Christiane Mielck-Retzdorff

Verdrängung

 

 

Niemand wusste mehr, wie die Menschen einst in dieses Tal gekommen waren, denn es war von allen Seiten von hohen Bergen umgeben, auf deren Gipfeln das ganze Jahr über Schnee lag. Die Felswände waren zerklüfte und steil. Diese Barriere zu überwinden, schien unmöglich. Doch die Menschen ahnten, dass es noch jenseits der Berge Leben gab.

Das Tal war groß und beinahe quadratisch. An zwei sich gegenüber liegenden Seiten wuchsen dichte Wälder hinauf bis zur Frostgrenze. In einem von ihnen entsprang ein Fluss, dessen Wasser sich in einem See staute, um dann weiter in den zweiten Wald zu fließen. Ansonsten war der Boden bedeckt von einer üppigen Grasfläche mit Blumen und Kräutern. An den anderen beiden Seiten ragten senkrecht Felswände empor, in deren Nischen Vögel nisteten.

Die dort lebenden Menschen sahen nie Sterne, denn sobald die Sonne langsam unterging, bildete sich um die Gipfel ein dichter Nebel, der wie ein Deckel die Sicht versperrte. Dieser löste sich am Morgen wieder auf und hinterließ Perlen aus Wassertropfen auf allen Pflanzen. Das war wichtig für deren Wachstum, denn es regnete nie in dem Tal.

Auch wenn es hell wurde, brauchte die Sonne je nach Jahreszeit eine Weile, bis sie mit ihren Strahlen den Boden und die Menschen erreichte. Dabei schien sie ebenfalls auf die senkrechten Felswände, die deren Wärme speicherten. Sobald es kühler wurde, gaben sie diese wieder ab, so dass immer eine angenehm warme Temperatur herrschte.

Gern kamen die Tiere aus den Wäldern zum Äsen auf die Grasfläche. Dann zeigten sich manchmal auch die Raubtiere, um diese zu reißen. In Fluss und See tummelten sich Fische. Die meiste Zeit des Jahres mussten sich die Menschen im Tal nicht um ihre Nahrung sorgen. Sie sammelten Wurzel, Kräuter und Früchte am Waldrand. Es war ein sorgloses Leben in der Fülle der Natur.

Über die lange Zeit hatten die Bewohner des Tals gelernt, Krankheiten und Verletzungen mit den Gaben der Natur zu heilen. Die Menschen waren gesund und wurden sehr alt. Sie lebten in Hütten, die sie aus dem Holz des Waldes bauten, dieses mit Stricken aus Pflanzenfasern zusammenbanden und mit dem Schlamm des Sees luftdicht verputzten. Trocknete dieser, wurde er hart wie Stein und löste sich auch durch die Nebeltropen nicht mehr auf. Die Räume nutzen sie als Rückzugsgebiet, wenn sie sich der körperlichen Lust hingeben wollten. Die meiste Zeit verbrachten sie aber im Freien.

Auch hatten die Menschen gelernt, aus den Funken zweier gegeneinander geschlagener Steine Feuer zu machen. Darüber bereiteten sie ihre Speisen zu. Da fast immer gleichbleibend angenehme Temperaturen herrschten, gebrauchten sie das Feuer selten als Wärmequelle. Nur wenn die Zeit anbrach, in der die Sonne selten das Tal erreichte, wurde es langsam kälter, denn die Wärmespeicher der Felsen leerten sich mit jedem Tag. Außerdem wurde es nur wenige Stunden hell.

Dann zogen sich die Paare in ihre Hütten zurück und frönten ihrer Lust. Die Ergebnisse zeigten sich dann 9 Monate später. So wurden jedes Jahr viele Kinder geboren, die bald fröhlich über die Wiese tollten.

Die Gemeinschaft folgte einigen, wenigen Regeln. Das erlegte Wild, die gefangenen Fische, die gesammelten Früchte und Wurzeln gehörten allen. Als Eigentum sahen sie nur die selbstgebaute Hütte an. Mit 18 Jahren galt ein Mann als erwachsen und durfte sich eine Frau wählen, mit der er sein ganzes Leben lang zusammen sein wollte. Dazu war auch deren Einwilligung notwendig. Dann durften beide eine Hütte bauen und Kinder bekommen. Da das Verhältnis der Geschlechter bei den Geburten sehr ausgewogen war, konnte beinahe jeder und jede einen Partner finden.

Auch wenn alle Bewohner gleichberechtig waren, wurde jedes Jahr zur Wintersonnenwende ein Rat gewählt, der aus drei Männern und drei Frauen bestand, der über eventuelle Streitigkeiten entscheiden sollte und die Geschicke der Gemeinschaft lenkten. Dessen Beistand wurde aber selten benötigt.

