Walter Strasser

Magische Hände

 

 
 

Magische Hände

Ich versuche mich an den Namen der Blume zu erinnern, die wir Kinder immer nur als „Pusteblume“ bezeichnet hatten. Es muss wohl der Löwenzahn sein. Der Löwenzahn kam in jedem Frühjahr. Die Pflanze fand jedoch keinen großen Zuspruch von uns Kindern, solange sie noch schön frisch und gelb erstrahlte. Erst wenn die Blume am Verblühen war und ihre haarigen Flugschirme gebildet hatte, strömten wir wie die Bienen auf der Suche nach Nektar auf die Wiesen. Der Wind und unser Atem trieb die weißen Schirmflieger über die grünen Felder und gab uns allen das Gefühl von warmem Schnee.

 

Irgendwie hatte meine Mutter schon recht, wenn sie mir ständig vorwarf, ich sei so schrecklich unflexibel – „ziemlich fuckinscheiß unflexibel“, um es in ihren Worten auszudrücken.
Schon, als ich noch ein kleines Kind war, hatte sie mir ständig eingebläut, das Leben sei kein Honigschlecken und jemand, der sich nicht mit dem Wind zu biegen vermag, würde wohl unweigerlich im nächsten Sturm zerbrechen.
Ich spreche nicht gerne über meine Mutter. Sie ist tot. Mit 32 Jahren an „fuckinscheiß Krebs“ gestorben. Na ja, sie war Alkoholikerin und der „fuckinscheiß Krebs“ hatte bei ihr leichtes Spiel. Die Leber, der Magen, zum Schluss der gesamte Innenkörper, so durchlöchert und zerfressen von Metastasen, dass ihr auch die `stärksten Medikamente kaum noch richtig Linderung verschaffen konnten. An manchen Tagen, wenn ich zu ihr ans Bett kam, schrie sie sich nur noch ihre Seele (sofern sie denn eine hatte) aus dem Leib und verlor dabei schön langsam die Melodie ihrer Stimme (aber nicht ihre Ausdrucksweise). Am Ende krächzte sie nur noch gequält.
„Sag dieser fuckinscheiß Schwester, ich brauch sofort meinen fuckinscheiß Schuss!“ 

In ihren letzten Stunden war ich bei ihr und hielt ihre Hände. Die Haut bereits so spröde und rissig wie ein welkes Blatt. Ich drückte und streichelte diese eigentlich doch noch so jungen zarten Hände, befühlte die Knorpel und Glieder ihrer Finger; ich strich über ihren Handrücken und fühlte die Berge und Täler ihrer zerstochenen Adern. Ich folgte den Linien in ihrer offenen Handfläche. Die Lebenslinie, die zwischen Zeigefinger und Daumen beginnt und sich in einem Halbkreis um den Daumenballen herumschlingt, die Kopflinie, die sich mitten durch die Hand zieht, die Herzlinie, die direkt unter den Fingern entlangläuft – ich kenne alle diese Linien beim Namen, weiß aber nicht um ihre (so völlig belanglose) Bedeutung.
In den gesamten, unendlich langen Stunden an ihrer Seite gab es immer und immer nur einen einzigen Gedanken. Bohrend, zerrend, reißend war er da drin in meinem Kopf – warum kann ich sie nicht heilen? Warum kann ich sie bloß nicht gesund machen, mit meinen Händen? Ich habe doch magische Hände – oder nicht?

Ich bewohne ein kleines Apartment im dritten Stock eines bereits etwas baufälligen Mehrfamilienhauses Kreuzung Nussdorferstraße/Moosstraße. Manchmal, wenn ich nachts wieder einmal nicht schlafen kann, sitze ich stundenlang an meinem kleinen Fenster, um die Schaltintervalle der Ampellichter zu beobachten. Das Blinken der Lichter in der Nacht und das Surren und Flüstern der vorbeifahrenden Autos übt eine seltsame Art von Hypnose auf mich aus. Ich verbringe die meiste Zeit des Tages, und natürlich der Nacht, allein in diesem Apartment. Die zwei Zimmer befinden sich direkt unter dem Dach, und so heiß es im Sommer in diesen Räumen ist, so kalt ist es im Winter. Die winzig kleinen Fenster schaffen an heißen Tagen keinen richtigen Durchzug, und bei Kälte werden die ständig rauschenden Heizkörper bestenfalls lauwarm und sind so gut wie nutzlos.
An Sommertagen verbringe ich meine Zeit am Leopoldskroner Weiher. Eine idyllische Oase mit Schilf und feuchten Wiesen, aber leider auch mit viel zu vielen Menschen in ständiger Bewegung. 

