Matthias Neumann

Der Biblioklast

Schreibe einen Aufsatz über die Wiedervereinigung Deutschlands!

Konrad hatte gar nicht gewusst, dass es jemals eine Teilung gegeben hatte. Das bedeutete: Hausaufgaben! Arbeiten für die Schule in der Freizeit. Für eine Sache, die ohne Umschweife abgehakt und benotet werden würde, bereits beim Lesen des nächsten Aufsatzes schon wieder vergessen, untergegangen im Stapel der Arbeiten aller anderen Schüler. Der ganze Aufwand war von vornherein bedeutungslos, da war sich Konrad sicher. Der Lehrer würde sich auch nicht mehr Mühe beim Kontrollieren geben, als die Schüler beim Schreiben.

Die Anderen schienen kein Problem mit der Aufgabe zu haben. Es war ein Thema, zu dem es eine unübersichtliche Menge an Informationen gab, dank Internet für jeden leicht zugänglich. Es war nur eine Sache von Minuten, ein paar Textstellen zu markieren und zu kopieren. Niemand würde sich je die Mühe machen, die abgegeben Arbeiten daraufhin zu überprüfen.

Für Konrad war alles anders. Seine Eltern verboten ihm den Zugang zu technischen Geräten und deren schädlichem Einfluss auf die geistige Entwicklung eines Kindes. Kein PC, kein Handy, kein Internet. Das bedeutete, er würde alles nachlesen und abschreiben müssen.

Der erste Schritt war, in die Bibliothek zu gehen. Dabei tat er das sowieso sehr oft. Etwas gelesen hatte er dort allerdings noch nie, dafür war das restliche Angebot viel zu verlockend. Es bot ihm Zugang zu Dingen, die sonst unerreichbar waren. Es gab Computer. Nicht nur zum Arbeiten, man konnte sie auch zum Spielen nutzen. Es ließen sich CDs anhören, ohne sie ausleihen zu müssen. Es gab sogar ein erstklassiges Angebot an Mangas. Die waren für Konrads Eltern der Inbegriff allen Übels, einfach nur, weil sie falsch herum gedruckt wurden. Außerdem gab es gemütliche Sitzgelegenheiten und nicht diese grausamen ergonomischen Möbel, die er von zu Hause kannte.

Er verbrachte viel Zeit an diesem Ort, wusste jedoch nicht einmal, wie die Bücher angeordnet waren, wo er überhaupt nach dem benötigten Material suchen sollte. Es war ein verlockender Gedanke, den Aufsatz so zu schreiben wie seine Mitschüler. Er hätte ja einen Computer nutzen können. Aber das Risiko, von den Eltern erwischt zu werden, war ihm zu hoch. Sie hatten ein waches Auge darauf, welche Aufgaben es für die Schule zu machen galt. Sie kontrollierten oft und unangemeldet, aber nicht regelmäßig, um ihn immer im Ungewissen zu lassen. Bei einer Hausarbeit für den nächsten Tag hätte es funktionieren können, aber da der Abgabetermin erst nächste Woche war, mussten sie zwangsläufig davon erfahren. Konrad wusste nicht wie, aber sie hatten ihre Quellen.

Also ging er bei seinem nächsten Besuch an den vertrauten Bereichen vorbei und begab sich zu den Büchern. Fremd und verloren kam er sich dort vor. Solche Dinge hatten für ihn in einer Bibliothek nichts zu suchen. Er erkannte, dass er nachfragen musste. Normalerweise waren immer mehrere Bibliothekare unterwegs, aber ausgerechnet heute war nur Frau Gockel zu sehen. Sie hieß nicht wirklich so, den Namen hatte Konrad ihr gegeben. Ihren richtigen Namen kannte er gar nicht. Er fand nur, dass sie sich so gemein aufführte wie ein Kampfhahn in der Arena. Ihre kurzen Sätze waren von Pausen durchsetzt und wirkten wie ein Gackern auf ihn. Unter ihrer spiegelnden Brille, ragte die dünne Nase hervor wie ein spitzer Schnabel. Außerdem waren ihre Lippen immer knallrot geschminkt.

Entschuldigung“, machte Konrad sich kleinlaut bemerkbar. „Wo finde ich etwas über deutsche Geschichte?“

Sie blickte ihn zwielichtig an, als hätte er nach etwas Verbotenem gefragt und sie erst noch überlegen musste, ob er vertrauenswürdig genug war, um ein dunkles Geschäft abzuschließen.

So, so.“ Pause. „Wir wollen Bücher.“ Pause „Auf einmal.“ Pause. „Wohl für die Schule.“

Konrad verkniff sich eine Bemerkung über königliche Anrede und antworte bloß mit einem kurzen „Ja“.

Sie musterte ihn von oben herab. Wartete sie etwas auf eine Erklärung?

Im Bereich N.“ Pause. „Nummer 410 bis 425.“

Konrad starrte Frau Gockel mit leerem Blick an. Er jedenfalls wartete auf eine Erklärung.

Endlich schien sie zu verstehen. „Vorletztes Regal.“ Pause. „Linke Seite.“

Sein Blick folgte ihrem ausgestreckten Finger. Frau Gockels Erscheinung und ihr Verhalten wirkten auf ihn so unwirklich, dass er an einen Außerirdischen denken musste, der sich als Mensch tarnte, und in seiner Unwissenheit die denkbar verräterischste Verkleidung wählte. Schnell machte er sich davon, bevor sein erkennender Blick sie enttarnte und sie ihn dafür beseitigen musste.

Die besagte Stelle fand er schnell, aber das half ihm auch nicht weiter. Im Gegenteil, er begab sich in die Dimension der Ratlosigkeit. Vor ihm türmten sich Bücher ohne Ende, bildeten mit ihren stabilen Rücken eine unüberwindliche Mauer, hinter der sie ihr Wissen vor jedem Eindringling verbargen. Konrad nahm wahllos einige heraus. Die Texte auf der Rückseite enthielten unzählige unbekannte Begriffe. Wahrscheinlich müsste er, um den Aufsatz zu schreiben, deren Bedeutung in einem ganz anderen Teil der Bibliothek ergründen.