Ein Problem zeigte sich nur in der Langweile der Halbwüchsigen. Immer wieder kam es dazu, dass es einen jungen Mann aus Neugierde gelüstete, das Tal zu verlassen. Angesichts der gefährlichen Tiere des Waldes, der Uneinnehmbarkeit der Felswände und der Undurchdringlichkeit der Höhlen gaben die Abenteuerlustigen aber schnell auf. Trotzdem wühlte in einigen weiter die Sehnsucht danach zu erkunden, was sich außerhalb des Tales befand.

 

Der Rat war gerade wieder gewählt worden, als dieser sich zum einem Gespräch zusammenfand. Das Wort führte wie immer Hawi.

„Liebe Freunde, mit Sorge blicke ich auf die Entwicklung in unserem Tal. Wir werden zu viele.“

Die anderen, zu denen auch seine Frau Rugut gehörte, schauten ihn verwirrt an.

„Jedes Jahr werden mehr gesunde Kinder geboren. Wenn diese erwachsen sind, einen Partner gefunden haben, zeugen sie wieder Kinder. Die Wiese wird mit Hütten zugebaut. Da die Tiere unsere Nähe meiden, kommen immer weniger, um sich an dem Gras zu laben. Die Vorräte, die wir für die dunkle Zeit sammeln, werden bald nicht mehr ausreichen, um uns alle zu sättigen. Wenn der Hunger Einzug hält, ist unser Frieden gefährdet. Wir müssen dem vorbeugen.“

In den Mienen der Ratsmitglieder zeigte sich erst Unverständnis, doch dann begriffen sie, dass ihr Vorsitzender Recht hatte.

„Aber wir können den Menschen doch nicht verbieten, Kinder zu bekommen.“, empörte sich Rugut. „Oder sollen die Mütter ihre Babys töten?“

„Ich weiß auch keine Antwort, aber wir sollten unbedingt darüber nachdenken.“

 

Wieder in ihrer Hütte angekommen, schimpfte Rugut gleich los.

„Wir haben drei Söhne und vier Töchter, von denen nur eine keinen Partner gefunden hat. Schon dreißig Enkelkinder lieben ihren Großvater. Bald werden sie erwachsen sein und uns Urenkel schenken. Willst Du ihnen das untersagen?“

Betrübt antwortete Hawi:

„Denkst Du wirklich, es fällt mir leicht, darüber auch nur nachzudenken? Aber fändest Du es besser, wenn die Kinder vor Hunger weinen. Und wo sollen die ganzen Hütten Platz finden? Als wir beide jung waren, starben die Menschen noch an Krankheiten. Das war zwar traurig, doch so wuchs die Bevölkerung in unserem Tal nur langsam. Jetzt müssen wir eine Regelung finden, die unser gedeihliches Zusammenleben sichert. Meine liebe Rugut, Du bist klug und einsichtig. Bitte lass mich mit dieser Angelegenheit nicht allein.“

Die Frau setzte sich auf den Boden und begann zu weinen. Schließlich schluchzte sie:

„Ich erkenne ja, dass Du Recht hast, aber wie können wir diesen Zuwachs an Menschen bremsen, ohne jemanden zu töten?“

„Das wird sich nicht vermeiden lassen, auch wenn allein der Gedanke schon grausam ist.“

Beide schwiegen versonnen. Dann fuhr Hawi fort:

„Wenigstens für eine Weile sollte bei jeder Geburt ein Erwachsener sein Leben opfern. Wenn das nicht geschieht, werden wir alle bald am Hungers sterben.“

„Meinst Du, für so ein Vorgehen kannst Du Freiwillige finden? Wir hängen doch alle an unserem Leben.“

„Liebe Rugut, kennst Du denn kein Mittel, mit dem die Schwangerschaft von Frauen verhindert werden kann?“

„Nein, und ich habe bisher auch nicht danach gesucht.“

„Dann müssen die Männer sich eben beherrschen.“

„Was sollen sie denn sonst machen in der dunklen Jahreszeit? Sie folgen nur ihren Trieben und bekämpfen die Langenweile.“

„Also sollten die Älteren ihr Leben lassen.“

„Mal ehrlich, würdest Du dein Leben lassen wollen, nur damit eines unserer Kinder ein weiteres Baby in die Welt setzt?“

„Ungern, aber wenn es sein muss.“

Rugut stand auf, umarmte ihren Mann und hauchte in sein Ohr.

„Dann möchte ich auch nicht weiter leben.“

Hawi küsste sie.

 

Schon sehr bald beschäftigte sich der Rat wieder mit der wachsenden Zahl der Bewohner des Tals, doch sie trauten sich nicht, eine Entscheidung zu treffen. Irgendwie würde sich die Lage schon von allein entspannen. Wenn sich die Menschen etwas einschränkten, könnten auch alle satt werden. Sie weigerten sich, über den geplanten Tod ihrer Freunde oder gar den eigenen nachzudenken.

Die Tage wurden länger, die Sonne schickte Wärme und das Leben verlagerte sich wieder nach draußen. Die Kinder spielten fröhlich auf der Wiese und die Bäuche vieler Frauen rundeten sich. Über seine Sorgen hatte der Rat Stillschweigen vereinbart, doch in der Bevölkerung machte sich eine spürbare Unruhe breit.

