"Hat man Ihnen die Schuhe geklaut?", fragte ich.
Es dauerte eine Weile, dann drehte er seinen Kopf in meine Richtung. Er nahm einen großen Schluck Dosenbier. Dann fragte er: "Sprechen Sie mit mir?"
"Sonst ist ja niemand hier."
Er hatte seinen Blick wieder von mir abgewandt, trank weiter sein Bier, schenkte mir keine weitere Beachtung.
Die Strassenbahn Haltestelle hatte kein Wartehäuschen. Nur eine Bank, auf der ich hier im Nieselregen wartete. Ich war unschlüssig, ob ich Linie 9 zur Uni nehmen sollte oder die 4 zu mir nach Hause. Die Nacht hatte ich mit Freunden durchgesoffen, dort auch übernachtet. Die ersten zwei Vorlesungen hatte ich ohnehin verpasst.
Die Haltestelle lag in einem der schäbigsten Stadtteile. Ausgeblichene Fassaden, abbröckelnder Putz, Graffitti Schmierereien, Müll in den Hauseingängen.
Der Penner, der da neben mir stand, passte ins Straßenbild. Er stand in einer großen Pfütze auf Socken mit einer 1 Liter Faxe Dose in der Hand.
Ich fragte nochmal: "Warum haben Sie keine Schuhe?"
"Was geht Dich das an?"
"Vielleicht will ich Dir ja welche schenken."
"So siehst Du aus, auf einen wie Dich hab ich gewartet, geh mir nicht auf den Keks."
Linie 9 kam. Ich stieg nicht ein. Er schnorrte bei den aussteigenden Fahrgästen. "Bitte etwas Kleingeld". "Danke auch". "Ein paar Cent". "Haben Sie vielleicht..."
Er setzte sich neben mich auch die Bank, nahm einen letzten großen Schluck aus der Dose und warf sie hinter sich.
"Da ist Pfand drauf.", sage ich.
"Drauf geschissen."
Kurz schweigen wir nebeneinander her. Dann frage ich: "Warum schnorrst Du mich nicht an?"
Er lacht. Linie 4 lass ich vorbei fahren. Er sammelt einiges Geld mit seiner Bettelei ein und kommt zurück auf die Bank. Aus den Münzen in seiner Hand sucht er 5 Euro heraus, drück sie mir in die Hand.
"Da die Strasse runter, 200 Meter, ist ein Kiosk. Hol mal Bier. Und Jägermeister. Ich kann hier nicht weg, gleich kommt wieder die 4 in Gegenrichtung."
Am Kiosk gab es auch belegte Brötchen. Ein bisschen Geld hatte ich selbst noch einstecken. Also kaufte ich auch die.
Viel besser als das blöde Seminar, dachte ich. Bier und Schnaps vertrieben den Kater. Er sagte: "Gute Idee die Brötchen. Hast Du was zu rauchen?"
An dem Vormittag bin ich noch einige Male zum Kiosk gelaufen. Am frühen Nachmittag so gegen zwei sagte er: "Ich mach jetzt Feierabend, treffe mich mit Kumpels am Bahnhof. Willst Du mit?"
Aus einem naheliegenden Gebüsch holte er ein paar Schuhe hervor. Darin trockene Socken.
"Du betrügst die Leute.", sage ich.
"Drauf geschissen.", sagt er.
Hab ihn nie wieder gesehen. Vielleicht ist er in diesem Winter erfroren. Oder in einer anderen Stadt. Ich glaube, er ist einfach in eine andere, bessere Stadt gezogen.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.09.2018.
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