Anita Voncina

Sommer am Meer

Als Kind aus dem Voralpenland war meine erste Begegnung mit dem Meer das Ergebnis einer spontanen Reiseidee meiner Verwandten. Und von genau dem Augenblick an als ich, nach einer vor Aufregung und ungewissen Erwartungen durchwachten Nacht auf dem Rücksitz eines Autos, beim ersten Halt auf einem kleinen Rastplatz an der kurvigen Strasse durch die Beifahrertüre hinausgeklettert war und hinunterschaute auf dieses grenzenlose, spiegelglatte, tiefblaue Wasser, während die Sonne sich gerade anschickte, das zarte Taubengrau des frühen Morgenhimmels in ein immer intensiveres Gelborange zu verwandeln, hatte ich fortan den Wunsch, diesem Meer so oft und so nahe wie nur irgend möglich sein zu können. Seit jenem Moment war die Krönung eines jeden nachfolgenden Jahres die Zeit, die ich am Mittelmeer verbringen konnte. Und das kam in meinen Kinderjahren leider nicht sehr häufig vor.

Das Meer, der Süden, und die Wochen der vielen Sommer, die ich in den späteren Jahren jedoch doch noch dort verbringen konnte, waren mir mit jedem Mal immer noch wertvoller geworden. Und sind  nun tatsächlich sogar ein fester Bestandteil meines alltäglichen Lebens geworden, denn nun lebe ich seit vielen Jahren in seiner unmittelbarer Nähe. In einem kleinen Ort, der seit eh und je ein Fischerdorf war und sich erst seit ein paar Jahrzehnten darauf einzustellen versucht, es nun auch mit dem Tourismus zu versuchen.

Auf der Terrasse unseres Hauses kann man das Meer hören und auch riechen, und, zwischen den Stämmen der alten Pinien und Kiefern im Nachbargrundstück hindurch, schimmert und glitzert sein Blau bis hinauf in den Garten. In der unmittelbaren Nähe des Meeres zu leben, hat meine Beziehung zu ihm verändert; es hat sie korrigiert, relativiert, erweitert und intensiviert. Denn für seine Anwohner ist das Meer viel mehr als nur Badespass und Urlaubszeit, es ist deren prägende Komponente in Bezug auf Mentalität und Alltagsgestaltung.

Noch bis vor ein paar Jahrzehnten war es das Meer, das die Familien in unserem Ort ernährte. Zumindest fast ausschliesslich. Die meisten Männer waren Fischer, die mit ihren kleinen Holzbooten tagtäglich hinausfuhren und dabei auf einträglichen Fang hofften. Ein Denkmal auf der Uferpromenade erinnert an die vielen von ihnen, die in jener Zeit dabei umgekommen sind. Heute liegen in unserem Hafen ein halbes Dutzend grosser, hochseetauglicher Fischkutter vor Anker. Und obwohl die Schiffseigner alle aus unserem Ort stammen, und auch die Männer der Mannschaften, so sind sie nun doch nur noch eine sehr kleine Gruppe im Vergleich zur gesamten Einwohnerzahl des Ortes.

Auch wenn diese modernen grossen Schiffe nun ihrer Mannschaft viel mehr Schutz vor den Tücken des Meeres bieten, so beschäftigen diese Zunft auch heute noch eine ganze Menge Sorgen, wenn auch andere als früher; nämlich die Bestimmungen der Fangquoten, die verfallenden Preise, die Konkurrenz durch andere Fangflotten, die manchmal auch illegal in fremden Gewässern fischen, die eigentliche Unvereinbarkeit zwischen Umweltschutz und Profit, und auch die hohe Schuldenlast, die ein Kapitän auf sich nehmen muss, um so ein modernes Schiff zu kaufen.

Die meisten Menschen jedoch, die in unserem Ort leben und arbeiten, tun dies heute in anderen Berufen. Glücklich ist, wer dabei in den zahlreichen Restaurants und Cafebars, in den kleinen Läden und Werkstätten, in den familiär betriebenen Hotels und Pensionen, den Immobilienagenturen und Kanzleien, oder aber in den verschiedenen Aufgabenbereichen unseres Rathauses, in den medizinischen Bereichen, der Schule und im Kindergarten, ja auch bei den Polizeikräften und bei der Feuerwehr eine Anstellung findet. Viele jedoch müssen sich in den umliegenden grösseren Ortschaften oder in den Städten der Region nach Arbeit umsehen. Und für die meisten der besser ausgebildeten, jungen Menschen bleibt nur die Möglichkeit, die Region ganz zu verlassen. Für jene jedoch, die in unserem Ort in der Tourismusbranche arbeiten, gilt die erklärliche Vorgabe, dass es gerade in den Sommermonaten für sie überhaupt gar keinen Urlaub gibt, und dabei auch die Woche aus sieben Arbeitstagen besteht.

