Heinz-Walter Hoetter

Der Stein des Arawan

Irgendwann öffnete Arawan seine Augen und erblickte auf Anhieb ein unglaubliches Panorama. Er stand ganz oben auf einer schroffen Felsenklippe, die wohl an die einhundert Meter hoch war. Arawan blickte vorsichtig nach unten, wo das glasklare Wasser eines Meeres rauschte. Die scheinbar glatte Wasseroberfläche war zwar immer in Bewegung, aber die herein kommenden Wellen verliefen sich schnell im gelben Sand eines breiten Strandes, der an verschiedenen Stellen immer wieder von mächtigen Felsbrocken unterbrochen wurde, die sich offenbar von der Steilklippe gelöst hatten und in die Tiefe gestürzt waren. Jetzt lagen sie überall verteilt am flachen Ufer herum, als würden sie darauf warten, vom Wasser des Meeres verschlungen zu werden.


 

Eine Weile schaute Arawan verträumt dem Spiel der unaufhörlichen Wellenflut zu. Dann glitt sein Blick über das weite Meer bis zum Horizont, wo gerade die Sonne wie ein strahlender Feuerball aufging und die gesamte Umgebung in ein goldgelbes Licht tauchte.


 

Auf einmal wehte vom Meer her ein heftiger Wind, der wie unsichtbare Finger an seiner losen Pelzkleidung zerrte. Arawan streckte beide Arme horizontal zu seinen Seiten aus und wartete so lange, bis er keinen Boden mehr unter seinen Füßen spürte.


 

Langsam, fast unmerklich, stieg er auf. Der Wind umwehte ihn und trug ihn wie ein loses Blatt immer höher in den wolkenlosen Himmel hinein. Es war das erste Mal, dass ihm so etwas widerfuhr. Während er immer weiter schwebte und an Höhe gewann, schaute er nach unten. Das Meer und die Felsenklippe wurden immer kleiner und obwohl Arawan genau wusste, dass er keinen Boden unter seinen Füßen hatte, stieg dennoch keine Angst in ihm hoch. Im Gegenteil. Sein Atem ging ruhig, nur sein Herz schlug etwas schneller als sonst. Auf einmal war ihm so, als müsste er tief durchatmen. Es war mehr ein Gedanke, der ihn dazu aufrief, das zu tun. Mit tiefen Zügen sog er jetzt die frische Luft des frühen Morgens in sich hinein, wobei ihm ein weiterer Gedanke kam. Er fragte sich nämlich ganz unvermittelt, ob er seinen Flug auch ganz bewusst lenken konnte oder nicht. Er müsste es wohl ausprobieren, um das feststellen zu können, kam ihm dazu in den Sinn.


 

Kaum war der Gedanke gedacht, kippte er plötzlich zur Seite weg und raste schon wenige Sekunden später über das offene Meer dahin dem fernen Horizont entgegen.


 

Anscheinend bedurfte es nur eines gedanklichen Wollens, um seine Flugbahn zu verändern. Ja, es genügte offenbar schon der vage Anschein eines zaghaften Wunsches von ihm, um jede Richtung einzuschlagen, die er wollte. Ebenso konnte er Höhe und Geschwindigkeit ändern, wann immer ihm danach war. Er probierte es sofort aus, glitt im nächsten Moment nur wenige Meter über der Meeresoberfläche dahin wie ein tief fliegender Seeadler auf der Suche nach Beute. Hin und wieder flog er so dicht über dem Wasser, dass er es mit seinen Füßen hätte berühren können.


 

Arawan spürte tief in seinem Herzen eine unendliche Freiheit. Er musste sich erst an diesen neuen Umstand gewöhnen. Zuerst war er nur in eine Richtung geflogen, änderte mal hier und da die Flughöhe, weil ihm danach zumute war, mehr zu versuchen. Er schraubte sich urplötzlich in die Höhe, überschlug sich mehrmals hintereinander in der Luft, durchflog eine kleine Wolke, die gerade an der Sonne vorbei zog und drehte alle möglichen Kapriolen. Seltsamerweise stürzte er dabei nie ab. Wenn er es wollte, stand er sogar wie eine einsame Säule aufrecht in der Luft und bewegte sich dabei keinen Millimeter vom Fleck. Dann ging sein Flug wieder steil nach oben, der so lange anhielt, bis er die Kälte in den oberen Luftschichten spürte. Sofort hielt er inne und raste wieder nach unten. Arawan streckte jetzt beide Arme nach vorne und wurde dabei immer schneller. Die Meeresoberfläche raste auf ihn zu. Trotzdem machte er keine Anstalten, den irrwitzigen Flug zu bremsen, sondern durchschlug mit einem lauten Knall die sanft hin und her wiegende Oberfläche des Meeres. Das klare Meer schäumte auf, als würde es kochen. Im Wasser selbst entstanden überall große und kleine Luftblasen, die quirlig der Wasseroberfläche entgegen blubberten.