Mutlos blätterte er ein Buch durch. Eng bedruckte Seiten taten sich vor ihm auf. Kleine Buchstaben, in fast absatzloser Formation, bildeten eine unbesiegbare Phalanx. So ging es auf keinen Fall. Wahrscheinlich hätte nicht einmal sein Lehrer etwas damit anfangen können. Sollte es nicht die Aufgabe der Schule sein, Wissen zu vermitteln? Auf diese Weise bringt man den Schülern doch bloß bei, die Regeln zu umgehen. Man fordert es damit geradezu heraus, ermuntert sie noch dazu. Auch in Konrad reifte bereits ein Plan.

Er gab seinen ehrlichen Versuch auf und verließ den Bücherbereich. Stattdessen setzte er sich an einen freien PC und erledigte die Aufgabe, wie er es von Anfang an hätte tun sollen. Nach einer halben Stunde war ein Aufsatz aus verschiedenen Fundstücken aus dem Internet zusammengeschustert, der allen Anforderungen gerecht wurde. Konrad druckte ihn aus und verbarg die Blätter sorgsam zwischen bereits beschriebenen Seiten seiner Schulhefte, um eine spätere Entdeckung durch die Eltern zu vermeiden. Er würde sie bei passender Gelegenheit noch einmal abschreiben und ihnen stolz präsentieren. Zur Tarnung wollte er sich nun noch Material ausleihen, das er zu Hause vorzeigen konnte. Ganz pragmatisch, so wie es ihn die Schule lehrte, wählte er dabei den am wenigsten beschwerlichen Weg. Warum sollte er sich mit den schweren Büchern plagen? Ein paar Zeitschriften taten es auch. Ohne auf den genauen Inhalt zu achten, zog er zwei aus einem Stapel von Geschichtsmagazinen.

Früher musste man alles noch an der Theke am Eingang ausleihen. Die Bibliothekarin legte eine Karte in das geöffnete Buch und hielt beides unter ein Gerät, das Konrad nie verstanden hatte. Er ging davon aus, dass dabei ein Foto gemacht wurde. Inzwischen wurde jedoch das System umgestellt. Nun mussten die Kunden selbst an einen Automaten gehen, sich mit der Ausweiskarte anmelden und die Gegenstände auf eine markierte Fläche legen. Sie wurden registriert, als ausgeliehen markiert und die Diebstahlsicherung deaktiviert, die sonst am Ausgang einen Alarm ausgelöst hätte. Konrad fragte sich, was das Personal mit der zusätzlichen Zeit anfing, da diese Tätigkeit wegfiel. Das wäre doch einmal ein Thema für einen Aufsatz. Was machen eigentlich Bibliothekare?

 

Einen Monat später wusste er es. Ohne Vorwarnung platzte sein Vater ins Zimmer. Er knallte die Tür auf und klatschte ein Blatt Papier auf den Tisch, an dem Konrad saß.

Kannst du mir das erklären?“, brüllte er. „Gehst du immer so mit fremdem Eigentum um?“ Er redete weiter auf Konrad ein, als ob dieser bereits wüsste, worum es eigentlich ging.

Er nahm das Blatt und faltete es auseinander. Es handelte sich um einen Brief. Der Kopf trug den Absender der Stadtbibliothek. Die Tiraden des Vaters auszublendend, überflog er den Text.

Das zuletzt von Ihnen ausgeliehene Exemplar wurde beschädigt zurückgegeben und muss ersetzt werden. Wir stellen Ihnen die anfallenden Kosten in Rechnung.“

Darunter befand sich eine Auflistung, angeführt vom Titel eines der Hefte, die er sich für den Aufsatz ausgeliehen hatte, gefolgt von dem Betrag von 9,90 €.

Bereits das verstand Konrad nicht. Die Ausgabe, um die es ging, war schon mehrere Jahre alt. Auf eBay bekam man so etwas für einen Euro. Doch das war noch nicht alles. Dazu kam ein Betrag von 4,90 € für die Einarbeitung. Machten das die Bibliothekare nicht sowieso? Wurden sie dafür nicht von vornherein bezahlt? Oder hatte dieser eine Auftrag eine Überstunde verursacht?

Außerdem kamen noch 1,90 € Mahngebühren hinzu. Das Porto für einen Brief betrug 70 Cent. Wofür war das restliche Geld? Wie kamen diese Beträge zustande? Wieso die 90 Cent am Ende? Damit es nicht so teuer wirkte?

Konrad wusste sich keinen Rat. Er hatte die Zeitschriften ungelesen zurückgebracht. Sie hatten nicht einmal einen Knick abbekommen. Wie sollte dabei ein Schaden entstanden sein? Irgendetwas musste schief gelaufen sein. Die Rückgabe war ja bereits drei Wochen her. Vielleicht hatte inzwischen jemand das Heft im Haus gelesen, dabei beschädigt und unbemerkt wieder zurückgestellt. Weil Konrad der letzte im System war, hielt man ihn nun für den Verursacher. Was auch geschehen sein mochte, ihm fiel keine Schuld zu. Er hatte alles vorschriftsmäßig ausgebucht, der Bildschirm harte beide Namen grün angezeigt. Dann hatte er sie in das dafür vorgesehene Regal gestellt, damit die Bibliothekare sie wieder an ihren Platz bringen konnten.

Alles war korrekt vonstatten gegangen, er war unschuldig. Der nicht enden wollende Anfall des Vaters zeigte jedoch, dass es sinnlos war, darauf hinzuweisen. Es wäre sogar äußerst unklug, es auszusprechen.

Das bezahlst du ganz allein, von deinem eigenen Geld! Haben wir uns verstanden, mein Freund?“

Wie weit doch Wörter und ihr tatsächlicher Inhalt auseinander gehen können, wunderte sich Konrad. Weder war das eine Frage, noch waren sie Freunde.

Morgen, gleich nach der Schule. Wenn du nicht genug hast, ist das dein Problem. Lass dir etwas einfallen!“

Was für eine dumme Annahme. Wieso sollte Konrad nicht genug Geld haben? Wofür sollte er es ausgeben, schließlich wurde ihm alles verboten. Um die Situation so unbeschadet zu überstehen, tat er das, was erfahrungsgemäß am besten half. Er sah seinen Vater stumm an und setzte ein Gesicht auf, als hörte er gerade eine fremde Sprache und wäre gleichzeitig auch noch taub. Es funktionierte, sein Vater marschierte hinaus und ließ Konrad zurück wie ein ausgesetztes Haustier.

