Angie Pfeiffer

Ich muss es nur irgendwie aushalten

Wie jeden Morgen schlurfte Wolfgang in die Küche, setzte die Kaffeemaschine in Betrieb, lauscht ihren Blubbergeräuschen, greift automatisch nach seiner Kaffeetasse. Beim Öffnen der Kaffeemilch fabriziert er Spritzer auf dem Tisch, aber das stört ihn nicht. Er wischt sie einfach mit dem Ärmel seines Badmantels ab. Anschließend nippt er an seinem Kaffee, verzieht angewidert das Gesicht. Zucker fehlt, aber er hat vergessen welchen zu kaufen. Jetzt eine Zigarette. Wolfgang hat das Päckchen praktischerweise in der Badmanteltasche und das Feuerzeug auch. Mit zitternden Händen zündet er sich eine Zigarette an. Früher hat er das nicht gemacht. Maria hat ihm immer verboten am Frühstücktisch zu rauchen. „Bitte geh doch auf die Terrasse“, hat sie meistens gesagt. Er hat den Klang ihrer Stimme noch im Ohr. Damals hat er sich über sie geärgert, jetzt würde er sich nur zu gern von ihr maßregeln lassen.
 'Verdammt, wieso hast du dich einfach weggeschlichen’, denkt er voller Zorn, sofort schämt er sich dafür. Trotzdem kommt immer wieder Wut hoch. Wie konnte sie ihm das nur antun? Sie hatten sich doch unzählige Male zusammen ausgemalt, dass keiner allein zurückbleiben würde. Sie wollten ihr Leben bis zuletzt selbst bestimmen. Zusammen gehen. Und dann ließ sie ihm nicht einmal die Chance sie auf dem letzten Weg zu begleiten. 
‚Von wegen Routineoperation. Wenn ich den verdammten Arzt in die Finger kriegen könnte, ich würde ihm das Herz aus der Brust reißen, so wie er es mit mir gemacht hat’, denkt Wolfgang und heiße Wut steigt in ihm hoch. Sein Leben ist vorbei. Nur, dass er nicht wirklich tot ist. Noch funktioniert er. Seine Finger krallen sich um die Kaffeetasse, die Zigarette lässt er achtlos auf die Tischplatte fallen. Dort glimmt sie weiter vor sich hin. So sitzt er eine Ewigkeit mit hängendem Kopf da. Tränen tropfen in seine Tasse. Schließlich strafft er die Schultern, nimmt die Zigarette auf. Sie glimmt nicht mehr, hat einen braunen Fleck auf der Tischplatte hinterlassen. Einer von vielen.
„Scheiß egal“, sagt Wolfgang laut und noch einmal „Scheiß egal, dich stört es nicht mehr.“

Er schlurft ins Badezimmer: duschen, abtrocknen, rasieren, kämmen. Beim Anziehen kommt ihm in den Sinn, dass der Mensch eine einzige Fehlkonstruktion ist. Warum hat Gott ihm ein Bewusstsein gegeben und manchen Exemplaren Intelligenz und sogar Weisheit? Wenn er den Ausschaltknopf vergessen hat. Wie viel Leid würde so ein Knopf verhindern! Er hätte ihn längst gedrückt, sofort, nachdem es klar war, dass Maria ihn verlassen hatte. Er hat es versucht, aber es ist ihm nicht gelungen. Egal, wie groß seine Todessehnsucht ist, letztendlich schafft er es nicht, sich das Leben zu nehmen. Nicht einmal dazu hat er die nötige Energie.
Seufzend begibt er sich zu seinem Liegesessel. Maria hat ihn ihm geschenkt. Zum 65. Geburtstag, damit der die Rente in Ruhe genießen kann, hatte sie gesagt. Damals hat er sich total darüber gefreut, sie auf seinen Schoß gezogen. Unbekümmert waren sie, hatten gekichert und herumgealbert.
‚Du hast den Raum mit Sonne geflutet, hast jeden Verdruss ins Gegenteil verkehrt’*. Diese Zeile aus einem alten Song kommt ihm in den Sinn. Maria hat nicht nur einen Raum, sondern sein ganzes Leben hell gemacht. Eben mit Sonne geflutet. Durch ihre Lebenslust und ihre Art, mit den Dingen umzugehen.

Jetzt sitzt er nur noch herum und wartet. Darauf, dass die Zeit vergeht. ‚Wenigstens komme ich mit jeder vergangenen Minute dem Ende etwas näher’, denkt er. ‚Ich muss es nur irgendwie aushalten.’
© by Angie

*Gemeint ist der Song „Der Weg“ von Herbert Grönemeyer.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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