Ich bin kein sehr gesprächiger Mensch und auch mit meinen, zumeist männlichen, Kunden vollführe ich den Akt ohne Konversation.
Um an meiner ganz eigenen Gewissheit nicht zu verzweifeln suche ich ständig das Leben der Natur. Ich schlendere, so oft es geht, durch den Park und meide dabei die öffentlichen Wege. Ich liebe Bäume.
Liebe sie in ihrer standhaften Eigensinnigkeit und bewundere den Stolz, den sie verkörpern. Kein Wind schafft es, sie so einfach zu zerbrechen – und nicht das schärfste Messer, das Wunden tief und schmerzhaft in ihr Inneres reißen kann, würde sie je zum Klagen bringen. Bäume behalten stets ihre Würde – und wenn sie fallen, tun sie dies in erschreckender Anmut.
Heute Nachmittag berührte ich auf einem meiner ziellosen Spaziergänge die feste Rinde eines Lindenbaumes. Ich schaute nach oben in die Wipfel der feinen, steil aufgerichteten Äste. Eine leichte Brise rüttelte an ihnen, und ich konnte bereits den ersten Blütenstand erkennen. Der Baum war kurz vor dem Erwachen. Ich streichelte die braun-graue Rinde mit ihren ausgeprägten und längs verlaufenden Furchen. Das Holz war kalt und meine Finger befühlten die einzelnen rauen Erhebungen. Ich strich mit meinen Fingerspitzen in die dunkleren Vertiefungen, spürte den leichten Moosbefall und die kleinen Löcher, die unzählige Arten von Tieren dem Baum ohne Rücksicht auf sein Befinden zugefügt hatten.
In dieser Berührung fühlte ich eine unbeschreibliche Wonne. Ich konnte es fühlen – mit meinen magischen Händen konnte ich es fühlen, das zufriedene Seufzen des Baumes. 

Meine Welt ist sehr klein. Seit dem Tod meiner Mutter habe ich die Stadt nicht mehr verlassen. Ich bewege mich in einem Kosmos, in dem es nur rückwärts oder seitwärts gibt. Ein Vorwärts existiert für mich schon lange nicht mehr. Aber schuld daran ist nicht der Tod meiner Mutter. Schuld daran ist das Leben meiner Mutter.
„Ein Kind ist genug“, hatte meine Mutter des Öfteren erwähnt. „Und genau betrachtet, schon zu viel.“ 
An meinen Vater habe ich nur noch sehr vage Erinnerungen. Er ist damals einfach viel zu früh aus meinem Leben verschwunden. Wobei „verschwunden“ es wörtlich genau trifft. In einem Comicheft würde man über den Kopf meines Vaters eine Wolkenartige Sprechblase zeichnen und „Puff“ rein schreiben und im nächsten Bild wäre er ganz einfach nicht mehr da – das Bild wäre leer. Ich war acht, als meine Mutter eines Tages zu mir kam und sagte:
„Dein Vater, der Drecks-Lude, ist abgehauen – hat dich und mich einfach so sitzenlassen – na, drauf geschissen.“ 
„Was ist ein Lude, Mama?“
„Halt die Klappe.“