 

Immer tiefer ließ Arawan sich nach unten treiben, bis er endlich den Boden des Meeres erreicht hatte, um dort für einige Minuten bewegungslos zu verweilen. Erstaunt stellte er dabei fest, dass er gar nicht richtig atmete, sondern einfach nur so tat, als würde er es tun. Er rang in seinem neuen Element Wasser weder nach Luft, noch fiel er in Ohnmacht, weil er ersticken müsste. Er hatte auch keine Angst und bekam auch keine Panik, dass jetzt beim Atmen vielleicht seine Lunge voll Wasser lief. Nichts von alledem trat aber ein.


 

Arawan blickt jetzt in die Runde und bemerkte sehr schnell, dass er nicht der einzige war, der sich hier unten, tief auf dem Grund des Meeres, aufhielt. Von allen Seiten schwammen auf einmal Fische auf ihn zu, die seltsam und phantastisch aussahen. Nie hätte er gedacht, dass es solche Lebewesen überhaupt gibt, die ihn jetzt aus großen und kleinen Augen verwundert und neugierig anstarrten. Als er sich ein wenig hin und her bewegt, stoben sie nach allen Seiten blitzschnell davon. Arawan folgte ihnen und ihren wilden Formationen durchs Wasser. Manchmal hielt er sich sogar in ihrer Mitte auf, ließ sich zusammen mit ihnen überall hin treiben und genoss es sogar, wenn sie ihm immer näher auf die Pelle rückten, weil sie im Laufe seiner Anwesenheit offenbar keine Angst mehr vor ihm hatten.


 

Irgendwann bekam er den Wunsch, die Tiefen des Ozeans wieder zu verlassen. Langsam stieg Arawan der hellen Oberfläche des Meeres zu, erreichte sie wenige Augenblicke später und schoss wie ein menschlicher Torpedo aus dem Wasser. Dann raste er wieder in voller Fahrt auf den fernen Horizont zu, drehte noch einen weiten Bogen an der hellen Sonne vorbei, die jetzt oben am blauen Himmel stand, und flog zurück an den Strand unterhalb der Steinklippe, wo er sich behutsam auf dem weichen Sandboden nieder ließ. Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, hob er sich abermals in die Lüfte und folgte einem dichten Vogelschwarm hinein ins Landesinnere.


 

Mit kontinuierlicher Geschwindigkeit überflog er das Festland, tauchte nach einer Weile unter dem Vogelschwarm hindurch und folgte einem schmalen Feldweg, der sich unter ihm dahin schlängelte. Ein paar Bauernhäuser tauchten auf, dann folgten Dörfer und einige Flüsse. Überall herrschte das satte Grün des Sommers vor. Noch nie hatte er ähnliches gesehen. Zu lange war er schon weg gewesen in einer Zeit, die unendlich weit vor dieser lag. Er begann wieder, die frische, sauerstoffreiche Luft einzuatmen, die sauber und würzig roch.


 

Arawan empfand einen tiefen Frieden, der noch durch den wunderschönen Eindruck dieser vollkommenen Welt verfestigt wurde.


 

Als er gerade ein ausgedehntes Waldgebiet überflog, erblickte er inmitten der vielen Bäume einen kleinen See, dessen Oberfläche glitzerte wie feine Silberstreifen. Unzählige Vögel hatten sich auf ihm und an seinen grünen Ufern niedergelassen. Als er sich ihnen näherte, flogen sie kreischend davon, kehrten aber bald wieder zurück, als sie bemerkten, dass ihr ungebetener Gast schon kurz darauf wieder verschwand.


 

Arawan ließ das flache Land hinter sich und erreichte bald eine mächtige Gebirgskette. Er steuerte den höchsten Berg an, folgte seinen steilen Wänden nach oben, bis er schließlich nach eine Weile den Gipfel erreichte, um dort etwas zu verweilen. Anschließend setzte er seinen Flug fort, durchbrach das Dach der Welt und nahm Kurs auf die unendlichen Weiten des Universums. Komischerweise konnte er selbst in dieser lebensfeindlichen Umgebung ohne Probleme weiter existieren. Er spürte zwar eine leichte Kälte auf seiner Haut, doch bald passte sich sein Körper der extremen Situation hier oben in der Schwerelosigkeit schnell und perfekt an, ohne dass er dabei in Lebensgefahr geriet.


 

Zu spät bemerkte er auf einmal, dass sich seine Geschwindigkeit stetig erhöht hatte, und das ganz ohne sein Zutun. Die blaue Kugel unter ihm, die Erde, wurde immer kleiner und kleiner. Bald verschwand sie ganz im schwarzen Hintergrund des Alls.


 

Arawan sah schließlich um sich herum nur noch leuchtende Sterne. Er strebte offenbar einem Punkt im Universum zu, der ihn wie magisch anzog. Er ließ sich jetzt von den kosmischen Kräften treiben, die anscheinend für ihn ein Ziel ausgesucht hatten.


 

Doch dann.


