ln den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war es eine
Abenteuerreise für den zehnjährigen Ödipus Lustig mit Mutter „Lissken" alias
Luise zu Fuß und in der Straßenbahn von Ergste über Schwerte nach
“Glabotki” zu reisen, also in die Gegend um Gladbeck und Bottrop, die beiden
Bergbaustädte, und Kirchhellen, das größte Dorf Deutschlands.
Als “Glabotki” bezeichnete man die Dreifaltigkeit aus zwei Städten und einem
Dorf zuweilen, weil in ihnen der Anteil eingewanderter polnischer Bergleute
und ihrer Familien recht groß war.
Deswegen hörte man in “Glabotki” besonders häufig polnisches Deutsch bzw.
deutsches Polnisch.
Allerdings bleibt zu fragen, warum die Region nicht konsequenter und
polnischer „Glabotski" hieß?
Auch sehr gute Fußballspieler trugen nahe der Dreifachsiedlung oft eher
polnische als deutsche Namen wie etwa der bekannte Torwart Orzessek von
Schalke O4, die womöglich noch berühmteren Schalker Feldspieler Tibulski
bzw. Koslowski samt den zwei ausgezeichneten Torhütern Kwiatkowski und
Tilkowski Borussia Dortmunds.
Die Mischsprache aus Polnisch und Deutsch sprach auch “Ödis”
Lieblingstante „Mimmi", die eigentlich vornehm „Wilhelmine", nach dem
deutschen Versagerkaiser und Hollanddeserteur Wilhelm ll. hieß.
„Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm nicht wieder haben!", sang man
damals noch häufig. Oder habe ich da vielleicht ein Wort zuviel eingefügt?
Auf dem Gladbecker Marktplatz, wohin der Junge damals seine Tante
manchmal begleitete, vernahm er einst folgenden Dialog zwischen Tante und
Marktfrau auf Ruhrgebietisch, den er fast nicht verstanden hätte:
„Wennze mich gezz nich de Bananen fürn Fünwa lässt, kannze watten, bisse
schwazz wirss, ehsse von mich mah widda hen Fennich kriss, olle
Halzappschneiderin. Kumma hier! Sind schonn ganz faul und matschich
diese Biesta!"
„Mimmi" fuhrwerkte in den Bergen krummer Früchte herum und fand
zielsicher zerquetschte und geschwärzte heraus, die sie der Anbieterin
empört unter die Nase hielt.
„Ach, watt hasse denn! Hen Bissken Mist iss ehm imma dabei. Abba, wennze
die Dunklen haam willz, kannze se fürde Hälfte mitnehm. Ich weiß ja, watte
fürn Geizkragen biss!"
„Mimmi", die ältere Schwester „Lisskens“, und viele andere Tanten, Onkel,
Kusinen und Vettern waren die Ziele der Reise vom Nordrand des
Sauerlands in das Herz des Ruhrgebietes. Da wohnten nämlich nicht nur
Tante „Mimmi" und Onkel Ewald samt Tochter Liesel, Nachname übrigens
typisch deutsch: „Wissusek“, sondern auch Tante Else und Onkel August mit
Tochter Elschen und Sohn Helmut, Tante Lene und Onkel Willi und die
Töchter Marlene, Mietze und Sohn Klaus.
Tante „Mimmi", bei der Ödipus manchmal in den Ferien mehrere Tage zu
Besuch blieb, wohnte in der Gladbeck-Zweckeler Gluckstraße, die anderen
Verwandten anderswo in Gladbeck.
Bei einem Osterbesuch geschah etwas so Seltsames mit dem kleinen
Ödipus, dass es hier unbedingt zu berichten ist.
Es war ein Osterfest in der noch sehr, sehr kargen Nachkriegszeit und
trotzdem stopften seine Tanten, alle herzliche mollige Ruhrgebietsfrauen vom
Schlage „Mimmis", ihren ständig hungrigen Neffen dermaßen mit bunten
Zucker-, riesigen Schokoladen- und kunstvoll bemalten Hühner- bzw.
Osterhaseneiern voll, dass gänzlich Unerhörtes geschah und Ödipus Worte
äußerte, die niemals vorher über seine Lippen gekommen waren: „Nein,
danke, ich bin wirklich satt! Und in meine Taschen, da passt auch überhaupt
nichts mehr 'rein.“
Daraufhin sahen die Tanten Mutter „Lissken" besorgt an und fragten: „ Sach
maah, iss dein Junge krank?"
Aber nicht nur, weil ihn in Gladbeck das Tanten- und Onkelparadies samt
angeschlossenem Schlaraffenland erwartete, reiste Ödi so gern dorthin. Die
abenteuerlich komplizierte Straßenbahnfahrt ins Ruhrgebiet gefiel ihm
womöglich noch besser als der anschließende Aufenthalt im Pott.