Während meiner Kindheit gab es von da an nur noch selten Zeiten der Ruhe. Das plötzliche Verschwinden (Abtauchen, wie Mutter es nannte) meines Vaters brachte uns damals – verständlicherweise – völlig aus dem Takt. Plötzlich lief alles nicht mehr so richtig rund und die Entscheidung meiner Mutter, so schnell wie möglich in die Stadt zu ziehen, kam wenig überraschend. In der Stadt ist das Leben, meinte sie. 
Am Land ist nur Arsch.
Sehr schnell sollte sich jedoch herausstellen, dass auch das Leben in der Stadt so seine Tücken hatte, mit denen Mutter so gar nicht zurechtkommen wollte. In ihrer Verzweiflung, an den überall lauernden neuen Herausforderungen zu scheitern, verlor sie irgendwann ihre Arbeit in dem Restaurant und begann wie selbstverständlich ihre gesamte Frustration an mir abzureagieren.
„Kannst ab jetzt selber hingehen und Geld heranschaffen“, sagte sie zu mir an jenem Abend. Ich konnte den Alkohol in ihrem Atem riechen. „Es gibt Länder, da ist Kinderarbeit völlig legal, weißt du?“
Von diesem Tag an, mit ihrer ständigen Anwesenheit, gab es fast nur noch Streit. Eine normale Konversation war nicht mehr möglich. Ihr ständig laufender Sprachfluss war gespickt mit Fragen nach dem Warum und Weshalb. Aber welches Kind von neun Jahren hat schon Antworten auf all diese Fragen? Auch wenn ich mich noch so sehr bemühte, ihre Forderungen nach Erklärungen verstummten nie. Meine ständige Angst vor ihr und auch meine eigenen Warum-Fragen an sie produzierten nur neues Schreien und Schimpfen. Ich erkannte schnell: Dieses ständige Warum und Weshalb war nur ihr allein vorbehalten. 

Wie kann man nur von einem Kind verlangen, immer und überall vernünftig zu handeln? Wie kann man die ständige Traurigkeit in seinen Augen übersehen? Wie die unentwegte Suche nach Zärtlichkeit und Geborgenheit so missachten?

 

Kurz nach meinem neunten Geburtstag stand meine Mutter eines Abends in der Tür zu meinem Zimmer. In ein Badetuch gewickelt, lehnte sie da und sagte genervt: „Warum musst du dich immer so krumm machen beim Essen? Ich kann das einfach nicht sehen. Wenn der Krawattenarsch wieder vorbeikommt und dich so sieht, wird das die Aussicht auf deine Einweisung ins Heim nicht gerade verringern.“
„Ich will aber nicht ins Heim!“, entgegnete ich.
Meine Mutter hustete. Geräuschvoll spuckte sie den hochgehusteten Schleim in ein Taschentuch und sagte: „Tja, wer will das schon.“
„Bist du krank?“, fragte ich sie.
„Nur müde … nur fuckinscheiß müde“, antwortete sie. Dann drehte sie sich um und verließ mein Zimmer, wandte sich auf dem Weg aber noch einmal halb mir zu und sagte: „Übrigens, eine Sache noch. Morgen zieht dein zukünftiger neuer Vater bei uns ein.“
Es wäre zwecklos gewesen, ihr nachzulaufen. Trotz meiner jungen Jahre verstand ich das. Es wäre sinnlos gewesen, sie zur Rede zu stellen. Wie sollte ich dies auch tun ohne die von ihr nie akzeptierten Fragen nach warum und weshalb.

Ein Fremder würde also kommen, in unsere Wohnung. Er würde die Rolle des guten Kerls übernehmen. Natürlich hätte ich gerne wieder einen Vater, der sich um mich kümmern würde, mit dem ich sprechen und lachen könnte. Vielleicht würde ich ihn ja mögen?

An dem Tag, als „mein neuer Vater“ bei uns einzog, beendete meine Mutter von einer Minute auf die andere ihr Wüten. Ich versuchte mir darüber klarzuwerden, was das für mich bedeuten würde. War es gut oder schlecht? Ein Funken Hoffnung glomm auf – vielleicht würde ja alles wieder so werden wie früher. Diese Vorstellung gefiel mir sehr. Ich lachte und war richtig guter Laune an diesem ersten Morgen als Sohn eines neuen Vaters.
„Wieso bist du so gut drauf?“, fragte mich meine Mutter. „Bist du etwa der Meinung, du musst jetzt den fröhlichen fuckinscheiß Engel spielen? Aber welche Rolle auch immer du spielen willst – ich werde nicht zulassen, dass du mir wieder einmal alles zerstörst!“
Erst viel später wurde mir bewusst, wie sehr sich meine Mutter ab diesem Tag verändern sollte. Sie wurde immer schweigsamer. Kaum, dass sie noch ein Wort mit mir wechselte. Und diese ständige Stille, dieses gleichgültige Schweigen war für mich viel schmerzvoller, als es ihr ewiges Schimpfen und Schreien von früher je hätte sein können.
Natürlich brauchten mein neuer Vater und ich erst einmal eine Weile, um uns aneinander zu gewöhnen, aber schon bald kehrte so etwas wie Normalität bei uns ein.

