sich daran festhalten.
Ich rührte weiter, obwohl sich der Zucker längst aufgelöst hatte. Im Hintergrund spielte ein Chanson mit sanften Gitarrenschlägen fließend vor sich hin.
„Das ist ein schönes Lied“, unterbrach ich das Schweigen. Er nahm einen Schluck Kamillen-tee. Ich glaubte, ein Lächeln zu sehen. Er lehnte sich zurück. Ich blieb in vorgebeugter Hal-tung. Vielleicht war es doch kein Lächeln gewesen.
Ich nahm das eingepackte Plätzchen, das neben meinem Glas gelegen hatte, und versuchte die Folie aufzureißen. Sie knisterte, als ich sie von dem Keks abzog. Ich brach ein Stück des Ge-bäcks ab und nahm es in den Mund. Ich kaute langsam und so leise wie möglich. Ich wollte Daniel noch verstehen können, falls er etwas sagen würde. Das Plätzchen blieb lange in mei-nem Mund, bis ich es endlich herunterschluckte. Ich trank von meinem Tee. Fast zeitgleich nahm auch Daniel seinen Tee hoch.
Als er sein Glas wieder abgestellt hatte, sagte ich, dass ich zur Toilette müsste. Ich stand auf. Auf dem Weg zur Toilette stellte ich mir vor, dass er mir nachgesehen haben könnte, als ich ihm den Rücken zugewandt hatte.
Im Vorraum hing über den beiden Waschbecken ein großer Spiegel. Ich schaute hinein. So sah ich also aus, wenn ich ihm gegenüber saß. Ob er mich so sah, wie ich mich jetzt sah?
Eine der Verriegelungen der Toilettentüren löste sich. Ich hatte nicht gemerkt, dass ich nicht allein war. Pflichtbewusst wusch ich mir die Hände und trocknete sie schnell ab, um gehen zu können.
Als ich aus der Tür kam, sah ich Daniel entgegenkommen. Er deutete mit seinem Kopf auf die Männertoiletten. Im ersten Moment durchfuhr mich der Gedanke, er wollte nachsehen, ob ich wirklich zur Toilette gegangen war. Er hätte immerhin warten können, um unsere Sachen beim Tisch im Auge zu behalten.

Ich setzte mich auf meinen Platz. Neben dem Teeglas lag noch das angefangene Plätzchen. Ich aß es auf. Diesmal erst bemerkte ich den leichten Karamellgeschmack, obwohl ich mir weniger Zeit genommen hatte, es herunterzuschlucken.
Gerard lächelte mir zu, als er mit einem Tablett zu einem der besetzen Tische ging. Vorhin hatte ich den Mann und die Frau an diesem Tisch noch nicht wahrgenommen. Sie schienen beide ungefähr dreißig zu sein, oder doch etwas älter. Sie waren in ein Gespräch vertieft. Er hatte ihre Hand genommen.

Ich sah Daniel auf unseren Platz zukommen. Er schaute sich während des Gehens im Café um. Wieder, als suche er jemanden. Wieder sah er mich nicht an, als er sich setzte. Er nahm einen Schluck von dem Kamillentee, hielt einen Moment inne und trank den Rest in einem Zug aus. Jetzt hing nur noch der Beutel in dem Glas.
Ich rührte meinem Tee noch einmal um und legte den Löffel auf die Untertasse. Währenddes-sen schaute ich zu dem Pärchen hinüber. Die beiden hatten sich zueinander hingebeugt, als wollten sie sich gleich küssen. Ihre Finger waren ineinander verschlungen.

Ich wand meinen Blick ab und schaute in die Kerze auf unserem Tisch.
„Können wir gleich gehen?“ fragte mich Daniel unvermittelt. Er blickte nicht auf.
„Warte noch einem Moment, ich habe noch Tee“, gab ich zurück.
Ich trank zügig von dem lauwarmen Getränk. Noch bevor ich fertig war, stand Daniel von seinem Stuhl auf. Langsam zog ich meine Jacke über. Daniel war schon zur Theke vorgegan-gen, um zu bezahlen.
Gerard war gerade dabei, die beiden Tees zusammenzurechnen, als ich ihn noch rechtzeitig daran hindern konnte: „Wir bezahlen getrennt. Heute sind wir beide allein hier gewesen.“


(Ines Wertenbroch, 1. Januar 2003)

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