Wir werden noch sehen, ob ich etwas zu bezahlen habe, dachte er sich. Eher noch würde man sich bei ihm entschuldigen müssen, nachdem er die Sache richtig gestellt hatte. Zumindest in der Bibliothek würde das so sein. Sein Vater würde das niemals tun, selbst wenn er im Unrecht war.

 

Konrad ging zur Theke und zeigte den Brief vor. Zum Glück traf er nicht auf Frau Gockel. Die andere Dame war jedoch auch nicht zugänglicher. „Ja?“, fragte sie ratlos, als sie den Brief zu Ende gelesen hatte. Sie blinzelte ein paar Mal langsam, als wollte sie sich vergewissern, nichts übersehen zu haben. Für sie schien alles unmissverständlich klar zu sein.

Konrad baute sich auf. „Ich habe keinen Schaden verursacht.“

Jetzt blinzelte sie auf einmal ganz schnell. „Du willst nicht bezahlen?“ Sie war nicht verärgert, sondern verwundert. So etwas schien es noch nie gegeben zu haben. Konrad nickte standhaft. Nervös griff sie zum Telefon. „Einen Moment bitte.“ Glaubte sie Konrad wollte wegrennen? Kurz darauf sagte sie: „Ich bin an der Rezeption. Es geht um eine Rechnung.“ Geräusche am anderen Ende der Leitung. War das ein Gackern? „Er will nicht bezahlen.“

Konrad kam das Ganze immer unwirklicher vor. Wie es aussah, konnte sie keine Entscheidung treffen. Nicht, weil sie nicht befugt war, sondern weil anscheinend noch nie in so eine Situation geraten war. Wer hätte auch damit rechnen können, dass jemand eine Zahlungsaufforderung zurückwies? Doch Konrad würde das gnadenlos durchziehen. Er witterte sogar einen Betrug. Womöglich besserten sie so ihre Kasse auf.

Da sind wir ja wieder.“ Konrad fuhr zusammen. Hinter ihm stand Frau Gockel. „Nicht genug Geld?“

Warum ging jeder von dieser Annahme aus? Er hatte ja nicht einmal ein Panini-Album. „Ich habe keinen Schaden verursacht“, wiederholte er. Die Blinzlerin hielt sich ganz heraus.

Das Exemplar hatte einen Wasserschaden“, hauchte Frau Gockel kalt. Sie hatte noch nie so langsam und zusammenhängend gesprochen.

Doch Konrad konnte das nicht einschüchtern. Mit diesem Behauptung war er aus dem Schneider. Er hatte es nicht einmal gelesen, also konnte es auch keinen Schaden geben. Ein Wasserschaden hätte nicht einmal unbemerkt entstehen können. Er freute sich schon auf die dümmlichen Gesichter, wenn sie ihren Irrtum zugeben mussten, und widersprach. „Das kann nicht sein!“

Frau Gockel ließ ihn stehen und ging hinter den Tresen. Von einem Wagen nahm sie ein Heft, das ihm bekannt vorkam. Sie öffnete es in der Mitte. Tatsächlich waren die Seiten gewellt und die Farben der Fotos zerlaufen. Stumm hielt sie ihm das Beweisstück unter die Nase.

Aber das war ich nicht.“ Als er es ausgesprochen hatte, fiel Konrad auf, wie dumm es sich anhören musste. Das bekamen sie hier sicherlich von jedem zu hören, besonders vehement von denjenigen, die tatsächlich einen Schaden verursacht hatten. Wie sollte jemand den Unterschied zu einem Unschuldigen erkennen, der die Wahrheit sprach?

Er musste versuchen, es zu erklären. „Ich habe diese Stelle gar nicht gelesen. Ich habe es bloß wegen einem einzigen Artikel ausgeliehen.“ Das musste sie wissen, schließlich hatte er sie nach dem Thema gefragt. „Das war bestimmt schon vorher so und ich habe es nicht bemerkt.“

Frau Gockel hatte auch dafür eine Antwort parat. Sicherlich hatte sie auch diese Ausrede zur Genüge gehört. „Jeder hat die Artikel vor der Ausleihe selbstständig zu überprüfen, darauf wird extra hingewiesen,“ Was für ein langer Satz, ganz ohne Pause. Mit diesen vielen Wörtern fing sie jede Widerrede ein, wie eine Spinne in ihrem Netz. Um alles auch noch einmal zu unterstreichen, streckte sie ihren Arm aus und deutete Richtung Ausleihe. Tatsächlich befanden sich über den Bildschirmen Schilder, auf denen in fetten Buchstaben darauf hingewiesen wurde.

Konrad war entwaffnet. Egal was er vorbrachte, es würde wirkungslos abprallen. Schließlich erkannte er die Aussichtslosigkeit seines Vorhabens und gab jeden weiteren Versuch auf. Ausweglose Situationen kannte er ausgiebig von Erlebnissen mit seinen Eltern. Er würde unweigerlich bezahlen müssen und wollte es nur noch hinter sich bringen.

Frau Gockel hingegen entschied sich dafür, ihn noch ein wenig weiter zu belehren. „Wenn wir bei der Rückgabe auf Schäden hingewiesen werden, ist es etwas anderes. Dann stellen wir nichts in Rechnung, solange es nicht mutwillig geschehen ist.“

Es gab also einen Ausweg, eine Möglichkeit, solche Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Seltsam, dass darauf nicht hingewiesen wurde. Diese Offenbarung wurde den Geschädigten erst mitgeteilt, wenn es bereits zu spät war. War das etwa Absicht? Genoss Frau Gockel diesen Moment?

Konrad verkniff sich jede weitere Bemerkung und zog als Zeichen seiner Kapitulation die Geldbörse. Er zog einen Fünfzig-Euro-Schein hervor. Sollte sie zusehen, wie sie ihn wechselte. Wenigstens einen kleinen Sieg wollte er sich verschaffen.

Wieder hatte er Frau Gockel unterschätzt. „Ich kann keine Rechnung ausstellen, alle Beträge müssen am Automaten bezahlt werden.“

Er kam einfach nicht gegen sie an, sie war ein viel zu erfahrener Gegner. Zerknirscht begab er sich zu dem riesigen Blechkasten mit dem viel zu kleinen Bildschirm. Wieder hielt die Bibliothek eine Schikane bereit. Das Gerät nahm auch Scheine. Das war gut, denn Konrad hatte es tatsächlich nicht kleiner. Allerdings gab es nur Münzen zurück.