Eines Morgens, als wir alle drei zusammen am Frühstückstisch saßen, hielt mein neuer Vater plötzlich für einen kurzen Moment inne. Offensichtlich dachte er über irgendetwas äußerst Wichtiges nach. Er schmatzte zweimal laut und schniefte dann durch die Nase. Damit gelang es ihm natürlich ganz einfach, unser beider Blicke auf sich zu ziehen.
„Das hier ist mit Sicherheit der widerlichste Kaffee in ganz Westeuropa bis rüber nach Texas“, sagte er und spuckte das braune Getränk zurück in die Tasse. Er verzog angewidert sein Gesicht, lächelte mir dabei aber gleichzeitig zu und meinte: „Komm, lass uns abhauen. Wir besorgen uns jetzt mal ein richtiges Männerfrühstück!“ Ich hatte ein gutes Gefühl, doch während ich mir eine warme Jacke aus meinem Zimmer holte, konnte ich hören, wie meine Mutter zu ihm sagte: „Was soll der fuckinscheiß?“
„Ach komm, ich versuch doch nur, ihn näher kennenzulernen.“
Draußen auf der Straße nahm er meine Hand in seine. Er drückte ziemlich fest zu – wie Erwachsene das oft so tun. Ich sah zu ihm hoch. Er bemerkte es und zwinkerte mir kurz zu. Er war so groß, wie sich ein kleines Kind den größten Menschen auf dieser Welt vorstellen würde. Sein langes, silbergraues Haar hatte er zu einem ständig hin und her schwingenden Zopf zusammengebunden. Der Zopf war ganz seltsam in sich eingedreht und ich musste lachen. Wie bei einem Mädchen, dachte ich.
„Tja, da sind wir nun, wir zwei“, meinte er. „Zwei Männer, die sich vor nichts fürchten – hab ich recht?“
Und ob er recht hatte.

An jenem Morgen, bei unserem ersten gemeinsamen Männerspaziergang sagte er, ich müsse nicht Vater zu ihm sagen, oder Papa. Ich dürfe Daddy zu ihm sagen - Daddy cool.

Wir sind Freunde. Das sind wir doch? Freunde. Alle meine Freunde nennen mich Daddy cool. So ist es nur recht und billig, dass auch du mich so nennst - als Freund - nicht als Vater!“

Ich fühlte es. Meine Mutter kam sich sehr oft überflüssig und nutzlos vor, wenn Daddy Cool und ich zusammen waren. Was ich noch fühlte, war – Zorn. Denn Daddy Cool zeigte mir, mit gewinnenden Lächeln, den Spaß des Alltags. Er brachte mich zur Schule, scherzte mit meinen Mitschülern und Lehrern, und am Wochenende begleitete er mich ins Kino.