Für all die anderen Menschen in unserem Ort jedoch, vor allem für die Kinder und uns Ältere, die wir frei über unsere Zeit verfügen können, haben die Monate im Sommer sehr wohl ihren ganz aussergewöhnlichen Reiz.

An Stränden fehlt es unserem Ort nun ganz sicherlich nicht; was ihn jedoch in meinen Augen so unvergleichlich macht, ist deren Vielfalt. Grundsätzlich ist es eine felsige Küste, in deren kleinen und grösseren Buchten sich entweder grober Kies, feiner  Kiesel oder auch Sand befindet. Je nach der Heftigkeit der vorhergegangenen winterlichen Stürme und des Seeganges, werden diese einmal ins Meer hinausgespült oder an Land geschwemmt, und so entstehen in den Buchten von Jahr zu Jahr im Wechsel häufig neue Sand- bzw. Kieselbeläge. Nur die grossen Sandstrände, die von der Gemeinde im Frühling gesäubert und im Sommer auch gepflegt werden, behalten ihr immerwährend unverändertes Gesicht bei.

Im Yachthafen, der erst in den letzten 30 Jahren in mehreren Schritten angelegt und ausgebaut wurde, und nun wesentlich grösser ist als der angrenzende, eigentliche Fischereihafen, liegen während des gesamten Jahres kleinere und grössere Schiffe und Boote vor Anker. Neuerdings werden dort auch Jetski und Motorboote an Freizeitkapitäne und Sportler verliehen. Es gibt eine Tauchschule, die in den Sommermonaten ihren Tauschülern tägliche Exkursionen in den nahe gelegenen Unterwasser-Naturschutzpark anbieten kann, eine Surfschule und einen Kajakverleih. Und für den interessierten Hochseeangler stehen ein paar entsprechend ausgerüstete Yachten nebst Kapitän und Crew zur Verfügung.

Für mich ist der Sommer vorort auch deshalb eine ganz besondere Zeit, denn ich bin für mein Leben gerne „einfach irgendwie im Wasser“. Dazu brauche ich nicht viel, nur ein ganz besonders hübsch gelegenes Plätzchen, fernab des üblichen Strandgetümmels, in Gestalt einer ausladenden Felsplatte, von der man direkt ins tiefblaue, klare Wasser eintauchen kann. Von dort aus lässt sich mit uneingeschränktem Vergnügen die zerklüftete Unterwasserwelt durch die Schnorchelbrille betrachten, und dabei begegnet man dem ein oder anderen scheuen Kraken, man entdeckt rote Seesterne und träge Seegurken, verärgerte Tintenfische vernebeln ihren Fluchtweg mit ihrer Tinte, grosse und kleine Fische äsen unbeirrt zwischen Seegrassblättern, oder man kann mit Schwärmen kleinerer Fische schwimmen. Mit viel Glück entdeckt man dort vielleicht sogar eine jener rötlichbraunen Meeresschnecke, deren elegante Schwimmbewegungen denen eines Rochen gleichen. Oder aber auch, mit noch grösserem Glück, lässt sich in der Ferne ein Delfin bei seinen Sprüngen aus dem Wasser beobachten. Die Sammlung verschiedener Muscheln daheim ist in den Jahren riesig geworden, und obwohl ich diesen küstennahen Bereich nun schon so lange Jahre kenne, so ist es für mich doch immer wieder auf´s neue eine unbeschreiblich interessante, wundersame Unterwasserwelt. Die natürlich auch ihre kleinen Tücken hat.

Wegen der zahlreich vertretenen Seeigel habe ich mir angewöhnt, nicht mehr ohne Badeschuhe oder Schwimmflossen ins Wasser zu gehen. Und auch die Unterwasserströmung nicht ganz aus dem Auge zu verlieren, zumindest dann, wenn die Ebbe einsetzt oder ein stark ablandiger Wind bläst.