Konrad sah sich zu einer umgehenden Zahlung gezwungen. Es musste an diesem Tag geschehen, sein Vater würde ihn sofort darauf ansprechen, wenn er nach Hause kam. Er meldete sich mit seinem Ausweis an. Der fällige Betrag war bereits auf seinem Konto unter offene Rechnungen eingetragen. Er hatte wirklich von Anfang an keine Chance gehabt. Der Schein wurde gierig eingesaugt. Kurz darauf prasselten die Münzen in den Auswurf. Konrad sah sich geniert um, als das nicht enden wollende Geklapper durch den Saal hallte. Die vielen Münzen passten gar nicht in sein Portemonnaie. Es war so angeschwollen, dass es zu groß für die Hosentasche war und er es in die Jacke stecken musste, gefolgt von einer Handvoll loser Geldstücke. Es waren so viele, dass sie bei jeder Bewegung vernehmlich klimperten.

Nachdem das erledigt war, ging er zurück zur Theke. Frau Gockel war inzwischen verschwunden, das gab ihm etwas mehr Selbstvertrauen. „Das Heft.“ Die Blinzlerin sah ihn wieder genauso verstört an wie vorhin. „Ich habe es bezahlt.“

Du willst es mitnehmen?“

Und ob er das wollte. Er konnte zwar nichts damit anfangen, aber er wollte verhindern, dass die Bibliothek nicht doch noch einen Nutzen davon haben konnte, egal wie klein er auch ausfallen mochte. Im Neujahr gab es immer einen Verkauf von alten Zeitschriften, für ein paar Cent pro Stück. Vermutlich wäre sein Exemplar dort gelandet. Das wollte Konrad ihnen nicht gönnen.

Er befürchtete schon, die Blinzlerin würde wieder zum Telefon greifen und es würde gleich in die nächste Runde gehen, aber er bekam, was er verlangte. Frustriert rauschte er nach draußen und kehrte dem Gebäude den Rücken.

Auf dem Weg nach Hause begann er zu überlegen. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder hatte er sich ein bereits beschädigtes Heft ausgeliehen. Daran sollte er selbst Schuld sein, doch das bedeutete, es wurde von den Besuchern verlangt, dass sie jede einzelne Seite durchblätterten, um so einen Fall auszuschließen. Das wurde bestimmt nicht wirklich erwartet, es war nur eine Absicherung, so wie die Aufdrucke auf den Lebensmitteln über mögliche Spuren von Allergenen. Sie wussten in der Bibliothek ganz genau, dass ihr System eine gewaltige Lücke offen ließ. Mit diesem Vorgehen wiesen sie jede Verantwortung von sich. Die Möglichkeit, dass dadurch ein Unschuldiger zu Schaden kommen könnte, was nicht sehr unwahrscheinlich war, blendeten sie dabei aus. Offensichtlich fanden doch Kontrollen statt, sonst hätte man es in seinem Fall nicht bemerkt. Vielleicht geschah das nur in Stichproben, wodurch Konrads Vorgänger nicht belangt wurde.

Daraus ergab sich die zweite Möglichkeit. Jemand hatte das von Konrad bereits zurückgegebene Heft beschädigt und es unbemerkt an seinen Platz zurückgelegt. Der nächste Kunde hatte es bemerkt und gemeldet. Es hatte ihn getroffen, weil er der letzte dokumentierte Leser war. Warum sonst hatte es so lange gedauert, bis der Brief eintraf?

Er hatte das Bedürfnis in dieser Richtung weiter zu forschen, aber er bezweifelte, dass man ihm Auskunft geben würde. Es war sowieso hoffnungslos. Es gab nun einmal für alles Regeln und man musste sie befolgen, ganz egal wie fehlerhaft und unsinnig sie waren. Sie boten Halt, solange man sie ausführte und nicht der Leidtragende war. So stellte es sich Konrad jedenfalls vor. Erlebt hatte er das noch nie, er war für gewöhnlich der Unterlegene, der die Regeln befolgen musste und nicht derjenige, der das Geschehen bestimmte.

 

Und, hast du deinen angerichteten Schaden beglichen?“, bellte der Vater.

Konrad kannte die Redewendung Die Ruhe vor dem Sturm. Er fragte sich, was eigentlich nach dem Sturm kam, denn das war schon der Grundzustand seines Vaters.

Ich habe ihn bezahlt, aber nicht angerichtet.“ Diesen Vorwurf konnte er einfach nicht auf sich sitzen lassen. Sein Vater hatte weder Nutzen noch Schaden von der ganzen Angelegenheit, es gab keinen Grund Konrad zu verurteilen.

Was soll das heißen? Sie werden ja wohl nicht zum Spaß Rechnungen verschicken.“

Konrad hatte sich schon auf die Konfrontation vorbereitet und das Beweisstück bereit gelegt. „Sieh die das einmal an!“ Er schlug die gewellte Seite auf.

Was hast du gemacht? Hast du geglaubt, das bemerkt niemand?“

Konrad konnte es nicht fassen. „Ich war es nicht. Wie hätte ich es überhaupt machen sollen, ich darf ja nichts trinken in meinem Zimmer.“

Willst du jetzt mir die Schuld geben? Überlege dir lieber einmal, was du sagst, mein Freund!“

Konrad verstand nicht, was diese Erwiderung mit dem zu hatte, was er vorher gesagt hatte. Er hatte einen Fehler gemacht und an den Verstand seines Vaters appelliert.

 

In den folgenden Tagen fraß sich der Ärger in seinen Kopf und nistete sich dort ein. Diese schäbige Bibliothek hatte ihm Geld gestohlen. Er hatte keine Wut auf eine bestimmte Person, sondern auf die Einrichtung an sich. Er wollte nie wieder zurück an diesen Ort. Leider musste er sich eingestehen, dass er es nicht schaffen würde fernzubleiben. Das vorhandene Angebot war einfach zu verlockend. Aber er würde sich mit Bestimmtheit nie wieder etwas ausleihen, er würde sie boykottieren. Nur würde das keinen Unterschied machen. Es gab genug Stammkunden, die stapelweise Bücher mitnahmen. Einige trugen sie sogar in Körben zur Ausleihe. Anscheinend waren sie noch nicht beraubt worden.

