Jörn Meyer

Flug des Phönix

Wut.
Wut, Hass, Gewalt, Zorn, Rage, alles lodert mit einem Male in mir auf. Wie Phönix aus der Asche erhebt sich ein Gedanke aus dem Grau meiner Selbst: Rache.
Genau wie Phönix wird er auch wieder vergehen, sich selbst verzehren bis nichts mehr bleibt als leise schwelende Asche, schwarz wie deine Seele. Doch egal, die Flammen meiner Rache werden heiß sein wie das Fegefeuer und endlich Gerechtigkeit bringen.
(Justitia ist blind, sagt man so schön.)
Blind vor Rage, blind vor Wut. Es gibt ein warmes Gefühl, aus gutem Grund Hass zu empfinden. Niemand wird mich richten, es ist nötig, das werden alle einsehen.
Schmerzhaft brennend und unauslöschlich wie Babylons Menetekel frisst sich ein Gedanke hinter meine Augen: Tod. Tod. Tod. Tod. Tod. Wie eine Langspielplatte mit Sprung.
(Auge um Auge, Zahn um Zahn, sagt man so schön.)
Dich den Schmerz tausendfach spüren lassen, dir das ganze heimzahlen, mit deinem Blut die Asche von der Seele waschen. Unwillkürlich branden Gewaltphantasien über mich herein, ich stelle mir deine leeren, toten Augen vor, die mich selbst in der Hölle noch bittend anschauen.
Es tut mir leid, sagt der Mund, aus dem die gewürgte Zunge blau herausquillt. Ich habe es nicht gewollt.
Doch es ist egal, denn ich schwinge Justitias Schwert. Ich werde richten. Du sollst leiden.
Ich weiß nicht, wie lange ich diesem Sirenengesang standhalten kann (will?).Unwillkürlich bohren sich meine Fingernägel in das Holz meines schlichten Stuhls, hinterlassen tiefe Kerben. Halb erwarte ich, das Blut herausquillt. Doch Möbelstücke können kein Methadon für mich sein.
Ohne meinen bewussten Willen, losgelöst von meinem Körper, sich windend wie Würmer unter der Erde, suchen meine Finger nach der Rasierklinge auf dem Tisch. Nur ein kleiner Schnitt, noch nicht einmal tief. Nur, um das Blut zu sehen.
(Blut ist dicker als Wasser, sagt man so schön)
Schnell findet sich eine freie Stelle zwischen den Malen des linken Arms. Der Schnitt ist kurz, schmerzvoll, und trotz chirurgischer Präzision tiefer als gewollt. Mein Herz freut sich an der Musik, als ich scharf die Luft zwischen die Zähne sauge.
Ich schließe die Augen, lege den Kopf in den Nacken und gebe mich den Gefühlen hin. Das Allegro Vivace meines Herzens, das meine Lebenskraft aus der neu entstandenen Quelle presst. Das Mosaik heißer Spuren, die einzelne Tropfen auf meine Haut zeichnen, wenn ich den Arm drehe.
(Da capo, Maestro, sagt man so schön.)
Der rechte Arm. Zweifellos tut es weh, als die Klinge die Haut zerreißt, aber das Gefühl ist befreiend, als spülte das Blut alles schlechte aus meinem Herzen heraus. Ich genieße das Duett meiner beiden Arme und spüre, wie sich meine Muskeln langsam entspannen wie in einem heißen Bad.
Ohne die Lider zu heben führe ich eine Wunde an den Mund und fahre mit der Zunge über das bare Fleisch. Der gewohnte Geschmack fordert seinen Platz, metallisch, heiß, aggressiv.
Ich spüre, wie mein Atem ruhiger wird (Decrescendo, Maestro!), doch die Wut schwelt weiter.
Die Schmerzen, die ich selbst beschwöre, können nicht kompensieren, womit du mich verflucht hast. Ich bin keine Mimose und vergieße keine Tränen über physische Schmerzen. Doch das, womit du meine Seele gebrandmarkt hast, wird mir ewig ein zweiter Schatten sein und rufen: Abschaum. Abschaum. Abschaum!
Egal, welches Theater ich mir selbst vorspiele, egal, womit ich zu substituieren suche, die Rache wird kommen, unaufhaltsam wie das Jüngste Gericht. Und doch bleibt ein Zweifel, er hat sich eingenistet, sich festgebissen wie eine feiste Zecke: was, wenn Du meinen Willen brichst?
Wie Papier in deinen Händen ist mein Widerstand in der Regel, die Flammen meiner Rage unter dir verkommen zu einem leichten Flackern. Jedes Mal, wenn ich daliege und mich selbst verwünsche, hoffe ich darauf, dass der Phönix sich selbst wieder gebären kann.
