Ines Wertenbroch

Sommerregen


Regentropfen schlugen sanft an den Fensterscheiben auf, rannen im nächsten Augenblick li-nienförmig hinunter und fügten sich zu einem nassen Netz mit anderen Spuren zusammen. Ab und zu beeinflusste leichter Wind den Fluss der Tropfen und veränderte seine Richtung.
Ich schaute schon eine Weile auf das Fensterglas und hatte das Gemurmel der anderen in der Cafeteria vergessen. Eine Stimme weckte mich aus meiner Beobachtung:
„Kann ich mich zu Ihnen setzen oder warten Sie auf jemanden?“ Vor mir stand Herr Heuwes. Er hielt einen Becher in der linken Hand, der mit einem heißen Getränk gefüllt war. Unter den rechten Arm hatte er seine Tasche geklemmt. Ich schaute zu ihm hoch und antwortete: „Der Platz ist noch frei.“ Ich blickte mich kurz um und erst in diesem Moment bemerkte ich, dass die meisten Stühle in der Cafeteria besetzt waren. Herr Heuwes stellte seine braune Lederta-sche auf den Boden und den Becher auf dem Tisch ab. Es war schwarzer Kaffee. Mit den Bewegungen des Dozenten zog das Aroma zu mir herüber, gemischt mit einem anderen, leicht herben Duft.
Herr Heuwes setzte sich mir gegenüber. Ich wand meinen Blick wieder auf das Fenster. Diesmal schaute ich hindurch und sah einige Studenten über den Platz laufen. Einige von ih-nen hielten Regenschirme über ihren Köpfen, andere zogen sich Jacken über ihren Körper und rannten in geduckter Haltung zu einem nahegelegenen Gebäude.

Ich spürte auf der anderen Seite von mir eine Regung. An unserem Tisch ging ein Student vorbei. Ein Becher in der Hand und eine Zigarette im Mund. Er blieb am Tisch gegenüber stehen und begrüßte mit einer Umarmung ein Mädchen, das dort saß und aufgestanden war, als sie ihn sah.
Ich nahm meinen Becher und trank einen Schluck. Der Kaffee war im Mund bitter und ging sauer die Kehle hinunter.
„Ich werde eben Zucker holen.“ Mit diesen Worten stand ich auf, um nach vorne an die Kasse zu gehen. Dort stand ein Glas mit Zuckertütchen. Ich nahm drei heraus und ging an den Platz zurück. Ich riss ein Päckchen auf und ließ den Zucker in den Kaffee rieseln.
„Könnten Sie mir vielleicht auch eines geben. Der Kaffee ist sehr ... stark“, sprach mich Herr Heuwes an. Er räusperte sich und schaute mir in die Augen. Sein Blick schien mir fragend und dennoch, als wäre er sich sicher, dass ich ihm den Zucker geben würde.
„Ja, gern.“ Ich nahm ein Tütchen und reichte es ihm. Ich spürte für einen Augenblick die Wärme eines seiner Finger, als er das Päckchen entgegennahm.
Ich beobachtete die Bewegung meiner Hand. Sie begann leicht zu zittern. Ich legte meine Hände auf die Oberschenkel und schaute nach draußen.
Herr Heuwes trank aus seinem Becher und sagte: „Viel besser als vorher. Der Kaffee ist aber diesmal wirklich sehr herb gewesen.“
„Ich dachte immer, jeder Professor hätte in seinem Büro eine eigene Kaffeemaschine stehen“, gab ich zurück und sah ihn lächelnd an.
„Nein, leider nicht. Aber andererseits ist es auch besser so. Es ist doch schöner, wenn sich die Professoren und Studenten auf diese Weise über den Weg laufen können. Es gibt immer wie-der Studenten, mit denen ich mich sehr gern unterhalte.“ Er lächelte. „Ich hoffe, dass es den Studenten dann auch so geht “, fügte er hinzu und schaute mich an.
„Bestimmt. Sie würden es sicher spüren, wenn es denen nicht gefällt. Es gibt immer wieder Studenten, die auch Dozenten für Menschen halten“, antwortete ich.
„Gehören Sie auch dazu?“ fragte er und verzog den Mund zu einem Schmunzeln.
„Also, ich kenne nur welche, die so denken. Im Ernst: ich sehe da keinen Unterschied. Aller-dings habe ich vor den meisten Professoren dadurch auch nicht mehr Respekt als vor anderen Menschen, außer vielleicht vor ihrem Wissen. Als Studentin weiß ich schließlich nicht, was den jeweiligen Dozenten als Menschen ausmacht.“ Ich hielt kurz inne. „Das wäre sicher inte-ressant.“ Ich nahm mit den Fingern ein Holzstäbchen auf, das auf dem Tisch lag.
Herr Heuwes trank langsam einen Schluck aus seinem Becher und sprach dann mit gesenkter Stimme: „Ich denke auch oft darüber nach, was in einigen Studenten vorgeht. Sie geben ihre Arbeiten bei mir ab und ich sehe ihre Gesichter vor mir. Nur selten kann ich erahnen, was sie interessiert, aber wissen kann ich es nie.“ Er schaute auf die Tischplatte.
„Würden Sie es gern wissen?“ fragte ich ihn.
Sein Blick schweifte vom Tisch zum Fenster und zurück in den Raum der Cafeteria. Dann schob er mit zwei Fingern den linken Ärmel seines Jacketts ein Stück nach oben, um auf seine Armbanduhr zu sehen.
„Ich würde gern noch bleiben, aber ich muss mich auf das nächste Seminar vorbereiten.“ Mit diesen Worten stand er auf und griff nach seiner Tasche. „Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag“, sagte er, bevor er ging. „Das wünsche ich Ihnen auch“, erwiderte ich.
Ich schaute ihm nach, wie er an den Tischen vorbei zur Tür ging und sie öffnete. Mit meinen Fingern zerbrach ich das Holzstäbchen und legte die beiden Teile in den Aschenbecher, der auf dem Tisch stand. Ich trank den restlichen Kaffee aus.
Der leere Becher des Dozenten stand noch da. Ich nahm ihn und warf ihn zusammen mit mei-nem Becher in eine Abfalltonne. Dann holte ich mir noch einen schwarzen Kaffee.
Ich setzte mich wieder an den Tisch und schaute zum Fenster hinaus. Ich konnte nicht glau-ben, dass es der gleiche Regen war wie vorhin, der an den Scheiben herunterlief. Ich schaute durch das Glas und sah hinter den Tropfen einige Studenten mit Schirmen. Der Regen ver-schwamm mit ihren Gesichtern. Es sah nicht aus, als wäre es Juni.
Warmfeuchte Luft stieß durch den Spalt der Eingangstür, die mit einer schnellen Bewegung von einem Studenten geöffnet worden war. Wie einen Schwall nahm ich das Stimmengewirr in dem Raum wahr. Die ganze Cafeteria war mit Gemurmel und Zigarettendunst angefüllt. Ab und zu rasselten Geldstücke in eine Plastikschale. Ich trank einen Schluck. Der Kaffee schmeckte bitter. Ich behielt ihn eine Weile im Mund. Beim Schlucken ging er sauer die Keh-le hinunter.
Der stechende Geruch von ausgedrückten Zigaretten stieg mir in die Nase. Er kam aus dem vollen Aschenbecher vor mir. Die Kippen waren feucht von dem nassen Teebeutel, der oben auf lag. Ich riss das letzte Zuckerpäckchen auf und streute den Zucker darauf. Zum Schluss drückte ich das Papiertütchen auf den Berg, das nach und nach eine braune Farbe annahm.


(Ines Wertenbroch, 12. März 2003)

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