Als Konrad das nächste Mal den Saal betrat, mit tiefem Groll im Bauch, begab er sich sofort in gewohntes Territorium, weitab der Bücher. Sofort sprang ihm ein neues Konsolenspiel ins Auge. Die Station zum Spielen war frei. Sofort ging er zur Theke der abgesonderten Kinderabteilung und ließ sich einen Controller geben.

Das Spiel war wirklich gut, er konnte sich fallen lassen und vergaß für eine halbe Stunde seinen Frust. Dann wurde plötzlich seinem Vergnügen ein Ende gesetzt. Ein kleiner Junge stellte sich vor den Bildschirm und versperrte die Sicht. „Jetzt bin ich dran“, stellte er sachlich fest. Konrad sah auf die Uhr und stellte verblüfft fest, wie lange er schon gespielt hatte. Er musste seinen Platz tatsächlich räumen, auch dafür gab es wieder eine Regel. Er schaute sich um und erkannte, dass ihn die Bibliothekarin im blick hatte. Unfreiwillig gab er den Stuhl frei.

Wieder zur Untätigkeit gezwungen, gab er sich erneut seinem Ärger hin. Das verlorene Geld nagte immer noch an ihm. Er fühlte sich beraubt und verlangte nach einer Wiedergutmachung. Er würde jedoch nie etwas gleichwertiges zurückbekommen, das war ihm bewusst. Dann wäre es immerhin gerecht, vorsätzlich einen wirklichen Schaden anzurichten, der dem beanstandeten Betrag gleichkam. Es ginge ihm dadurch nicht besser, es wäre keine Entschädigung. Aber wenigstens ein Ausgleich. Schaden gegen Schaden, sie stünden wieder auf einer Stufe.

Die Idee fand er gar nicht schlecht, sie gefiel ihm. Aber konnte er das wirklich wagen? Was wären wohl die Konsequenzen, wenn man ihn dabei ertappte? Andererseits fühlte er sich, als hätte er sowieso nichts mehr zu verlieren. Er fühlte sich nicht nur beraubt, sondern auch gekränkt und seinen Ruf beschädigt. Wenn er nichts tat, würde es ewig an ihm nagen. Vielleicht war das auch die Ursache für die Beschädigung, die ihm zugeschrieben wurde. Möglicherweise hatte ein weiteres Opfer etwas Gerechtigkeit eingefordert und mutwillig Wasser über die Zeitschrift gekippt. Wenn Konrad es nun auch tat und sich der Prozess mit weiteren Geschädigten fortsetzte, würden es vielleicht irgendwann so viele werden, dass man in der Bibliothek endlich ein Einsehen hatte und das System der Ausleihe überarbeitete, um solche Fälle auszuschließen.

Den Gedanken weiter spinnend, streifte Konrad durch die Gänge. Ziellos, sich aber doch immer mehr der Abteilung nähernd, die er eigentlich nie wieder betreten wollte. Unscheinbar zog er seine Kreise und wagte sich immer weiter vor. Je näher er den Büchern kam, um so mehr schienen sie ihn zu locken. In Gedanken spielte er sein weiteres Vorgehen durch. Er würde sich eine Ecke suchen, die schwer einsehbar war und der sich momentan niemand aufhielt. Dort wollte er zur Tat schreiten.

Er hatte schon einen geeigneten Platz erspäht, als ihm doch noch Zweifel kamen. Was hatte er davon? Würde er sich hinterher besser fühlen? Wem schadete er in Wirklichkeit damit? Eher allen Mitgliedern, indem er zur nächsten Beitragserhöhung beitrug.

Ein Geräusch riss ihn aus seinen Überlegungen. Konrad sah zum Verursacher hinüber. Einem Jungen in seinem Alter war beim Herausziehen aus dem Regal ein Buch heruntergefallen. Er hob es auf und stellte es zurück, als plötzlich Frau Gockel fauchend hervorschoss.

Pass doch auf!“, spie sie aus. „Welches war es?“ Sie blickte irritiert umher. „Welches hast du fallen lassen?“

Eingeschüchtert zog der Junge ein Buch heraus. Frau Gockel riss es ihm aus den Händen und beäugte es von allen Seiten. Scheinbar war keine Beschädigung zu erkennen. Doch damit gab sie sich nicht zufrieden. „Sei bloß vorsichtig!“ Sie stellte das Buch wieder zu den anderen. „Sonst musst du es bezahlen!“

Das gab für Konrad den Ausschlag. Solche Momente hatte er häufig genug erlebt. Er sah sich selbst in dem Jungen, er spürte die Erniedrigung und die eigene Schwäche. Doch nun war er unbeobachtet, nun war er stark. Er wollte sich nicht mehr gängeln lassen, von niemandem! Er wollte endlich auch einmal der Aktive sein, selbst wenn es im Geheimen war.

Es war nicht mehr nötig, nach einem Versteck zu suchen. Konrad blieb einfach vor dem Regal stehen, an dem er sich gerade befand. Wahllos zog er ein Buch heraus und schlug es in der Mitte auf. Seine freie Hand legte sich mit der gesamten Fläche auf eine Seite. Langsam, verkrampft, mit festem Druck, zog er die Finger zusammen. Das darunter befindliche Seite wurde dabei zerquetscht wie in einer Müllpresse. Als sich eine mit zerknülltem Papier gefüllte Faust gebildet hatte, zog er sie zum Körper. Es entstand ein Riss. Mit gemächlicher Geschwindigkeit löste sich die Seite immer mehr.

Konrad ging nicht aus Vorsicht so langsam vor, sondern um den Moment auszukosten. Viel zu schnell ging er vorbei. Konrad erwachte aus seinem Rausch, wurde wieder Herr über seine Sinne. Auffällig blickte er sich um. Niemand schenkte ihm Beachtung. Das Buch verschwand schnell wieder an seinem Platz, mit der Beute verhielt es sich anders. Was sollte er damit jetzt anstellen? Einfach in eine Ecke werfen, um das Personal wissen zu lassen, was er angerichtet hatte? Wie lange würde es wohl bis zur Entdeckung dauern? Auf jeden Fall würde es noch am selben Tag geschehen. Es könnte sogar sein, dass erst eine Reinigungskraft das Papier entdeckte und nur für den Notizzettel eines Schülers hielt, um es ohne weiter zu untersuchen in einen Mülleimer warf. Andrerseits könnte die Entdeckung erfolgen, während Konrad noch im Gebäude war. Selbst wenn nicht, würde man sich an seine heutige Anwesenheit erinnern. Man kannte ihn, er kam oft hierher. Außerdem gab es ja erst den Vorfall mit der Bezahlung. Dass er widersprochen hatte, hatte sich den Beteiligten sicherlich eingeprägt. Ein Mord macht jeden verdächtig, der kurz vorher mit dem Opfer gestritten hatte.