Doch nicht heute, heute nicht. Eine Entscheidung muss gefällt werden, und mein Schmerz kann nicht ewig dauern. Ich schmiede mir eine Rüstung aus Entschlossenheit und hoffe, sie hält deinem Angriff stand.
Die Angst, die an mir frisst, ist nicht die Angst vor dem Leid, es ist die Angst, mein gerechter Zorn könnte vergehen, bevor er dich trifft. Wieder beschleunigt sich mein Atem, meine Muskeln krampfen, Unbeugsamkeit pulst durch meine Adern. Ich will dich alles bereuen lassen, doch selbst die Hölle könnte dich nicht genug quälen, um meinen Schmerz fühlen zu können.
Es gibt keine Wahl, keine Kreuzung auf meinem Weg: solange du lebst, wird mein Schmerz dauern. So lange binden mich die Ketten an den Kaukasus, und so lange wirst du mein Adler sein.
(Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt man so schön.)
Und mein Glück soll dein Tod sein.
Du wirst bald kommen, ich fühle es, ich weiß es. Ich weiß es immer. Eine Art Symbiose zwischen Jäger und Gejagtem.
Ich versuche mich vorzubereiten, versuche, ruhig zu atmen, meine Kräfte zu sparen, doch vergebens: mein Zorn ist wie ein Hund im Zwinger, immer wieder bellt und kläfft er und springt gegen die Gitterstäbe meiner Ruhe. Zu stark ist er inzwischen geworden, ich habe ihn geschaffen, und ich werde ihn niemals mehr zähmen können. Wenn er vergeht, vergehe auch ich.
Die Tür geht auf und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich rucke den Kopf herum und sehe deinen Schatten in der Tür, hoch aufragend und gewaltig. Mein Adler, flüstere ich.
Wortlos kommst du zu mir, packst mich an den Haaren und quälst mein Gesicht nach oben. Unsere Lippen berühren sich, deine wie immer trocken und hart, gleichzeitig fordernd und besitzergreifend. Ich presse die Augen zu, doch nicht um zu genießen, sondern um zurückzuhalten. Nicht dich, sondern mich. Es ist zu früh.
Du zerrst mir an der Kleidung, unwillkürlich wehre ich mich. Du triffst meinen Kopf mit einem harten Gegenstand und ich gehe rau zu Boden. Während ich daliege und um mein Bewusstsein kämpfe, pocht der Schmerz hart in meinem Gesicht. Doch es ist kein schöner Schmerz, wie ich ihn mir schenke, du pervertierst ihn und machst ihn zu etwas grauenhaftem, etwas ekligem. Und dafür sollst du sterben.
Deine Hände greifen nach meinem Arm, er verdreht sich grob im Gelenk, als du mich auf die Füße reißt. Während deine Hände meinen Körper entlang fahren, rastlos wie tausend Insekten, schwelt mein Zorn wieder auf. Der Phönix lebt und breitet die Schwingen aus.
Der Gedanke an meine zukünftige Freiheit ist mir nicht wichtig, wichtig ist, dass du bezahlst. Bezahlst für alles, was du getan hast, bezahlst für all die Sünden, die du dir auf die Seele geladen hast, mit denen du mich beschmutzt hast. All die Jahre Schmerz und Qual sollen sich nun endgültig gegen dich wenden.
In dem Moment, als meine Bluse reißt, schreit der Phönix und ich mit ihm. Das Feuer, das in meinen Adern brennt, dringt mit aller Macht nach draußen, und ich schlage zu. All meine Demütigung und meine Schmach lege ich in diesen einen Hieb, und er trifft tatsächlich.
Du fällst nieder, und bevor ich überhaupt nachdenken kann, hat die Vendetta meine Gedanken übernommen. Sofort bin ich über dir, knie auf deinem Kehlkopf und halte deine Arme nieder. In meinen Fingern blitzt es auf, und ich senke die Hand.
Möge der Herr dir vergeben, spreche ich. Ich kann es nicht.
Der Schnitt ist gewohnt präzise, lang und tief. Das Blut, das über meine Finger quillt, ist dunkelrot und wunderschön. Es löscht das Feuer tief in mir, doch was zurückbleibt, ist nicht Widerruf und Reue, sondern Freude und Euphorie. Mein Herz und mein Atem beginnen zu rennen (Accelerando, Maestro!) und ich lächle.
Geduldig hocke ich da, annulliere deinen Widerstand, negiere deine Bewegungen und warte, bis alles Leben aus dir gelaufen ist. Als dein Körper unter mir erschlafft, schließe ich deine Augen. Sie sollen nicht sehen, dass ich frei bin.
Ich erhebe mich, schreite das erste Mal seit Jahren aus dem Raum. Dann breite ich meine lodernden Schwingen aus und fliege davon.
(Rache ist süß, sagt man so schön.)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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