Heute kann ich mich, auch unter größter Anstrengung, nicht mehr an Einzelheiten dieser Lebensphase erinnern. Ein Umstand, den ich meinem Unterbewusstsein zu verdanken habe. An gewisse Dinge erinnerte ich mich jedoch sehr wohl. Zum Beispiel an jenen Abend, als er mich, als den hübschesten Jungen den er je gesehen hat, bezeichnete.
„Und erst dein flauschig fluffiger Pelz da auf deinem Kopf“, sagte er und fuhr mit seiner Hand wild durch meine Haare. Seine Hand war groß, fest und schwielig, und das wilde Zerren an meinem Kopf trieb mir die Tränen in die Augen.
„So fein und weich“, flüsterte Daddy Cool mir ins Ohr, so dass meine Mutter, die neben uns saß, es nicht hören konnte.
„Ich denke, ich werde dich ab heute Fluffi nennen“, sagte er laut und lachte.
„Mein Gott, er ist doch kein Hund“, meinte meine Mutter.
„Aber er ist so süß wie einer. Kannst du auch bellen? Fluffi, komm – mach mal wuff, wuff!“ Und er lachte und konnte sich gar nicht mehr einkriegen. Meine Mutter saß da und machte, was sie sich offenbar geschworen hatte – sie schwieg.
„Fluffi, glaub’s oder glaub’s nicht, aber ich hab ’ne Kröte verschluckt“, sagte er eines Abends zu mir. Sogar für mich als Kind klang das sehr unwahrscheinlich.
„Eine ziemlich stattliche Kröte“, fuhr er fort. „Willst du sie mal hören? Sie sitzt jetzt in meinem Bauch und quakt und quakt und quakt. Ich werd’ noch ganz verrückt von diesem ewigen Gequake!“
Auch wenn es sehr schwer zu glauben war, wollte ich doch diese vermeintliche Kröte da in seinem Bauch sehr gerne mal quaken hören. Ich legte mein Ohr auf seinen nackten, muskulösen Bauch und versuchte angestrengt zu lauschen, aber außer einem leisen Grummeln war da nichts zu hören.
„Hörst du sie?“, flüsterte mein neuer Vater und streichelte mir dabei ganz zart über den Kopf.

 

Wer welche Verantwortung für all das zu tragen hatte, machte mir lange Jahre Kopfzerbrechen. Wer war nun schuld an dem Ganzen? Lange Zeit dachte ich, es sei allein nur meine Schuld gewesen. Eine tiefe Schuld, die mich ständig aufs Neue zwang, zu schweigen, hatte von mir Besitz ergriffen.
Und anstatt zu brüllen vor Angst, zu schreien vor Verzweiflung und zu toben angesichts der maßlosen Scham, die ich jedes Mal empfand, schaffte ich mir gleich von Beginn an meine eigene Möglichkeit zur Flucht.

Ich spürte mehr, als dass ich es hätte hören können. Jemand stand an der Tür zu meinem Zimmer. Ich hörte leises Atmen und ein seltsames Scharren und Wischen und nach einer Weile: „Fluffi … Ich bin’s … Daddy Cool.“ Eine warme Stimme flüsterte durch die Türe. „Es gibt da etwas, das wir zusammen zu Ende bringen müssen – ist das okay?“
Langsam öffnete sich die Türe einen Spalt. Das Licht war aus.
„Hörst du mich, Fluffi? ich bin’s … Daddy Cool.“
Aber Daddy Cool würde nicht einfach so dort stehen. Er würde das Licht anmachen, zu mir kommen und durch meine Haare wuscheln. Er würde sich keinesfalls dort im Schatten versteckt halten. Ich antwortete nicht – stellte mich schlafend. Aber das Flüstern hörte nicht auf.
„Fluffi … Ich bin’s doch nur.“
Furchtbare Angst durchlief meinen ganzen Körper. Dort in der Tür, das war nicht Daddy Cool. Das war nicht mein neuer Vater. Ich wusste sofort, es war der Clown. Es war Pennywise, der bösartige hässliche Clown ,den ich - verbotener weise - aus dem Fernsehen kannte.
Pennywise war so böse, dass er ohne weiteres meinen Kopf hätte abbeißen können. Ich brach in Tränen aus. Der Mann war mir so fremd und er war so groß und mächtig. Er verdeckte den Mond vor der Türe zum Balkon, und das fahle Licht, das ihn umgab, formte ihn zu einem monströsen Schatten. Ich fürchtete mich vor der Fratze, die da im Dunkeln verborgen war. Der Clown dort in der Türe flüsterte, und ich hoffte in diesem Moment, dieses Flüstern wäre laut genug, dass meine Mutter es drüben, in ihrem Zimmer, hören könnte. Und dann würde sie kommen, um mir zu helfen. Aber sie kam nicht. 
Sie kam nie.
Das Flüstern drang nie bis zu ihr durch.