Was gab es noch für Alternativen? Besser wäre es, die herausgerissene Seite im Regal zu verstecken, hinter den anderen Büchern. Dann konnte es Wochen oder sogar Monate bis zur Entdeckung dauern, bis jemand genau an dieser Stelle ein Buch herausnahm und sich wunderte, was dahinter lag.

Das Wort Beweisstück kam Konrad in den Sinn. Wäre es möglich, Rückschlüsse auf seine Identität zu ziehen? Er dachte an Fingerabdrücke und an verschmierte Druckerschwärze. Es gab da eine lebhafte Erinnerung an einen Anfall des Vaters, aufgrund einiger verschmierter Buchstaben in einer Tageszeitung. Konrad war in diesem Fall tatsächlich der Verursacher gewesen.

Noch immer hielt er das Papier in der geschlossenen Hand, die ihm auf einmal sehr nass vorkam. Doch er wagte es nicht, das Blatt auf verräterische Spuren zu untersuchen. Spätestens das Geräusch des Auseinanderfaltens hätte ihn verraten.

Steck es doch einfach in die Tasche und geh hinaus, versuchte er sich Mut zu machen. Das war leichter gesagt als getan. Es ging hier nicht darum, eine Tüte Chips in ein Kino zu schmuggeln. Die Situation hatte eher etwas von Ladendiebstahl. Für Leute, die darin Erfahrung hatten, war es sicher eine Lappalie, im Supermarkt einen einzelnen Artikel mitgehen zu lassen. Die Anfänger hingegen verrieten sich gerade durch den Versuch unschuldig zu wirken. Konrad sah sich schon dabei, einen Schritt vor der Tür am Handgelenk ergriffen zu werden.

Die Lage war aussichtslos. Er hatte noch die Idee, das Beweisstück die Toilette hinunterzuspülen, verwarf sie aber gleich wieder. Die Tür war immer verschlossen, man musste sich den Schlüssel vom Personal geben lassen. Falls das Rohr verstopfte, würde man sofort wissen, wer dafür verantwortlich war.

Plötzlich kam der rettende Einfall. Warum das Papier nicht aus einem offenen Fenster werfen? Die Lösung war so einfach wie genial. Hinterher konnte er es sogar wieder einsammeln und endgültig vernichten. Konrad begann, die Außenwände entlang zu gehen. Wie sich herausstellte, war auch dieser Plan nicht umsetzbar. Alle Griffe waren von den Fenstern abmontiert und sie waren alle geschlossen. Er wollte es nicht wahrhaben und machte eine komplette Runde. Auf einmal wirkte der gesamte Innenraum viel kleiner. Es fehlten bloß noch Gitter vor den Fenstern, um Konrads Eindruck von der Bibliothek gerecht zu werden.

Es gab also keine sichere Möglichkeit, das Verbrechen zu vertuschen. Womöglich machte er sich mit seinem Verhalten bereits verdächtig. Die geschlossene Hand war inzwischen nun wirklich spürbar feucht geworden, das Papier sog den Schweiß nicht auf. Auf einmal fand er sich bei den Videospielen wieder. Noch immer saß der Kleine dort, der Konrad vorhin vertrieben hatte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass er schon deutlich länger spielte als die halbe Stunde, die jedem zustand. Vor lauter Faszination über die Geschehnisse auf dem Bildschirm stand sein Mund offen. Auf Konrad machte er den Eindruck, über einen Grad von Dummheit zu verfügen, den normalerweise nur zwei Menschen erreichen konnten. Aber wie man Regeln ausnutze um andere herumzukommandieren, das wusste er schon.

Hinter ihm, an den Stuhl gelehnt, stand sein Rucksack. Wären beide Hände frei gewesen, hätte Konrad sie vor Verschlagenheit genüsslich aneinander gerieben. Unscheinbar schlich er sich an. Als er langsam und unhörbar den Reißverschluss öffnete, schlug ihm der Geruch einer ungegessenen Wurststulle entgegen. Wahrscheinlich war die Alufolie gerissen und der Inhalt verteilte sich nun ungehindert. Konrad hinterließ noch eine zweite Überraschung.

 

Du hast was?“

Das war wieder eine der seltsamen Angewohnheiten seines Vaters. Er hatte es ganz genau verstanden, warum fragte er nach? Konrad wollte seiner bereits getätigten Aussage nichts mehr hinzufügen und zog es vor zu schweigen.

Du hast es vergessen?“

Eine schwache Ausrede, aber glaubhaft. Ihm war nichts anderes eingefallen. Auf keinen Fall konnte er den wahren Grund nennen, warum er keine Hausaufgaben gemacht hatte.

Alles hing mit dem Aufsatz zusammen. Es schien, als wollte ihn dieses Thema einfach nicht loslassen. Sie hatten ihre Arbeiten zurückbekommen, Konrad erhielt eine Zwei, so wie die meisten Schüler. Es wäre einfach gewesen, unter die Angelegenheit einen Strich zu ziehen. Doch der Lehrer hatte andere Pläne. Den letzten Aufsatz in seiner Hand teilte er nicht aus. Er rief Jens auf, bat ihn jedoch nach vorne zu kommen und vor die Klasse zu treten. Warum ausgerechnet er, fragte sich Konrad. Jens hatte mehrmals lauthals erzählt, wie viel Mühe und Zeit er in dieses Projekt investiert hatte. Er hatte gleich mehrere Bücher vollständig gelesen. Er war wohl der einzige, der so vorgegangen war, wie es eigentlich von ihnen erwartet wurde. Die benötigten Bücher hatte er natürlich aus der Bibliothek. Konrad wusste, dass Jens ein Mitglied war, er hatte ihn schon einige Male dort gesehen.

