Horst Reiner Menzel

Der Superintendent Hildebrand

Hörte sich gut an, doch was ich damals nicht wusste, dieses Wort >Superintendent <, leitet sich aus dem Altgriechischen ab und heißt Wort wörtlich übersetzt: „Aufseher“.

Er hatte schon meine Mutter getauft, konfirmiert und getraut. Als ich in seine Obhut kam, war er zum Aufseher in allen Lebenslagen gereift, er kontrollierte jede Kleinigkeit, verlangte unbedingten Gehorsam, verbot fotografieren in der Kirche und zu Hause das Radiohören. Blos gut, dass es damals noch kein Fernsehen gab, sonst hätte er das auch noch verboten. Vielleicht hat er es noch heimlich, posthum getan und wir haben deshalb so ein schlechtes Fernseh-Programm.

Die ersten Stunden im Konfirmandenunterricht:

Septuagesimae; Sexagesimae; Estomihi; Invocavit; Reminiscere; Oculi; Laetare; Judica; Palmarum; Quasimodogeniti; Misericordias Domini; Jubilate; Kantate; Rogate; Exaudi; Quasimodogeniti; Miserikordias; Domini; Jubilate; Kantate; Exaudi; Pfingsten; Trinitatis usw. bis Weihnachten.

Das war es, was wir als zukünftige gute Christen als Erstes zu lernen hatten. Der Schock war abschreckend, gewaltig, exorbitant und beim Schreiben dieser Epistel, um im Sprachgebrauch zu bleiben, brauchte ich nach 70 Jahren nicht lange nachdenken um sie wieder herunterleiern zu können, so tief hatte er sie in unser schulgemartertes Hirn hineingebrannt, die Kirchentage. Wer sie nicht hersagen konnte wurde, gemaßregelt und mit genau kontrollierten zusätzlichen Gottesdiensten „bestraft“, damit ihm die Erleuchtung kam. Jeden Sonntag, stand er an der Kirchentür und begrüßte uns jovial, mit aufmerksamen Blicken, ob wir uns wohl als geeignete Kandidaten für die christlichen Aufgaben seines Machtbezirkes eignen würden. Mädchen wurden in gesonderten Konfirmandinnen-Unterrichten zu ordentlichen Christen-Frauen herangezogen. Wobei die Frau Pfarrer, noch die besonderen weiblichen Aspekte der zukünftigen Rolle, als christliche Ehefrauen in die „richtige Richtung“ lenkte. Keiner hatte sich auch nur im Entferntesten in diesen Unterricht hinein gewünscht. Doch in meiner Familie, alle getauft, alle konfirmiert, alle kirchlich getraut, gab es keine „Extrawürste“ und oh Wunder, so ist es nun bis zu unseren Urenkeln geblieben. Dennoch glaube ich nicht an den einen Gott der Götter, es gibt zu viele, die diesen Anspruch erheben. Mein Großvater hatte im Ersten Weltkrieg den Glauben an Gott verloren. Ein Satz von ihm prägte sich mir ein: „Der Glaube bestätigt alle Dinge“. Ein anderer Spruch sagt aus: „Glauben heißt nicht wissen“. Dennoch sagte einer unserer ganz Großen: „Gott würfelt nicht“. Sein Name ist Albert Einstein. Er hätte wohl besser formuliert: „Der Schöpfer des Universums würfelt nicht“, und so wird er es wohl auch gemeint haben. An diesen Schöpfer glaube ich heute glauben zu können, das sagt mir mein Verstand und nicht mein Glaube.

Mein Vater war Chorknabe gewesen und ließ jeden Sonntag aus voller Brust, von der Empore, mit seinem schmelzenden
a cappella die Engel erklingen. Auch er verlor im Zweiten Weltkrieg seinen Glauben an diesen Gott und trat aus der Kirche aus. Doch als er starb, wurde er von einem Pfarrer ausgesegnet.

