Walter Forrester stand auf dem breiten Geländer einer abseits gelegenen Steinbrücke, die irgendwo hoch in den Bergen über eine kleine Schlucht führte. Seine klobigen Wanderschuhe ragten schon ein kleines Stück über den schwindelerregenden Abgrund, der weit unten in einem rauschenden Gebirgsbach endete.
Das Wetter war einfach herrlich, und seit den frühen Morgenstunden war Forrester zu Fuß unterwegs gewesen. Eigentlich hätte er völlig außer Atem und am Ende seiner Kräfte sein müssen, aber offenbar war seine körperliche Belastbarkeit wohl besser, als er gedacht hatte. Das überraschte ihn selbst ein wenig, wo er doch nicht mehr der Jüngste war und bald sechzig Jahre alt wurde.
Doch jetzt befand er sich weit droben in den Bergen, hier an diesem abgelegenen einsamen Ort, den er schon als junger Mann auf seinen vielen Bergwanderungen so oft aufgesucht hatte. Walter Forrester liebte die Abgeschiedenheit und Ruhe dieses wunderbaren Fleckchens Erde, das ihm jedes Mal aufs Neue wie ein Stück aus dem Paradies vorkam.
Sein verträumter Blick in die weite Gebirgslandschaft zu seinen Füßen beanspruchte jetzt all seine Sinne. Am fast wolkenlosen Himmel begann sich soeben die Sonne am fernen Horizont zu verabschieden, die mit ihren majestätisch leuchtenden Farben, einer Mischung aus rot und dunkelgelb, den Eindruck machte, als würde sie auf geheimnisvolle Art und Weise im Erdboden verschwinden und nicht wieder daraus auftauchen.
Noch nie hatte Walter Forrester so einen wunderschönen Sonnenuntergang erlebt. Weit unter seinen Füßen, etwas weiter rechts von ihm, befand sich ein ausgedehnter türkisfarbener Bergsee, auf dessen Wasseroberfläche jetzt die reflektierenden Farben der Abendsonne sanft wie das bunte Licht eines funkelnden Diamanten schimmerte. Nur Mutter Natur vermag diesen Zauber vollendeter Schönheit hervorzubringen, dachte er.
Sein Blick richtete sich die ganze Zeit nur auf dieses fesselnde Schauspiel. Er hielt eine Weile inne, schloss seine Augen und atmete das packende Gefühl der Wahrheit und des Einsseins mit der Natur tief in sich ein. Wie lange hatte er auf dieses Ereignis warten müssen, und jetzt, da es sich endlich ereignete, war es noch schöner und gewaltiger als er es sich je in seinen Träumen hätte vorstellen können.
Langsam, fast wie in Zeitlupe, beugte sich Forrester noch ein kleines Stück nach vorne und blickte hinunter in den Abgrund. Die imposanten Felswände zu beiden Seiten der Schlucht waren steil und glatt, ohne jeglichem Vorsprung und sahen aus, wie ein Schnitt durch einen Kuchen.
Ohne Mühe erspähte er direkt unter sich den wilden Gebirgsbach, der quirlig durch sein zerklüftetes Felsenbett dahin rauschte. Wie alles Wasser, so strebte auch sein Wasser dem Meer entgegen, um so den Kreislauf aufs Neue zu schließen, damit ein neuer Anfang beginnen konnte.
Dann, nach einer Weile, sah er wieder auf. Er wusste auf einmal nicht mehr, wie lange er schon hier auf der abgelegenen Steinbrücke stand, denn dieses überwältigende Gefühl von unendlicher Weite und absoluter Freiheit hatte ihm jegliche Zeitvorstellung geraubt. Waren es Sekunden nur, gar Stunden, Tage oder vielleicht sogar Jahre gewesen? Forrester wusste es selbst nicht. Er wusste nur eins, dass das, was er hier im farbenprächtigen Lichte der untergehenden Sonne sah, sein eigenes, wahres selbst gefühltes Leben war, ganz und gar ungetrübt von anderen, meist störenden Einflüssen, die das tagtägliche Leben unter den Menschen so mit sich brachte.
Eine Träne der überschäumenden Freude und tiefen Erfüllung rollte auf einmal sanft über seine Wange. Endlich fühlte er sich frei. Er schrie es förmlich aus sich heraus:
„Freiheit!“
Dann blickte er zum Horizont, wo die Sonne langsam unterging.
Walter Forrester hatte eigentlich nie daran geglaubt, dieses erhabene Gefühl fern ab jeden Zwanges jemals zu erlangen, doch jetzt war es da, und er genoss es in jeder Sekunde seines Daseins.
In aller Stille kamen die Erinnerungen.
Wie viele Jahre seines Lebens hatte man ihn eingesperrt und behandelt wie ein Stück Vieh? Sein Geist und seine Seele litten unmenschliche Qualen. Er musste Dinge tun, die er nie von selbst getan hätte, und die er aus tiefstem Herzen verabscheute. Doch er tat, was man ihm auftrug, jeden Tag immer wieder und immer wieder aufs Neue.
Es war die krank machende Ungewissheit und die stetige Angst vor den nicht zu überblickenden Veränderungen des eigenen Lebens, die ihn schließlich dazu trieben, bis auch er sich den Zwängen einer übermächtigen, anonymen Masse unterordnete und am Ende darin unterging. Doch, auch wenn es nicht danach aussah, so blieb er stets auf der Suche nach seiner eigenen Identität.