Zu den besonderen Freuden unserer Sommer gehören natürlich auch die langen Abende, die man bei den warmen Temperaturen bis spät in die Nacht im Freien verbringen kann. Unser kleiner Ort gibt sich zwar leidlich Mühe, seinen Urlaubern zumindestens in den beiden Hochsommermonaten die verschiedensten Feste und Veranstaltungen anzubieten, doch könnte er im Vergleich mit den typischen Touristenhochburgen keineswegs mithalten. Man hat in unserem Rathaus wohl schon vor Jahren ganz bewusst auf ein familiäres Ambiente gesetzt,  also keine grossen Hotels, vielmehr private Ferienimmobilien, die auch vermietet werden, und auf verschiedene Strandaktivitäten für Kinder, auf sportliche Wettbewerbe, Yoga und Gymnastik für jedes Alter. Diskotheken und Tanzlokale fehlen jedoch gänzlich.

Und auch hierbei möchte ich an dieser Stelle der Vollständigkeit halber erwähnen, dass natürlich jeder dieser wunderbar mit beständig trockenem Wetter gesegneten Sommer auch seine kleinen Unannehmlichkeiten mit sich bringt. Für den einheimischen Gartenbesitzer oder den Kleingärtner ist es die Erkenntnis, dass Giesswasser nicht zu üppigst verwendet werden sollte; manchmal ist das sogar auch noch durch konkret formulierte Verbote von Seiten der Gemeindeverwaltung selbst untermauert; immer dann, wenn der vorherige Winter und das Frühjahr zu trocken waren um die Trinkwasserversorgung im Sommer für die vielen Menschen im Ort zu sichern. Und für alle diejenigen, egal ob einheimisch oder Urlauber, die in ihren Wohnungen keine Klimaanlage haben, oder diese nicht haben wollen, können die Nächte im Hochsommer nicht nur sehr schweisstreibend, sondern auch ziemlich schlaflos sein.

Am Ende eines jeden Sommers, wenn die Zahl der Urlauber sichtbar abzunehmen beginnt, die Blechlawinen sich in alle möglichen Richtungen von unserem kleinen Ort wegbewegen und viele der nur für die Saison geöffneten Bars, Boutiquen und Lokale wieder schliessen, beginnt dann wieder Ruhe einzukehren. Die Menschen finden langsam wieder zu ihrem normalen Lebensrythmus zurück, auf den Strassen durch den Ort bewegt sich der Verkehr wieder reibungslos, es gibt auch wieder genügend Platz auf den Parkplätzen, die nächtliche Ruhe wird von keinem krakeelenden Jugendlichen mehr gestört, die Kinder gehen wieder zur Schule, die Preise in den Supermärkten kehren wieder auf ihr normales Niveau zurück, und die Verkehrspolizisten schlendern nun wieder gelassen durch unsere Gassen, immer bereit für ein kleines Schwätzchen unter Altbekannten.

Am Ende eines jeden dieser wahrhaftig wunderbaren Sommer freue ich mich auf die Monate, die nun vor mir liegen, bis es im kommenden Jahr dann wieder Sommer werden wird.

Denn da gibt es zunächst einmal den Herbst, der eigentlich ein erholsamer, milder, meist beständig sonniger Spätsommer ist, mit erfrischend kühleren Nächten, in denen man wieder gut schlafen kann. Und danach freue ich mich auf den Winter, der hier meist erst kurz nach Weihnachten beginnt und im Februar endet; mit viel Sonne am strahlend blauen Himmel, aber auch mit viel Wind, nicht selten einem heftigen, richtig kalten Norwind, Tramuntana genannt. Der die Abende vor dem Kamin gemütlich, und tagsüber draussen nicht selten eine Mütze und eine gefütterte Jacke unerlässlich macht. Und danach dann der Frühling, mit all seiner verschwenderisch blühenden Pracht, in den Gärten und auch in der Natur. Mit den wild wachsenden Mohnblumenteppichen auf den Feldern, den duftende Wildkräutern überall zwischen den Felsen und auf den umliegenden Hügeln, den zitronengelb blühenden Ginsterhecken, dem wilden Lavendel und Rosmarin, und den vielen verschiedenen bunt-blühenden Blumen, den winzigen Blüten der Flechten und der niederen Sträucher der Maccia.

Und bei all dieser durch die Jahreszeiten bedingten Abwechslung in der Landschaft, in die unser kleiner Ort sich hineinduckt, ist es für mich dabei doch immer in Sichtweite, als eine beruhigend bestimmende Konstante: Dieses unbeschreiblich schöne, unendlich weite, mal friedlich im Sonnenlicht glitzernde, mal wild aufbrausende, tobende, schäumende, manchmal ruhend tiefblaue,  anderntags giftig grüntürkise, nach schweren Regenfällen graubraune,  so unerlässlich wertzuschätzende Meer.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.08.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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