 

Das weiße Gesicht mit der blutroten, runden Nase beugte sich über mich und Pennywise flüsterte in mein Ohr. Ich konnte seinen stinkenden Atem an meinem Gesicht fühlen. Ich wusste, sollte ich mich widersetzen oder gar schreien, würde er mich mit seinen scharfen, gelben Zähnen in tausend Teile zerfetzen.
„Hey Fluffi“, flüsterte er. „Soll ich dir was zeigen? Wir sind doch drauf und dran, uns bestens anzufreunden – hab’ ich nicht recht?“
Ich war starr vor Angst. Und irgendwie schaffte er es, zu mir unter die Decke zu kriechen. Und er flüsterte weiter und immer weiter in mein Ohr. Und zeigte mir, was ich mit meinen Händen an seinem Körper alles vollbringen kann.

 

Heute denke ich oft, meine Mutter hätte es hören können – wenn nicht sogar müssen. In dieser ersten Nacht hatte sie das Ganze möglicherweise verschlafen. Vielleicht hörte sie es in der zweiten Nacht, hatte aber Mühe, es zu glauben. Wahrscheinlich überschritt es in der dritten Nacht ihren Verstand, und möglich, dass sie in der vierten Nacht an allem zweifelte. Aber ganz sicher war, ab der fünften Nacht verschwendete sie nie wieder einen Gedanken daran.
 

Pennywise kam so oft zu mir, dass ich es nicht mehr zählen konnte. Und jedes Mal, wenn der böse Clown flüsternd zu mir ins Bett kroch und zuvor noch an den Eisenstreben meines Bettes seine Zähne scharf wetzte, schloss ich ganz fest meine Augen und begann mit meiner Flucht – meiner Flucht an diesen einen ganz bestimmten Ort. 
Dorthin, wo es in unserer Nachbarschaft noch nach frisch gemähtem Gras duftete. Dorthin, wo wir immer den frischen Sauerampfer aus den feuchten Wiesen gezupft und so lange darauf herumgekaut hatten, bis es in unseren Mägen plötzlich ganz mächtig zu knurren und zu rumpeln begonnen hatte. Manchmal ging da auch was in die Hose. Aber was machte das schon. Hin und wieder konnten sich Sechsjährige das wohl noch erlauben.
Die Besuche vom Clown und die Flucht zu diesem anderen Ort wurden sehr schnell zum unausweichlichen Bestandteil meiner Kindheitsnächte.
„Fluffi, du hast so zarte Hände, beinahe magisch. Du hast richtig magische Hände.“
Jeden Abend verabschiedete sich der Clown von mir mit seinem fürchterlichen Lächeln und diesen Worten, die sich in meinen Kopf hineinfraßen wie Würmer in den Kadaver eines toten Tieres. 

 

Immer, wenn Daddy Cool mich sah, lachte er, scherzte und zauste meine Haare. Aber irgendwie wurde sein Lachen mit der Zeit immer seltener. Eines Tages hörte er ganz damit auf.
„Also ganz ehrlich“, sagte er zu meiner Mutter. „Ich habe nicht vor, hier herumzusitzen und mit dir über irgendwelche Haarspaltereien zu diskutieren.“ Und zu mir sagte er: „Nicht wahr, Fluffi? Ich und du, wir zwei beantragen eine sofortige Auflösung unserer Lakaien-Vereinbarung.“
„Genau, ich unterstütze den Antrag“, sagte ich und verstand überhaupt nicht, um was es ging.
Meine Mutter warf mir einen bösen Blick zu, schwieg – wie üblich.
Die letzten Wochen hatte sie sich äußerlich sehr verändert. Sie hatte abgenommen und sah blass und sehr schwach aus. Einmal konnte ich hören, wie sie zu Daddy Cool sagte: „Die Medikamente haben eine äußerst durchschlagende Wirkung. Ich bin müde wie ein fuckinscheiß Boxer nach fünfzehn Runden.“
„Zwölf. Es gibt nur zwölf Runden beim Boxen“, sagte Daddy Cool - ganz cool – wie immer.
„Du fuckinscheiß Wichtigtuer“, meinte meine Mutter, und ich konnte hören, wie sie weinte. „Ich werde sterben“, sagte sie.