Schon seit vielen Jahren diente eine unterirdische Höhle, in der immer gleichbleibende, niedrige Temperaturen herrschten, als Lagerstätte für die Vorräte. Plötzlich arbeiteten die Menschen wie besessen daran, diese zu füllen. Auch wenn sie stets darauf geachtet hatten, nicht zu viele Fische aus dem See zu fangen, damit die restlichen sich vermehren konnten, wurde nun eifrig gefischt und geräuchert. Die Ermahnungen des Rats zur Zurückhaltung verhallten. Das Wild aus den Wäldern wurde so sehr bejagt, dass es sich bald kaum noch zeigte. Nur die Wurzeln und Kräuter wehrten sich nicht gegen ihre Plünderung.

Als die Tage langsam wieder kürzer wurden, erklang aus den meisten Hütten Baby-Geschrei. Dieses pralle, neue Leben übertönte alle Sorgen. Auch Rugut und Hawi freuten sich über Enkelkinder. Deren Lächeln und unbedarfte Freude erfüllte ihr Herz mit Liebe zum Leben.

Doch dann wurde entdeckt, dass Vorräte aus der Höhle verschwanden. Einige Mitglieder der Gemeinschaft wollten ihre Ration für die dunkle Jahreszeit lieber sicher in ihrer Hütte verwahrt wissen. Und sie waren bereit, ihren Besitz mit Gewalt zu verteidigen. So kam es in der Höhle zu Auseinandersetzungen um den größten Fisch oder das größte Stück Fleisch. Auch vor den Knollen und Gewürzen wurde nicht Halt gemacht. Als dann bei einem Kampf ein Mann so unglücklich auf einen Felsvorsprung fiel, dass sein Genick brach, kam es zum Tumult.

Die Höhle wurde geplündert und jeder schleppte in seine Hütte, was er tragen konnte. Selbst die Mitglieder des Rats sahen keine andere Möglichkeit, um das Überleben ihrer Familien zu sichern. Als die Menschen erkannten, dass die Nahrungsmittel in der Wärme ihrer Hütte schnell verdarben, war es zu spät.

Mit der dunklen Jahreszeit kehrt immer mehr der Hunger ein. Die Menschen begannen sich gegenseitig zu bestehlen und scheuten dabei auch nicht das Töten. Als die Tage wieder länger wurden, schien die Sonne auf eine Gemeinschaft, die von Hass beseelt war. Beinahe jede Familie hatte durch Hunger oder Gewalt Tote zu beklagen. Besonders stillende Mütter und Kinder waren gestorben. Der See war leergefischt und das Wild mied das Tal. So hielt der Hunger an und die Menschen machten sich auf in die Wälder, um Nahrung zu finden. Dort wurden etliche von ihnen Opfer der wilden Tiere.

Rugut und Hawi hatten die Zeit des Mangels ausgemergelt überlebt, doch die meisten ihrer Angehörigen waren gestorben. Nun umgaben sie Menschen, die ohne Rücksicht um ihr Überleben kämpften. Der einstige Frieden war verloren. Sie sahen für sich keinen Platz mehr in einer Gemeinschaft ohne Zusammenhalt, gegenseitige Rücksichtnahme. Zwar war das Ziel, die Bevölkerung in dem Tal wieder zu verkleinern, erreicht, doch die Seelen der Menschen waren vergiftet. Also mischte Rugut aus Kräutern einen Trank, der beide für immer einschlafen lassen würde. Nun stand dieser vor ihnen.

„Ich mache mir große Vorwürfe.“, begann Hawi. „Wir hatten die Katastrophe kommen sehen und waren zu feige, um zu handeln.“

„Vielleicht hast Du Recht.“, stimmte ihm Rugut zu. „Aber war es nicht bereits zu spät, als wir im Rat darüber sprachen? Hatten wir es uns nicht viel zu lange bequem in unserem Wohlstand gemacht?“

„Sicher und alles schien so einfach. Das sorglose Leben machte uns blind für die Zukunft.“

„Aber dürfen wir uns jetzt aus der Verantwortung stehlen?“, gab die Frau zu bedenken. „Haben wir nicht durch unsere Erkenntnis die Pflicht, den Menschen einen Weg zu zeigen, wieder satt und zufrieden leben zu können.“

„Vielleicht, doch den alten Zustand wieder herzustellen, würde viele Jahre dauern, Verzicht und Einsicht bedeuten. Das werden die meisten Menschen kaum einsehen. Sie stecken schon bis zum Hals im Sumpf und sinken weiter.“

Rugut ging zur Öffnung in der Hütte, um diese mit einem Ledertuch zu schließen. Beide wollten ungestört von Leben Abschied nehmen. Sie blickte hinauf und stutzte. Dort wo normalerweise der Nebel den Blick auf den Himmel verschloss, zeigten sich leuchtende Punkte. Zum ersten Mal sah sie Sterne.

„Hawi, kommt bitte her und schau. Es gibt Hoffnung.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 23.11.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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