Monika Litschko

Ein langer Abschied

1959 verstarb mein Großvater durch einen Sturz aus dem Kirschbaum. Zu dieser Zeit war ich gerade zwei Jahre alt und habe von dem Geschehen nichts mitbekommen. Obwohl jeder meinte, dass ich mich gar nicht an ihn erinnern kann, da ich noch zu klein war, konnte ich das sehr wohl. Meine Mutter erzählte mir später, dass er mit einer abgöttischen Liebe an mir gehangen hatte. Mit zwölf Jahren fingen diese Träume an, die ich in unregelmäßigen Abständen träumte. Aber ab meinem dreißigsten Lebensjahr, fast drei Mal im Monat und das machte mir Angst.Ich träumte immer den gleichen Traum. Was ich jetzt erzähle, ist wirklich so passiert.

 

Der Traum


Ich komme von der Schule nach Hause, öffne die Wohnungstür und finde nur meine Großmutter vor, die Schwarz trägt. Sie sagt, dass ich mit ihr gehen muss. Also folge ich ihr über den langen dunklen Flur, der zu unserer Wohnung führt. Wir gehen zur Kellertür, die sie weinend öffnet. Auf der Treppe, die nach unten führt, stehen Menschen, die mich traurig anschauen, aber nichts sagen. Manche kenne ich, viele nicht. Langsam schiebt sich die Menge nach unten und bewegt sich in Richtung Waschküche. Nacheinander gehen sie hinein, kommen aber nicht wieder heraus. Schon aus der Ferne sehe ich, dass eine kleine Holzhütte dort steht. Einzeln treten sie vor das Häuschen, verbeugen sich leicht, gehen weiter und verschwinden in der Wand. Eigentlich ist da plötzlich ein riesiges Loch in der Wand und ich sehe eine Stadt.

Dann bin ich an der Reihe. Ich trete vor das Holzhäuschen, es hat rechts eine Scheibe und ich sehe einen Sarg, in dem ein Mann liegt. Es ist mein Großvater. Schon im Traum schlägt mein Herz und ich rufe nach Hilfe, aber es ist niemand mehr da. Auch das Loch in der Wand ist verschwunden. Ganz alleine stehe ich vor dem Häuschen, in dem mein toter Großvater aufgebahrt liegt. Plötzlich richtet er sich auf und streckt die Arme nach mir aus. Panik macht sich in mir breit und ich renne zurück zur Kellertreppe, aber meine Beine sind wie aus Blei und ich komme kaum vorwärts. Ich schaue mich immer wieder um, sehe, wie er mir folgt. Er trägt ein weißes Totenhemd und hat seine Arme nach vorne gestreckt. So, als wollte er nach mir greifen. Ich schaffe mit Mühe und Not das Ende der Treppe zu erreichen, dann quäle ich mich über den langen Flur und ich weiß, er ist hinter mir. Vor meinen Augen ist die rettende Türklinke, aber ich kann sie nicht erreichen. Verzweifelt strecke ich meine Hände aus, dabei werfe ich einen Blick zurück und sehe, dass mein Großvater hinter mir steht. Als er mich berühren will, fasse ich nach der Klinke und bin in Sicherheit. Mit rasendem Herzen und schweißgebadet wachte ich dann auf, knipste meine kleine Nachttischlampe an und zitterte mich in den weiteren Schlaf. Diesen Traum träumte ich  zwei bis drei Mal im Jahr.

 

Mit fast dreißig Jahren träumte ich ihn plötzlich zwei bis drei Mal im Monat. Am Anfang konnte ich gut damit umgehen, doch nach ein paar Wochen nicht mehr. Hinzu kamen noch andere Begebenheiten. Oft hatte ich das Gefühl, das mich irgendwer in den Arm nahm, was ich aber nicht als unangenehm empfand. Es kam mir irgendwie vertraut vor. Ging ich schlafen, hatte ich Angst zu träumen. Aber meistens träumte ich. Die Rettung war mein Hausarzt. Ich hatte mich ordentlich erkältet und suchte ihn auf. Am Ende fasste ich mir ein Herz und erzählte ihm von meinem Traum. Davon, dass ich ihn schon als Kind geträumt hatte, aber selten. Aber nun zwei bis drei Mal im Monat. Ich hätte nie gedacht, dass er mir so interessiert zuhören würde, aber das tat er. Er gab mir den Rat, nicht mehr nach der rettenden Klinke zu greifen, sondern abzuwarten, was geschehen würde, weil er da so seine eigene Vermutung hätte. Es würde nicht beim ersten Mal klappen, aber wenn ich mir jeden Abend sagen würde: „Du greifst nicht nach der Klinke“, dann würde es irgendwann schon so geschehen. Auf jeden Fall sollte ich ihm Bericht erstatten. Es hat Monate gedauert, bis ich wirklich nicht nach der rettenden Türklinke gegriffen habe. 

Was ist passiert? Eigentlich gar nichts und doch viel.
Der gleiche Traum wie immer. Die gleichen ausgestreckten Hände, das gleiche Totenhemd. Aber ich blieb stehen, obwohl ich Angst hatte. Mein Großvater lächelte, nahm mich in seine Arme und drückte mich ganz fest an sich. Dann drehte er sich um und ging. An der Kellertür vorbei, zur Haustür. Auch trug er kein Totenhemd mehr, sondern einen Mantel und einen Hut. Den zog er, bevor er die Tür öffnete und verschwand. Ich verstand, dass es ein Abschied gewesen war, den ich erst jetzt zulassen hatte.

Irgendwann fragte auch mein Hausarzt nach. Ich erzählte ihm alles und er sagte, dass er sich so etwas gedacht hätte. Da wollte nur jemand Abschied nehmen. So gesehen war es ein langer Abschied gewesen. Diesen Traum habe ich nie wieder geträumt. Auch in anderen Träumen tauchte mein Großvater nicht mehr auf. Er war endgültig gegangen.

 

 

©Monika Litschko

 

 

 

Diese Geschichte gehört mit zu den ersten Geschichten, die ich je geschrieben habe, darum habe ich sie nicht verändert, überarbeitet oder anderes.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.08.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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