Aber die kranken System, die Freiheit zerstörenden Zivilisationen, mit ihren perfide arbeitenden Organisationen, die sich fein ausgeklügelter, subtil brutaler Zwänge bedienten, die jedes menschliche Wesen auf Dauer an Körper, Geist und Seele pervertieren ließen, hielten ihn wie in einem unverrückbaren Schraubstock gefangen.
Er wollte diesem schier unausweichlichen Moloch entfliehen, nicht einfach namenlos wie ein Nichts darin untergehen und verschwinden. Das hatte er sich innerlich im Kern seiner Seele geschworen.
Wie oft wünschte er sich deshalb schon den Tod?
Die schnelle Erlösung aus den Qualen eines sich immer mehr abstumpfenden Daseins, das in einem nie endenden Kreislauf aus ungeliebter Pflichterfüllung, Geld, Reichtum, Sex und jeder möglichen Art von Konsum zu versinken drohte, aber weder Erfüllung, noch Liebe oder Freude in ihm aufkommen ließen.
Doch der Gedanke an die Freiheit, die immerwährende Hoffnung und der innere Drang, einmal dieses wundervolle Gefühl der Erfüllung des eigentlichen Seins auskosten zu können, hielten ihn weiterhin am Leben. Dieses tief in ihm verborgene Gefühl wuchs von Tag zu Tag und verlieh ihm Stärke all die Zweifel, die Schmerzen und Zwänge zu ertragen, die er hatte ertragen müssen. Schon immer war ihm danach, diese furchtbaren Ketten zu zersprengen, die ihn ohne Gnade an diese verkommene Welt fesselten.
Hier an diesem Ort auf der steinernen Brücke, hoch über einer tiefen Felsenschlucht, wollte er ein für allemal mit all diesen bösen Geistern abrechnen, die ihn wie hartnäckige Verfolger unablässig durch sein gesamtes Leben nachstellten, um jedwedes Gefühl von Lebensglück in ihm schon im Keime zu ersticken. Am Ende aber würde er gewinnen, denn sein Körper, seine Seele und sein freier Geist gehörten ihm..., und nur ihm allein. Er war der Herr und Meister seines Seins - und sonst niemand.
Doch ein Anflug von Zweifel erfasste Forrester plötzlich. In der Vergangenheit hatten seine Verfolger noch nie verloren, und warum sollte es hier und jetzt plötzlich anders sein? Die Chancen standen eigentlich im Prinzip schlecht für ihn. Heute allerdings war ihm das alles egal. Jetzt, wo er so kurz davor stand, die Freiheit für immer gewinnen zu können, wollte er nicht aufgeben, eisern durchhalten und keine Widersprüche mehr zulassen.
Jetzt stand er hier, ganz ohne Angst. Was zählten da noch die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit? Er fühlte sein Herz wild pochen und wie es nach Leben schrie. Das Gefühl von unendlicher Freiheit wuchs in ihm von Sekunde zu Sekunde und füllte bald sein ganzes Bewusstsein aus.
Sein Blick hatte sich für einen kleinen Augenblick von der untergehenden Sonne gelöst. Wieder rann ein Träne über sein Gesicht.
Er breitete seine Arme aus und ging ganz langsam einen Schritt nach vorne, sodass sein rechter Fuß ins Leere trat, als wollte er eine unsichtbare Treppe hinaufsteigen.
Dann bewegte Walter Forrester seine Arme auf und ab, als wären es Schwingen eines engelgleichen Wesens, die so zerbrechlich wirkten, als wären sie aus feinstem Kristallglas.
Hinter ihm wurden seine Verfolger in der Ferne sichtbar, die sich rasend schnell näherten. Es waren die bösen Geister seines vergangenen Lebens, die ihn stets so vollendet gequält hatten. Sie mussten sich ihrer Sache wohl ganz sicher sein, denn der Lärm, den sie verbreiteten, war unerträglich.
Doch Forrester hörte sie nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr einschüchtern lassen. Sein Entschluss stand fest.
Die unheimliche Meute kam näher und näher. Der Abstand zu ihm war schon auf ein bedrohliches Minimum geschrumpft. Bald hätten ihn die Zwänge wieder eingeholt, denn sie griffen schon nach ihm.
Doch würden jetzt sie keine Macht mehr über ihn haben.
Walter Forrester tat entschlossen den letzten Schritt und schwang seine Arme wie im Flügelschlag langsam rauf und runter. Er war bereit dazu, alles hinter sich zu lassen. Er sah die untergehende Sonne, die schönen Berge und den quirlig rauschenden Gebirgsbach unter sich in der tiefen Schlucht nicht mehr, als er langsam mit geschlossenen Augen nach vorne kippte.
Jetzt gab es kein Zurück mehr.
Immer weiter fiel er nach vorne, bis er sich von der Steinbrücke ganz gelöst hatte. Sein Köper stürzte in die tiefe Schlucht, doch etwas löste sich plötzlich von seinem fallenden Körper und flog so sanft und majestätisch wie ein Engel davon in einen blauen, weiten Himmel hinein.
Seine Verfolger bleiben wild schreiend zurück, aber sie konnten ihm nichts mehr anhaben.
Endlich war Walter Forrester grenzenlos frei.
Das Ziel seiner Lebensreise war erreicht.
Unendliche FREIHEIT!
***
(c)Heinz-Walter Hoetter
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.08.2018.
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