Stefan Läer

Sophie

Immer hatte man ihr gesagt, sie solle das Beste daraus machen. Sich zusammenreißen. Dankbar sein für die kleinen Dinge, die ihr geblieben waren von einem Leben, das aus ihrer Sicht seit jenem Tag schon keins mehr war. Die Leute hatten gut reden.

Dabei wusste Sophie ganz genau, welche Vorstellungen sie vom Leben hatte. Diese Vorstellungen begannen für sie an einem schönen Sommertag im Mai, als die Sonne den Himmel bereits in ein südliches Blau getaucht hatte und ihre Strahlen auf der Oberfläche des stillen Wassers um die Wette glänzen ließ. An diesem Tag stand der jungen Prinzessin der Sinn nach einer Bootsfahrt auf dem See, zu der sie sich nicht nur alt genug fühlte, sondern mit ihren nunmehr fünfzehn Jahren auch endlich den Segen ihres Vaters hatte. „Aber sieh dich vor, dass du mir nicht zu nah an das Dickicht aus Schilfrohr heranfährst. Du weißt, es gibt dort tödliche Strudel“, gab er ihr mit auf den Weg. Sie willigte ein und setzte sich in ein kleines Holzboot, mit dem sie hinaus auf den See fuhr. Wie sie aber so in ihren Träumereien versunken war und das Rudern vergessen hatte, bemerkte sie nicht, dass sie geradewegs in das Dickicht hineintrieb. Erst als das Schilfrohr ihre Nase kitzelte, erwachte sie und versuchte gegenzusteuern. Doch ihre Kraft reichte nicht aus, um sich aus dem Strudel zu befreien, der sie bereits erfasst hatte. Mein Gott, hätte ich doch nur einen starken Mann an meiner Seite, der mir beim Rudern helfen könnte, dachte sie verzweifelt. In diesem Augenblick tauchte ein Jüngling vor ihr auf, mit einem hübschen Gesicht und einer Kleidung, wie sie nur Prinzen zu eigen war. „Ihr habt mich gerufen, holde Prinzessin?“, fragte er. „Ja, zur Hilfe hab ich Euch gerufen, ich ertrinke sonst jämmerlich in diesem Strudel.“ „Lass mich nur Euer Ruder übernehmen.“ So geschah es dann auch. Der Prinz führte das Ruder mit unsichtbarer Hand und entriss sie dem Strudel. Als er sie aus dem Schilf herausgeführt hatte, sagte er: „Jetzt muss ich zurück in mein Königreich. Lebt wohl, schöne Prinzessin.“

„Wer seid Ihr, dass Ihr so schnell zurück müsset? Ich schulde Euch meinen Dank dafür, dass Ihr mir das Leben gerettet habt.“

„Ach, ich bin der Prinz des versunkenen Königreichs im See, das schon lange nicht mehr ist. Auch ich bin nicht aus Fleisch und Blut, sondern ein Geist.“

Daraufhin war die Prinzessin sehr erschüttert, denn sie sah die Schönheit seiner Erscheinung. „Sagt mir, wie ich Euer versunkenes Königreich wieder emporheben und Euch zu einem Leben in Fleisch und Blut erwecken kann.“

„Dazu kann ich Euch keinen Rat geben, so gerne ich mit Euch kommen möchte.“

Von heftigem Herzschmerz erfasst klagte Sophie dem Vater ihr Leid. Da der König sie über alles liebte, vertraute er sie einem Magier an, der sehr abgeschieden im Wald lebte. Der alte Mann grübelte und sprach: „Das versunkene Königreich kann nur durch die Sandelfen emporgehoben werden. Aber es muss geschehen, ohne ein einziges Tier, das dort im Wasser lebt, zu töten.“ „Ihr macht mir Mut, alter Weise. Aber sagt: Wo finde ich die Sandelfen?“ „Sie leben in ihrem Schloss am See. Als des Königs Tochter müsset Ihr sie kennen.“ „Vater hat mir nie ihr Schloss gezeigt. Habt Dank für Euren Rat, guter Magier.“

Ohne mit ihrem Vater zu reden machte sich Sophie auf den Weg, die Sandelfen zu finden. Am Ufer des Sees hatten sie ihr Schloss aus Sand gebaut, das Sophie bis zu den Knien reichte. „Gute Prinzessin, was führet dich zu uns?“, vernahm sie plötzlich die Stimme einer winzigen, aber prachtvoll geschmückten Königin. Nachdem Sophie der Elfe ihre Geschichte erzählt hatte, erwiderte diese: „Wir vermögen das versunkene Königreich ans Tageslicht zu heben, indem wir unseren Sand aufschütten, ohne ein einziges Tier dabei zu töten. Einzig stellen wir eine Bedingung: Dein Vater ziehet immer hart gegen uns zu Felde und stehlet die Perlen aus unseren Muscheln, um seinen Reichtum zu mehren. Leget ein gutes Wort bei ihm ein, dass er es unterlässt, so soll euch das versunkene Königreich mitsamt des Prinzen gehören.“

Die Königstochter tat wie geheißen und weil ihr Vater sie so liebte, gab er ihr sein königliches Wort. Daraufhin hoben die Elfen das versunkene Königreich empor und weil ihr Sand so fein war, kam kein einziges Wassertier zu Schaden. Überglücklich fiel Sophie ihrem Prinzen, der sich nun zu einem prächtigen Mann aus Fleisch und Blut verwandelt hatte, in die Arme. Alsbald wurde eine Hochzeit abgehalten, zu der auch die Sandelfen und alle Bewohner des versunkenen Königreiches geladen waren. Als aber der König seine Tochter erblickte, wurde sein Herz ganz weich und er sprach: „Ich will den Sandelfen nimmermehr eine Perle stehlen. Dich so glücklich zu sehen ist mehr wert als alle Schätze dieser Erde.“ Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute.

Der Bildschirm wurde schwarz. Sophie benötigte einen Augenblick, um zu wissen, wo sie war. Nachdem sie sich orientiert hatte, verließ sie VR-Raum II der Onkologischen Klinik. Die Virtuelle Realität war eine Möglichkeit, ihrer Erkrankung für einige unbezahlbare Momente zu entkommen. Sie dachte an das versunkene Königreich, während eine Träne ihre Wange hinablief. Was ihrem Prinzen in der virtuellen Welt verborgen blieb, war der Tumor, der in ihrem Kopf sein Unwesen trieb und dessen Bekämpfung sie viel mehr als ihre schönen blonden Haare gekostet hatte. Trotzdem war sie sich sicher: Ihr Prinz hätte sie geliebt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.11.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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