Der Lehrer lobte den Aufsatz über alle Maßen. Um allen zu zeigen, wie man es am besten machte, durfte Jens ihn der Klasse vorlesen. Konrad hätte dafür das Wort müssen verwendet, aber für Jens war es wirklich ein dürfen. Man konnte deutlich erkennen, wie er es genoss, wie es ihn mit Stolz erfüllte. Es hatte nur noch die Verleihung eines Ordens gefehlt, mit Urkunde und Konfettiregen.

Während Jens am Lesen war, kochte die Wut in Konrad hoch. Er wurde dadurch unaufhörlich an die Beschädigung erinnert, die er nicht angerichtet hatte; an das verlangte Geld, das man ihm genommen hatte; an den Ärger mit seinem Vater, der ihm nicht glaubte. Alles nur durch diesen Aufsatz. Und auf der anderen Seite stand Jens, für den sich alles zum Guten fügte.

Vor sich hatte er das Buch zu liegen, die Seite mit der Aufgabenstellung für den verhängnisvollen Aufsatz aufgeschlagen. Alle Blicke waren nach vorne gerichtet. Wie unter Zwang nahm Konrad das Buch, griff die Seite und zog. Langsam trennte er das Blatt heraus. Doch damit nicht genug, er zerriss es weiter, in dünne Streifen, und diese wiederum in kleine Schnipsel. Als Jens fertig war, hatte auch Konrad sein Werk beendet.

Damit beenden wir dieses Thema“, erklärte der Lehrer. „Zum Abschluss erledigt ihr zur nächsten Stunde noch die Aufgabe Drei auf der Seite Zweiundachtzig.“

Konrad sah in sein Buch und erschrak. Es war die Rückseite von dem Blatt, das er eben vernichtet hatte. Schnell schlug er es zu, bevor es jemand bemerkte. Wie sollte er nun herausbekommen, was die Aufgabe war? Wenn er jemanden fragte, würde man wissen wollen, wieso er nicht in seinem Buch nachschaute? Er spähte nach links und rechts, um einen Blick in ein anderes Buch zu erhaschen, als es plötzlich klingelte und alle ihre Sachen einpackten.

Ihm war keine Lösung eingefallen. Er konnte nur hoffen, dieses Mal unentdeckt davonzukommen.

Ich kann auch nicht einfach meine Arbeit vergessen. Was glaubst du, was dann passiert?“ Sein Vater war noch lange nicht fertig mit seiner Arie.

Du kannst auf der Arbeit auch nicht andere Leute anbrüllen, dachte Konrad.

Die Mutter stimmte mit ein. „Was soll nur aus dem Jungen werden? Was haben wir nur falsch gemacht?“

Konrad schaltete ab. Er malte sich schon aus, wie er seinem Ärger Luft machen konnte.

 

Es lag alles an Jens. Nur weil er so geprahlt hatte beim Vorlesen, hatte Konrad sich nicht mehr beherrschen können. Durch seine letzte Erfahrung in der Bibliothek, kannte er ja nun eine Methode, um es ihm heimzuzahlen. Er wollte, dass Jens einmal für etwas beschuldigt wurde, das er nicht getan hatte.

Um seinen Plan umzusetzen, musste er gezielt vorgehen. Er konnte nicht einfach warten, bis ihm Jens zufällig in der Bibliothek begegnete. Es gab nur einen kurzen Moment, den es abzupassen galt. Also folgte er ihm jedes Mal, nachdem die Schule beendet war. Jens war sicher so gewissenhaft, ausgeliehene Bücher nicht den ganzen Tag in der Tasche umherzutragen, damit ihnen nichts geschah. Er würde erst nach Hause gehen, um sie dort abzuholen. Konrad wartete jeden Tag in der Nähe des Hauses, die Tür immer im Blick. Selbst wenn es regnete, harrte er aus. Ihm wurde dabei nicht langweilig. Wenn er sein Vorhaben in Gedanken durchging, lief die Zeit schnell vorbei.

Konrad folgte Jens jedes Mal unbemerkt, wenn er das Haus verließ, ohne zu wissen, wo es hinging. Es dauerte fast zwei Wochen, bis der Zeitpunkt gekommen war. Endlich ging Jens wieder einmal zur Bibliothek. Bei der Rückgabe legte er die zurückgebrachten Bücher auf die markierte Fläche. Immer nur zwei auf einmal, so wie es auf dem Bildschirm stand. Konrad verdrehte die Augen. Das passte zu Jens. Man konnte ohne Probleme mehrere Artikel auf einmal verbuchen. Vermutlich hatte er es nie ausprobiert, er machte niemals etwas falsch. Dieses Mal profitierte Konrad davon. Das machte den Vorgang äußerst genau vorhersehbar, er konnte sich unauffällig auf die nötige Position begeben und genau abschätzen, wann er zuschlagen musste.

Jens war inzwischen fertig und legte die Bücher in das Rückgaberegal. Sobald er sich umdrehte, tauchte Konrad hinter einer Ecke auf und streifte daran vorbei. Dabei nahm er das oberste Buch, ohne dass es jemand bemerkte. Damit war der schwierigste Teil bereits erledigt, nun kam der vergnügliche. Konrad entfernte sich etwas, drehte sich zu einem Regal und öffnete das Buch. Er bekam nicht einmal mit, worum es sich handelte. Dann holte er einen Textmarker hervor und schritt zur Tat. Wahllos blätterte er umher und färbte beliebige Textstellen. Das tat er ausgiebig, um sicher zu stellen, dass es auch bei einer oberflächlichen Kontrolle entdeckt wurde.

Nach vollbrachter Arbeit machte sich Konrad wieder auf den Weg zur Rückgabe. Doch dann kehrte er noch einmal um. Es fühlte sich nicht richtig an, irgendetwas fehlte noch. Er ging wieder zurück zum Tatort, besah sich noch einmal das Buch, blätterte umher. Plötzlich, ganz instinktiv, ohne nachzudenken, stoppte er, hielt eine Seite fest und... trennte sie heraus. Da war es wieder, das Vergnügen, das ihm so sehr gefehlt hatte. Ihm war gar nicht bewusst, dass es ausgerechnet das war, wonach es ihm bei der Sache am meisten verlangte. Aber nun, als es geschehen war, überkam ihn ein wohliger Schauer. Es ging in Wirklichkeit gar nicht darum, einer ungeliebten Person etwas heimzuzahlen oder der Bibliothek zu schaden. Das war nur ein Mittel zum Zweck. Dahinter verbarg sich eine neuentdeckte Leidenschaft.