Veränderungen … Wir alle drei waren drauf und dran, uns zu verändern. Bei meiner Mutter war es zumindest körperlich gesehen am offensichtlichsten. Daddy Cool … nun, er war Daddy Cool und ich konnte nicht genau erkennen, in welcher Form er sich veränderte, aber er war viel ungeduldiger geworden und es fehlte plötzlich die lockere Leichtigkeit, die wir bis zu diesem Zeitpunkt im gegenseitigen Umgang immer gehabt hatten.
Irgendwie konnte ich es fühlen. Daddy Cool – mein Vater – mein Freund - war auf dem besten Wege, mich nicht mehr zu mögen.
Mit einem äußerst zwiespältigen Gefühl registrierte ich natürlich auch meine eigenen Veränderungen. Zuerst die körperlichen – Haare, die plötzlich an äußerst pikanten Stellen meines Körpers zu sprießen begannen, und meine Stimme, die langsam ihren kindlich-klaren Klang verlor. Und innerlich das ständige Bewusstsein meiner geringen Wertigkeit.
„Grundgütiger Gott“, hatte Daddy Cool zu meiner Mutter gesagt. „Da hat wohl bei jemandem die Pubertät in vollster Härte zugeschlagen.“ Es hätte lustig klingen sollen, war aber, wie ich später erst erkennen sollte, ein trauriger Nachruf auf eine jahrelang immer wieder an mir verübten schrecklichen Tat.
Auch Pennywise der Clown schien sich zu verändern. Denn das Flüstern an meinem Ohr wurde mit der Zeit immer ungeduldiger und bestimmender. Ein schrecklicher Verdacht keimte in mir hoch und schien sich dort langsam zu entfalten: Daddy Cool und Pennywise … Daddy Cool und Pennywise … Daddy Cool der Clown …

Jede Nacht versuchte ich nun den Clown zu überlisten. Ich platzierte meine Spielkiste auf dem Weg von der Tür zu meinem Bett in der Hoffnung, der Clown würde darüber stolpern und sich so schwer verletzen, dass er nicht mehr zu mir kommen konnte. Ich besaß ein altes Holzschwert, dass ich mit in mein Bett nahm, in der Hoffnung, wenigstens ein einziges Mal einen gezielten Schlag damit anbringen zu können.
Aber Pennywise war schlau. Mit einem heftigen Tritt beförderte er die Kiste zurück an ihren Platz, und das rote Holzschwert mit dem silbernen Griff konnte er mir mit zwei Fingern entwenden und gegen die Wand schleudern.
„Fluffi, ich zweifele nicht daran, dass du immer noch gerne mit dem Zeugs hier spielst, aber alles zu seiner Zeit“, sagte der Clown. „Und weißt du was, Fluffi? Ich sollte richtig böse auf dich sein. In letzter Zeit ist mir aufgefallen, dass deine Hände nicht mehr so zart sind, wie sie es einmal waren. Fluffi, sie sind viel zu fest und zu rau!“ Er ermahnte mich. „Achte auf deine Hände. Pflege sie und halte sie schön zart. Hände, wie du sie hast, müssen einfach richtig gepflegt werden. Ansonsten habe ich direkt Angst, du könntest deine magischen Hände eines Tages ganz plötzlich verlieren.“
Ich wusste nicht genau, was er mit „verlieren“ meinte, und begann zu weinen.

 

Kurz vor meinem zwölften Geburtstag war Daddy Cool weg. Meine Mutter war nur noch ein Schatten ihrer selbst.
„Jetzt ist es vorbei“, sagte sie eines Morgens zu mir. „Für dich ist es vorbei und für mich bald auch. Daddy Cool ist weg.“ Sie weinte und schleppte sich zurück ins Bett.
Er ist weg, dachte ich. Daddy Cool … Er ist weggegangen.
Daddy Cool war weg?
Aber irgendwie war dies einerlei.
Daddy Cool war vielleicht weg, aber Pennywise war es nicht. Pennywise würde nie weg sein. In meinem Kopf würde er weiterhin jede Nacht zu mir ins Bett kommen und voller Gier nach meinen magischen Händen verlangen. Jede Nacht!

 

Jetzt sitze ich am Fenster meines Apartments und warte auf meinen nächsten Kunden. In dieser schrecklichen, mich ständig begleitender, Manie pflege ich meine Hände. Denn der schreckliche Clown hatte recht: Magische Hände bedürfen einer speziellen Behandlung. 