 

Von einer Sekunde auf die andere veränderte sich seine Umgebung. Die Einsamkeit der Stille war schlagartig dahin, als sich von irgendwo her ein dumpfes Grollen auf ihn zubewegte. Die zahllosen Lichter der Sterne formten sich plötzlich zu einem einzigen Punkt, der wie ein gigantischer Trichter aussah. Das grummelnde Geräusch verebbte schließlich so schnell, wie es gekommen war. Dafür wurde Arawan jetzt in die Mitte des Lichttrichters hinein gesogen. Er konnte nichts dagegen tun. Eine unbekannte Macht ließ ihm keine Alternative und zwang ihn dazu, diesen vorgegebenen Weg zu nehmen.


 

Als Arawan den Lichttrichter erreicht hatte, verengte sich dieser noch weiter. Er formte sich zu einer sich verengenden Röhre. Auf den gebogenen Wänden konnte er auf einmal grelle Lichtblitze erkennen, die sich zu gigantischen Strahlen formten und die Schwärze des Alls erhellten. Zwischen ihnen tauchten Sonnen, Planeten und ganze Galaxien auf, die so dicht an ihm vorbei huschten, dass er sie hätte berühren können.


 

Immer schneller und schneller bewegte sich Arawan durch die immer enger werdende Schlauch aus Licht und Energie, bis er plötzlich die Erde wieder erblickte, die sich vor ihm, wie aus dem Nichts kommend, schlagartig auftat. Verblüfft starrte Arawan die blaue Kugel an, die er doch erst am frühen Morgen verlassen hatte.


 

War das überhaupt die Erde? Diese Frage stellte sich Arawan automatisch, denn er war ja von ihr weggeflogen, weit hinaus in die Unendlichkeit des Alls, wo es keine Grenzen gab. Oder hatte er nur einen großen Kreis beschrieben, dessen Bahn ihn wieder zur Erde zurück geführt hatte?

Arawan konnte diese Fragen für sich selbst nicht beantworten und konzentrierte sich daher ausschließlich auf seinen Flug, der ihn offensichtlich zur Erde zurück brachte.


 

Im nächsten Augenblick spürte Arawan eine heftige Druckwelle, die seinen wehrlosen Körper von allen Seiten traf. Dann verlor er nach und nach sein Bewusstsein, das sich allerdings verzweifelt dagegen wehrte. Doch es half nichts.


 

Etwas hatte ihn mit voller Wucht getroffen und aus der Bahn geworfen. Taumelnd und hilflos raste sein bewegungsloser Körper durch die Atmosphäre des Planeten, bis er schließlich auf einer hohen Felsenklippe oberhalb eines weiten Meeres in einem grauen, mit Moos überzogenen Stein urplötzlich verschwand.


 

Eine unendliche Stille kehrte ein und Arawan gab es nicht mehr.


 

***


 

Irgendwann öffnete Rudolf Amstetter seine Augen und erblickte auf Anhieb ein unglaubliches Panorama.


 

Er saß rücklings an einem mit feuchtem Moos überwucherten, grauen Stein, der oben auf einer schroffen Felsenklippe lag, die wohl an die einhundert Meter hoch war.


 

Er hatte sich hier hingesetzt und musste wohl an diesem Stein einfach nur eingeschlafen sein, weil er von der langen Wanderung total erschöpft gewesen war.


 

Schon kurz nach dem Aufwachen konnte er sich gleich wieder an diesen seltsamen Traum erinnern. War er nicht in diesem Traum von jener hohen Felsenklippe hinaus in die Unendlichkeit des Universums geflogen und später dann zur Erde zurück gekehrt, genau an diesen Ort hier, wo er immer noch saß?


 

Rudolf Amstetter machte sich aber keine weiteren Gedanken darüber, stand auf, ging auf die Felsenklippe zu und blickte vorsichtig nach unten, wo das glasklare Wasser eines Meeres rauschte. Die glatte Wasseroberfläche war zwar immer in Bewegung, aber die herein kommenden Wellen verliefen sich schnell im gelben Sand eines breiten Strandes, der an verschiedenen Stellen immer wieder von mächtigen Felsbrocken unterbrochen wurde, die sich offenbar von der Steilklippe gelöst hatten und in die Tiefe gestürzt waren. Jetzt lagen sie überall am Ufer herum, als würden sie darauf warten, vom Wasser des Meeres verschlungen zu werden.


 

Rudolf Amstetter wollte von hier oben aus noch ein paar schöne Panoramabilder machen. Er ging deshalb zu dem grauen, mit Moos bewachsenen Stein zurück, auf dem er seinen Wanderrucksack abgelegt hatte um die Kamera zu holen.


 

Gerade als er den Rucksack öffnen wollte, blickte er nur kurz auf eine freie Stelle ohne Moos, auf der man ganz deutlich eine Reihe von Schriftzeichen erkennen konnte.


 

Rudolf Amstetter wischte mit einer Hand darüber hinweg und konnte bald einen kompletten Satz freilegen, den jemand vor sehr langer Zeit hier mal in die harte Oberfläche des Steines tief eingeritzt hatte. Langsam entzifferte er Buchstabe für Buchstabe und las, was da geschrieben stand:


 

Hier ruht

A R A W A N

König von Anwen, der Anderswelt


 


 

Ende


 

(c)Heinz-Walter Hoetter


 


 


 


 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.11.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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