Herrmann Schreiber

Kindheitserinnerungen eines alten Mannes

Es war Ende der zwanziger Jahre, als ich zum ersten Mal ein Radio sah. Meine Eltern hatten noch keins, aber ein Bekannter, bei dem wir eingeladen waren, zeigte uns stolz seine Installation: Hochantenne, Empfänger, Trichterlautsprecher.

Der Empfänger war ein Holzkasten. Oben eine Klappe, vorn eine schwarze Frontplatte – das Material nannte man Hartgummi – und zahlreiche Drehknöpfe. Wenn man an dem einen drehte, hörte man nacheinander Leipzig, Berlin, Warschau, Prag und sogar Mailand.

Der neugierige Junge, der ich war, fragte, was da wohl hinter dem Drehknopf sei, in dem Kasten, womit man die Musik oder die Sprache aus den weit entfernten Städten herbeizaubern könne. Der Besitzer des Gerätes öffnete die Klappe des Kastens, hob mich hoch – ich war fünf Jahre alt – und zeigte mir, was er einen Drehkondensator nannte. Wenn er den Drehknopf verstellte, tauchte ein Paket Platten berührungslos in ein anderes ein. Zwischen den Platten, nur Luft. Und mit diesem Ding reiste man sozusagen von Prag nach Mailand? Für mich war das die höchste Stufe der Zauberei.

Heute gibt es sie kaum mehr, die Drehkondensatoren, und Trichterlautsprecher werden wohl seit 80 Jahren nicht mehr gefertigt. Das Internet bietet tausende von Radioprogrammen. Ohne Nebengeräusche. Mit einem Klick ist man von Stockholm nach Buenos Aires gelangt. Auch Zauberei?

*

Etwa zwei Jahre später, ein weiteres, beeindruckendes Erlebnis: Ich sah zu ersten Mal Menschen mit schwarzer Haut. Nicht auf der Straße, das gab es damals noch nicht, aber im Leipziger Zoo. Natürlich nicht in einem Käfig, sondern in einem kleinen Pavillon. Zwei Männer und eine Frau. Man sah nur ihre Oberkörper. Bekleidet waren sie wie bei sich zu Hause, also keine Bekleidung war sichtbar.

Rings herum standen mehr als zwanzig Leute, in gebührendem Abstand. Meist Männer. Und die blickten wie gebannt auf die schwarze Dame. Ich wollte gern verstehen, was es da so Interessantes zu sehen gab. Also lief ich hin, blieb direkt vor der schwarzen Dame stehen. Sie lächelte, streichelte mir den Kopf. Ich war glücklich, stolz, dass ich so etwas Außerordentliches erlebt hatte. Auch meine Mutter, die mich begleitet hatte, sagte jedes Mal, wenn sie unser Erlebnis erzählte: „Und dann hat die schwarze Dame ihm die Haare gestreichelt“.

Heute sieht man schwarze Menschen im Zoo nur als Besucher. Gestreichelt wird da kaum jemand.

*

Im selben Jahr, wieder in Leipzig, noch etwas, was ich zum ersten Mal sah. Gewiss war die Sache schon angekündigt worden, in der Zeitung und im Radio. Aber ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie das gehen sollte. So nahm mich meine Mutter mit, in die Innenstadt, an die Kreuzung zweier belebter Straßen.

An den vier Straßenecken, die diese Kreuzung umgaben, standen auffällig viele Leute und schauten dem Verkehr zu. Und auf die Verkehrsampel, die erste, die man in Leipzig aufgestellt hatte.

Und tatsächlich, wenn die Ampel für die eine Fahrtrichtung rot wurde, hielten die Autos an. Die Kutscher, auf ihren Pferdewagen, riefen „Brrrr“ und zogen die Zügel an, wonach die Pferde stehen blieben. Auch die Fußgänger gehorchten der Verkehrsampel.

Ich wäre gern noch stehen geblieben, aber meine Mutter fand das Schauspiel langweilig. Ich verstand das sehr bald. Jahre später, als die Stoppschilder eingeführt wurden, blieb ich nur kurze Zeit beim ersten stehen, das ich sah. Und wunderte mich kaum, dass die Autos tatsächlich anhielten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 22.10.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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