Konrad zerstörte gerne Bücher.

 

Genau wie bei seinem ersten Opfer, erfuhr er nie, ob Jens für den Schaden verantwortlich gemacht wurde. Wenn es so sein sollte, tat es Konrad aufrichtig leid. So groß die Abneigung auch sein sollte, das hatte er doch nicht verdient. Konrad wusste zu gut, wie es war, ungerecht behandelt zu werden, und gönnte es keinem anderen. Streitigkeiten sollten offen ausgetragen werden.

Er vergaß seinen Groll, wurde insgesamt viel ausgeglichener, seit er seinem neuen Hobby nachging. Die Bibliothek besuchte er nun viel öfter, jedoch nicht, um sich zu amüsieren. Jedenfalls nicht auf die übliche Weise. Die Bereiche, in denen er sich die vorangegangenen Jahre aufgehalten hatte, ließ er außer Acht. Von nun an wendete er sich den Büchern zu. Das gehörte wohl zum Erwachsenwerden, das verschieben von Interessen. Es war eine großartige Zeit für ihn, voller Entdeckungen und Neuorientierungen.

Er wurde ruhiger, fokussierter. Es gab weniger Probleme mit den Eltern. Auch die Noten in der Schule wurden besser. Diesen maß er allerdings kaum noch Bedeutung bei. Dieser Bildungsweg konnte ihn nicht auf eine berufliche Orientierung vorbereiten, die er im Sinn hatte. Der beste Ort dafür war die Bibliothek.

Konrad saß bei den Tageszeitungen. Der Bereich war etwas abgeschieden, aber offen. Er bot den besten Überblick über den restlichen Saal. Was sich dort momentan abspielte, war eine größere Unterhaltung als das beste Fernsehprogramm. Frau Schubert, das war Frau Gockels richtiger Name, streifte durch die Gänge, mal hektisch, mal lauernd. Hin und wieder verfolgte sie einzelne Personen, dann ging sie wieder ziellos durch die Gänge, um keine Stelle lange unbeobachtet zu lassen.

Konrad war fleißig gewesen in den vergangenen Jahren. Es hatte immer mehr fehlende Seiten gegeben. Schon bald konnte es keinen Zweifel mehr daran geben, dass nicht einzelne Personen die Verursacher waren, sondern ein Serientäter am Werk war. Frau Schubert war auf der Pirsch, im ihn zu finden.

Es war der letzte Schultag. Konrad rechnete nicht damit, jemals wiederzukommen, er hatte inzwischen andere Möglichkeiten gefunden. Es war Zeit, sie zu erlösen. Er hätte auch einfach spurlos verschwinden können und alles hätte wieder den gewohnten Gang genommen, aber das kam ihm undankbar vor. Schließlich hatte sie ihn erst auf den richtigen Weg gebracht.

Frau Gockel wurde in den letzten Monaten zunehmend gereizter. Gerade griff sie einen Mann am Arm. „Was haben Sie da gerade eingesteckt?“, zischte sie. Er war größer und um einiges schwerer als sie, aber ihr raubtierhaftes Auftreten ließ ihn verängstigt die Durchsuchung der Taschen über sich ergehen.

Alle litten mittlerweile unter der angespannten Lage, Konrad wollte es endgültig beenden. Inzwischen eilte das restliche Personal herbei. Einige hofften vielleicht wirklich, den Täter endlich gefasst zu haben, aber eigentlich kamen sie zur Rettung des Verdächtigen.

Die Ablenkung nutzend, stand Konrad auf und schritt zur Rückgabe. Unbemerkt landete ein weiteres Buch in dem Regal. Ohne stehen zu bleiben, ging Konrad zum Ausgang, durchquerte ungehindert die Diebstahlsicherung und kehrte diesem Ort für immer den Rücken zu.

Nachdem sich der Tumult gelegt hatte, kehrten die Bibliothekare zurück an ihre Plätze. Eine von ihnen ging zur Rückgabe und nahm sich die angesammelten Bücher. Auf einmal blieb sie verwundert stehen. Das Buch in ihrer Hand hatte keine Ordnungsnummer. Sie betrachtete den Einband. Es befand sich kein Titel darauf. Sie ging zurück zum Regal und legte die restlichen Bücher beiseite, dann öffnete sie das seltsame Exemplar.

Das Buch hatte keinen Anfang, der Text begann mit einer voll bedruckten Seite, mitten im Satz. Sie blätterte weiter. Auf jeder Seite zeigte sich eine andere Schriftgröße, andere Seitenränder und Zeilenabstände. Selbst die Seitenzahlen folgten keiner Ordnung. Das Buch war makellos gebunden, es machte Eindruck, eines professionellen, gewerblichen Erzeugnisses. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass es sich um eine Zusammenstellung unterschiedlicher Drucke handelte.

Die Bibliothekarin wusste nichts damit anzufangen und brachte es zur Leiterin, Frau Schubert. Wie sich nach eingehender Prüfung herausstellte, befanden sich darin, bis auf zwei Stück, alle jemals aus den Büchern entfernten Seiten.

 

Konrad überreichte das Buch seinem Besitzer. Dieser hatte es ihm nur ungern überlassen und strahlte beim Anblick seines Schatzes. Es war wie bei einer Wiedervereinigung einer lange getrennten Familie. Sein Kunde war einer der glühendsten Sammler, die Konrad jemals erlebt hatte. Es wunderte ihn nicht, dass Bibliophile heutzutage ihrer Leidenschaft so zurückgezogen nachgingen.

Bei diesem Auftrag handelte es sich um eine Erstausgabe eines Pitaval. Seine Aufgabe war es gewesen, das Buch zu trüffeln, es mit zeitgenössischen Illustrationen aus anderen Publikationen zu ergänzen, die vielleicht sogar dem Autor selbst als Quelle gedient hatten. Es war eine jahrelange Arbeit gewesen, diese in Archiven aufzustöbern und unbemerkt zu entfernen. Doch gerade darin hatte der Reiz gelegen.

Das Leuchten in den Augen des Besitzers bestätigte seinen Erfolg. Und es war nur der erste Band. Blieben noch neunzehn übrig.

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 28.10.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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