Ja, wir Burschen, hatten damals nur Übermut und Unsinn in Sinn! Denn der Unterricht bot nur Langeweile, nach der Bibel stand uns nicht der Sinn, dann eher nach Karl May und Abenteuer. Das merkte auch der Superintendent Hildebrand, besonders dann, wenn 1950 wieder einmal Stromsperre war. Was das ist, werden Sie sich fragen? Noch lange Jahre nach dem Krieg, waren die E-Werke und die Stromleitungen so marode, dass man bei Überlastung einfach Wohnbereiche von Netz trennte. Dann saßen wir im Dunkeln und unser Superintendent Hildebrand zeigte sein menschliches Gesicht, war nicht mehr Amtsperson und erzählte uns von seinen Erlebnissen im Ersten Weltkrieg. Das war es, das war wirklich mal etwas Neues, das interessierte uns wirklich und so sorgten wir dann mit Fleiß dafür, dass es öfters Dunkelstunden gab. Wir bogen einen isolierten Draht zu einer U-förmigen Schleife und steckten ihn in eine Steckdose, sodass es einen Kurzschluss gab, dann konnte er in der Dunkelheit keinen Unterricht halten und erzähle uns Geschichten. Er hatte sich, wie so viele junge Studenten, als kaiserlich Freiwilliger gemeldet und einen Kniedurchschuss erlitten. Auf Grund der damals mangelhaften medizinischen Versorgung versteifte sich sein Bein und er musste es sein Leben lang nachziehen. Auf Grund seiner traumatischen Kriegserlebnisse, beschloss er dann Pfarrer zu werden. Diese Ereignisse schilderte er uns gebetsmühlenhaft immer wieder und wider, (richtig wie zuwider). Also mussten wir Gegenmaßnahmen ergreifen. Einer hatte ‘ne Idee und brachte einen kleinen Sack Murmeln mit. Murmeln sind kleine Tonkugeln, mit denen Kinder früher Spiele spielten. Die legte er auf den Boden und stieß mit dem Fuß dagegen. Die Kugeln rollten nun unkontrolliert herum und wenn sie zur Ruhe kamen, stieß sie ein anderer wieder weiter. Superintendent Hildebrand wusste mit diesem Geräusch natürlich nichts anzufangen und ignorierte es zunächst, war er wohl doch einstmals auch so ein Junge gewesen, vielleicht fand er es sogar lustig. Als wir dann in den nächsten Unterricht kamen, hatte seine Frau die Kugeln zusammengekehrt und sie lagen wieder in dem Säckchen, das wir vergessen hatten auf seinem Tisch. Das immer wieder die Sicherung ersetzt werden musste, war ihm natürlich auch aufgefallen, außerdem erfuhr er zu Hause, dass es an diesem und jenem Abend überhaupt keine Stromsperre gegeben hatte. Wir rechneten mit einer gehörigen Standpauke, doch er grinste nur und sagte: Also Jungs, wir machen ab jetzt eine halbe Stunde Unterricht und eine halbe Stunde erzähle ich Euch Geschichten. Beiderseits hatten wir gelernt, dass sich Arbeit und Vergnügen immer die Waage halten müssen. Ab sofort lernten wir mit vollem Eifer unsere Lektionen und auch das Vergnügen über seine Geschichten kam nicht zu kurz. Endlich wurden wir für würdig befunden, in die Gemeinde aufgenommen zu werden, doch dem Aufnahmeritus, dem ersten Abendmahl, ging damals eine Prüfung vor der versammelten Kirchen- und Elterngemeinde voraus. Vermutlich war sein Vertrauen in uns immer noch etwas erschüttert, deshalb zitierte er uns ein paar Tage vor dem großen Ereignis in die Kirche und machte mit uns eine Probeabstimmung.
„Also“, sagte er, „wenn ich Euch etwas frage, dann heben alle die Hand, wie in der Schule, aber der - wo es nicht genau weiß, macht dabei den kleinen Finger krumm! Ich habe nicht nachzählen können, wieviel Hände bei der Prüfung vor der Gemeinde, mit dem krummen kleinen Finger hochgingen, doch viele werden es wohl nicht gewesen sein. Er war bestimmt ein guter Pfarrer, doch eines muss ihm wohl bei seiner langjährigen Tätigkeit verloren gegangen sein.
Er hatte das 8. Gebot: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden, wider deinem nächsten“, einfacher gesagt: „Du sollst nicht Lügen“ wohl vergessen.

Ironie der Geschichte: Ich hatte seit dem Fortgang aus meiner Heimatstadt nie mehr die Ev. Stadtkirche betreten und betrieb in meiner neuen Heimat eine Blitzschutzfachfirma. Nach dem Zusammenbruch der DDR, bekam ich einen Anruf des Sohnes eines Freundes, der inzwischen Elektroingenieur war und ein Fachbüro für Haustechnik eröffnet hatte. Ob ich mir einmal die Blitzschutzanlage auf der Stadtkirche ansehen könnte. Zufällig hatte ich eine Woche später in der alten Heimat zu tun. Er wollte mit dem Küster gleich auf den Turm steigen, doch ich blieb erst mal am Eingang stehen, schaute nachdenklich 35 Jahre zurück und sah mich wieder vor Pfarrer Hildebrand stehen, wie er in meinem „Gottesdienst Kontrollbuch“ seinen Haken machte und „anwesend“ hineinschrieb. Ich musste tief durchatmen, dann war ich wieder zurück in der Wirklichkeit. „Was hast Du?“, fragte er mich, ach nichts weiter, das erzähle ich dir mal bei einem Glas Wein. Nun ja, die Blitzschutzanlage war so gut wie nicht mehr vorhanden, die einzige Ableitung hing unten lose über dem Erdreich herum und war auch am Turmhelm unterbrochen. Als erste Maßnahme bestellten wir dann auf mein Anraten, eine 70 m hohe Hydraulik-Arbeitsbühne und ließen eine neue Ableitung mit Erdung einbauen, damit der Turm das nächste Gewitter überstehen konnte.

Rei©Men 2018
Autor: Horst Reiner Menzel

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