Ich beginne immer mit den Nägeln: Am Anfang jeder Pflege steht die Desinfektion. Dabei wird auf den Nagel ein Nagelöl aufgetragen und sanft einmassiert. Hinterher die Hände für einige Minuten in ein warmes, mit pH-neutraler Seife versetztes Wasserbad. Zum abtrockenen tupfe ich meine Hände vorsichtig ab. Ich tupfe nur sanft - bloß nicht rubbeln. Mit einem Ohropax schiebe ich die weiche Nagelhaut nach hinten. Für den etwas festeren Teil verwende ich ein kleines Holzstäbchen. Nach Bedarf nehme ich auch eine kleine Nagelhautzange zum Abzupfen. Sobald dies alles erledigt ist, beginne ich mit dem Feilen. Ich verwende immer eine feine Sandblattfeile – nie eine Feile mit geriffelter Metallfläche. Diese Feilen sind nicht abrasiv genug und glätten den Nagel deshalb zu energisch. Der Nagel kann dann ganz leicht splittern. Tagsüber verwende ich cremes mit Zitronenverbene und Avocadobutter, weil sie schnell einziehen und angenehm duften. Für die Nacht trage ich eine reichhaltige Handcreme auf, die zwar langsamer einzieht, aber die Hände besser pflegt und schützt. Um die Pflegewirkung zu verstärken, ziehe ich Baumwollhandschuhe über die eingecremten Hände.

 Zwischendurch sehe ich immer wieder nach unten auf die Straße, beobachte das Treiben und warte ...

 

Ich lehne mich an das Fenster, so dass mein Gesicht das kalte Glas berührt. Es ist so wohltuend, nur dasitzen zu können. Ich schließe die Augen und sehne mich nach etwas, von dem ich weiß, dass es schon lange nicht mehr existiert. Und in dieser Sehnsucht kehre ich zurück an diesen einen anderen Ort und ich versuche mich an den Namen der Blume zu erinnern, welche wir Kinder immer nur als „Pusteblume“ bezeichnet hatten. Es muss wohl der Löwenzahn sein, denke ich. Der Löwenzahn kam in jedem Frühjahr. Die Pflanze fand jedoch keinen großen Zuspruch von uns Kindern, solange sie noch schön frisch und gelb erstrahlte. Erst wenn die Blume am Verblühen war und ihre haarigen Flugschirme gebildet hatte, strömten wir wie die Bienen auf der Suche nach Nektar auf die Wiesen. Der Wind und unser Atem trieb die weißen Schirmflieger über die grünen Felder und gab uns Kindern immer das Gefühl von warmem Schnee.

 

 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Walter Strasser).
Der Beitrag wurde von Walter Strasser auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.09.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Walter Strasser als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Adrian-Hass Und Liebe Sind Fuer Die Ewigkeit von Savah M. Webber



Die Welt des Vampirs Adrian – eingebunden in Regeln und Vorschriften einer höheren Macht, der auch er sich unterwerfen muss – ist bestimmt durch ein Gefühl, welches diesen Vampir die ganzen Jahrhunderte existieren liess: Hass. Durch die junge Journalistin Liz Whiteman, lernte dieser unbeugsame Clanführer nun auch ein anderes Gefühl kennen, dem er sich bis dahin erfolgreich verschlossen hatte: Liebe. Doch durch widrige Umstände trennten sich ihre Wege wieder, bis ein Mord sie erneut zusammenführte. Aber Adrian, Earl of Shendwood, musste sich auf ein grösseres Problem konzentrieren: Die Vernichtung seines Meisters und Vampir Damian, der ihn vor fast 1.000 Jahren gegen seinen eigenen Willen zum Vampir machte. Zögerlich begann sich Adrian mit diesem Gedanken anzufreunden, wurde aber durch Damian immer weiter dazu getrieben, dass es zu einer letztendlichen Konfrontation zwischen beiden hinauslaufen würde, wo selbst in dieser Nacht eine Vampyress, namens Shana, bittere Tränen weinte…

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Drama" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Walter Strasser

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Erbärmliche Gesichter von Walter Strasser (Drama)
Keine hundert Jahre für Dornröschen! von Jürgen Berndt-Lüders (Drama)
String „Z” – ein Königreich für ein Multiuniversum ! von Egbert Schmitt (Surrealismus)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen