Heinz-Walter Hoetter

Besuch der Seelen

Am frühen Abend wehte ein lauer Wind durch das offene Wohnzimmerfenster des Malermeisters Herrn Anton Kollwitz, das er absichtlich etwas offen gelassen hatte, um frische Luft reinzulassen. Eigentlich wollte er sich nur ein bisschen ausruhen und war, ganz entgegen seinen eigentlichen Absichten, sitzend im weichen Wohnzimmersessel müde eingenickt.

 

In der Küche stand derweil ein fertiges Abendessen auf dem Tisch, das der alte Kollwitz für sich selbst zubereitet hatte. Das machte er immer so, wenn er spät von der Arbeit nach Hause kam, denn seit Ende des Krieges lebte der Malermeister allein. Seine Frau wurde bei einem Bombenangriff der Alliierten 1945 in Berlin getötet, als sie zu Besuch bei ihren Eltern war, um einige wichtige Erbschaftsangelegenheiten zu klären. Nur einen Tag später wäre sie wieder abgereist, aber das Schicksal hat es offenbar anders mit ihr gemeint.

 

Da saß er nun schlafend in seinem gemütlichen Sessel, der Malermeister Kollwitz, und schnarchte selbstzufrieden vor sich hin. Sein grau behaarter Kopf war seitlich auf ein kleines Wollkissen gefallen, das er sich vorsichtshalber dort hin gelegt hatte. Draußen war es mittlerweile richtig dunkel geworden und der Nachtwind blies jetzt etwas heftiger. Die weiße Gardine vor dem leicht geöffneten Wohnzimmerfenster wurde bei jedem Windstoß wie eine flatternde Fahne hin und her bewegt.

 

Plötzlich rief eine sanfte Mädchenstimme leise nach dem immer noch schlafenden Anton Kollwitz, erst einmal, dann ein zweites mal. Noch ganz schlaftrunken öffnete der alte Mann seine Augen, rührte sich aber nicht von der Stelle, weil er dachte, er hätte vielleicht alles nur geträumt.

 

Siehst du sie?“ flüsterte die verhaltene Stimme abermals ganz sanft, gerade so, als würde sie aus einem schwach aufgedrehten Lautsprecher kommen.

 

Verwundert hob Malermeister Kollwitz nun doch ein wenig den Kopf und blickte in seinem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer herum, sah nach allen Seiten und fragte sich dabei gleichzeitig, ob sich vielleicht jemand mit ihm nur einen üblen Scherz erlauben würde.

 

Wieder diese Stimme.

 

Sie wollen dich besuchen..., ja, dich! Du hast sie ja schon immer sehen wollen – oder etwa nicht?“

 

Anton Kollwitz wehrte die frei im Raum stehende Frage mit einer symbolisch ablehnenden Handbewegung mürrisch ab, griff sich schließlich mit beiden Händen genervt an den Kopf, da er überhaupt nicht wusste, was hier in seiner Wohnung eigentlich genau vor sich ging. Nur widerwillig verließ er seinen gemütlichen Sessel, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin und steuerte kurz darauf direkt auf die Küche zu, wo das Abendessen auf ihn wartete. Im gleichen Augenblick sprach diese einfühlsame Mädchenstimme neuerlich zu ihm.

 

So warte doch!“ sagte sie mit einer gewissen Bestimmtheit.

 

Der alte Kollwitz spürte, wie ein kalter Windhauch über seinen Nacken streifte. Vor lauter Schreck drehte er sich auf der Stelle vor dem Sessel herum und blickte unvermittelt in die weit geöffneten Augen eines jungen Mädchens, das in einer Art Anstaltskleidung auf einmal direkt vor ihm stand. Ihre dunklen Haare waren offenbar unfachmännisch geschoren worden und so kurz, dass an einigen Stellen die nackte Kopfhaut durchschimmerte.

 

Wie sind sie hier in meine Wohnung gekommen? – Etwa durchs Fenster?“ fragte der Malermeister verblüfft das junge Mädchen und trat dabei unwillkürlich einen kleinen Schritt zurück, weil er die Befürchtung hegte, dass es sich bei ihr wohlmöglich um eine Einbrecherin handeln könnte.

 

Das Mädchen bemerkte aber sofort die misstrauische Zurückhaltung des alten Mannes und sprach daher noch besänftigender auf ihn ein.

 

Siehst du sie nicht, die vielen Menschen um dich herum? Schau doch nur, wie freundlich sie dich alle ansehen! Sie tun dir nichts und sind völlig friedlich!“ hörte er das Mädchen sagen.

 

Für einen Augenblick zögerte Herr Kollwitz, ließ aber dann doch seinen Blick aufmerksam im Wohnzimmer herumkreisen.

 

Und dann sah der alte Malermeister auf einmal tatsächlich die vielen ausgehungerten Männer, Frauen und Kinder, die langsam und stumm wie aus dem Nichts in ihrer verdreckten Sträflingsbekleidung einer nach dem anderen in sein Wohnzimmer traten, bis sie schließlich einen geschlossenen Kreis um ihn herum gebildet hatten.

 

Die ganze Szene machte auf Anton Kollwitz einen ziemlich grauenvollen Eindruck. Er glaubte sich in einem Albtraum zuhause. Panik stieg langsam in ihm hoch, der Angstschweiß perlte ihm über seine faltige Stirn und schon dachte er ans Weglaufen. Er wollte diesen unheimlichen Ort so schnell wie möglich verlassen, von dem er glaubte, dass es sich hier nicht mehr um sein Wohnzimmer handeln könne.

 

Das junge Mädchen griff plötzlich nach der zitternden Hand des Malermeisters und sagte in einem beruhigenden Tonfall zu ihm: „Hab’ keine Angst, wir tun dir nichts! – Wir nicht!“

 

Dann fing sie an zu reden und ließ sich nicht mehr unterbrechen.

 

Wir kennen dich! In den vielen zurück liegenden Jahren hast du uns immer und immer wieder im KZ-Dachau besucht. Du bist an den Ort unseres Leidens zurückgekehrt. – Wir haben dich jedenfalls nicht vergessen, denn du warst, sehr zu unserer Überraschung, jedes Mal sehr traurig gewesen. Dann hast du lange still für dich bitterlich geweint, oft an der Stelle jenes Exerzierplatzes, wo uns die SS-Aufseher bei Wind und Wetter draußen haben antreten lassen, auch in den kalten Wintern. Viele von uns sind dabei umgekommen und elendig gestorben. Ihre Seelen suchen manchmal diesen unheimlichen Platz im KZ wieder auf, wo sie damals ihre toten Körper verlassen mussten. Sie versammeln sich hier in aller Stille und verfolgen das Kommen und Gehen der Lebenden.“

 

Eine Frau im gestreiften Sträflingsanzug trat hervor und sprach anstelle des jungen Mädchens weiter.

 

Du warst auf einmal mitten unter uns. Wir haben deine vielen Tränen gesehen. Sie tropften in die gleiche Erde, in der auch unser unschuldiges Blut gesickert war. Wir konnten erkennen, dass es ehrliche Tränen der Einsicht deiner Schuld waren, die du auf dich geladen hast. Du sehntest dich nach Vergebung deiner schrecklichen Taten durch uns. Wir haben deine flehentlichen Bitten gehört und uns darüber gefreut. Deine Wandlung hin zum Guten stärkte unsere Liebe zum Menschen und die Bereitschaft zur Vergebung.“

 

Nach diesen Worten schauten alle umstehenden Seelen hinüber zum alten Herrn Kollwitz, dessen faltiges Gesicht von einer Sekunde auf die andere zu einer leichenblassen Maske erstarrt war. Dem Malermeister wurden die Knie weich. Er sackte, ohne auch nur ein Wort über die Lippen zu bringen, zurück in den weichen Sessel, fasste sich mit der rechten Hand plötzlich an die Brust und spürte in der Herzgegend einen stechenden Schmerz. Dann wurde es Dunkel in seinem schwindenden Bewusstsein.

 

Nur ganz schwach, wie aus weiter Ferne, hörte Anton Kollwitz wieder die sanfte Stimme des jungen Mädchens. Sie sprach: „Wir kennen dich, wie du auch uns kennst. Du warst einer der Aufseher im KZ-Dachau. Viel Leid hast du uns seinerzeit angetan! Lass’ uns jedoch nicht mehr davon reden! - Aber du hast deine unmenschlichen Taten in all den zurückliegenden Jahren immer mehr bereut und suchtest die Vergebung deiner Sünden. Deshalb sind wir heute hier, weil wir uns dazu entschlossen haben, deine geläuterte Seele mit ins Paradies zu nehmen, um sie vor der Hölle zu bewahren. – Ja, du bist nur einer von ganz wenigen der damaligen KZ-Aufseher, die wir retten konnten, weil sie sich zu ihren Untaten und zu ihrer schlimmen Schuld bekannt hatten. Das machte sie frei und bereit für die Vergebung.“

 

Nach diesen Worten lösten sich die Seelen der Verstorbenen auf und verschwanden im Nichts.

 

Am nächsten Morgen stand um acht Uhr ein Arbeitskollege vor der Tür des Malermeisters Anton Kollwitz und betätigte unablässig den Klingelknopf. Weil niemand aufmachte, vermutete er, dass seinem Chef irgendwas passiert sein musste und rief daraufhin den zuständigen Hausmeister herbei, der mit einem Nachschlüssel die Wohnungstür öffnete. Als sie im Wohnzimmer nachschauten, fanden sie den alten Herrn Kollwitz tot in seinem Sessel vor. Er saß dort immer noch so, als wäre er gerade eingeschlafen. In seinem Gesicht aber konnte man ein friedliches Lächeln erkennen, als wenn eine bedrückende Last von ihm gefallen wäre.


 

 

Ende

 

©Heinz-Walter Hoetter


 


 


 


 


 

 

 


 


 


 


 


 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.10.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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