Den Auftakt bildete ein kurzer Fußmarsch von Ergste durch die Ruhrwiesen
zum Schwerter Markt. „Lissken" und ihr Sprößling wanderten entlang des
Bahndammes der Strecke Dortmund - Iserlohn, überquerten die Ruhr mit
Hilfe der Fußgängerbrücke, deren Eisenstufen und Holzplanken ganz
unterschiedlich unter den Füßen klangen und schlängelten sich am Nordufer
des Flusses vorbei in die Stadt.
Dann bestiegen sie die erste Straßenbahn.
Sie überwand mit Mühe, viel Geklingel und Gepolter den Freischützberg,
bevor sie seinen anderen Abhang nach Berghofen hinunter schoss.
Über Hörde, wo viele Reisende, auch „Lissken" und Ödipus, umsteigen
mussten, erreichten sie die Dortmunder Innenstadt.
Von dort rumpelten die zwei Ergster Unterdörfler über unendlich lange
Geleise immer in Richtung Westen, bis schließlich nach zahlreichen
Bahnwechseln Gelsenkirchen-Buer und dann Gladbeck erreicht war.
Aber was sah der neugierige Jungmann unterwegs alles? An vielen rostigen,
ehemals, grün, blau oder rot gestrichenen, dicken Enden langer Rohre
dampften milchweiße Wolken, ballten sich kupferfarbene Abgaskissen und
gelbe Schwefelschwaden.
Aus hohen braunen Ziegelschloten stiegen dunkle Rauchfahnen steil in den
schwarzgrauen Rußhimmel. Verwitterten Hauskaminen entquoll bläulicher
Qualm.
Metallröhren durchstießen riesige Fabrikdächer und stachen wie lange Finger
in die Luft. Flammenzungen zuckten gelbrot oder glühten dunkel. Weiße
Glutspeere ritzten die Atmosphäre.
Auf hohen Gerüsten rotierten gewaltige Eisenräder. Ihre Speichen zerhackten
in unermüdlichem Rhythmus das fahle Licht. Wie riesige Galgen
beherrschten die Fördertürme der Zechen die luftige Kuppel der Oberwelt.
Am Boden krochen und wanden sich, hier verbeult, dort zu gewagten Kurven
verbogen, an anderen Stellen in mächtige Knoten verknüpfte Metallschlangen, deren lnnneres Gas, Wasser oder Öl enthielt, wie „Lissken"
behauptete, aber ihr Sohn nicht immer glaubte, und manchmal sogar Dinge,
die „Weiß ich auch nicht!" hießen. Sie riefen bizarre Phantasievorstellungen
aus den Materialien Milch und Honig, aber auch Schleim und Eiter im Gehirn
des Jungen hervor.
Schmutzige Teiche, in denen rostbraune oder tintige Wellen schwappten,
blinkten auf öden hässlichen lndustriebrachen, die hölzernes, eisernes oder
steinernes Gerümpel chaotisch befleckte.
Schnurgerade Kanäle und Bäche, zur Ordnung gerufene Brüder und
Schwestern der windungs-, kurven- und schleifenreichen anmutigen Ruhr,
zerteilten die weiträumige Stadtlandschaft. Über die breiten Wasserstraßen
zogen langsam bunt bemalte Kähne. Ihre Ladungen aus Weizen, Sand,
Kohlen oder Steinen drückten sie fast auf den Grund. An Deck kläffte oft ein
kleiner Köter, spielte dann und wann ein einsames Kind. Am Heckhaus wirkte
manchmal fleißig die Schiffsfrau, und Wäsche flatterte farbenprächtig im
Wind.
Hin und wieder, selten, vereinzelt begrünten kleine Wäldchen die Häuser und
Fakriken überzogene Szene, wiederkäuten auf üppigen Wiesen schwarz- oder
rotbunte Kühe gelassen das saftige Gras.
Doch nicht nur Fabriken, Zechen, Häuser, Kanäle und Schiffe registrierte mit
wachem Interesse der dörfliche Beobachter. Viele Gerüste verdeckten
wacklige Kirchtürme, zerbombte Ruinen pflasterten seinen Weg von
Schwerte bis Gladbeck. Funktionslos ragten kahle Riesenwände aus kalkigen
Trümmerbergen. Feste Mauern und Decken hatte der Krieg zu Staub
zermalmt, mächtige Metallträger der Druck ungeheurer Explosionen zu
verkrüppelten Eisenstöcken verbogen. Vor Kellerlöchern hingen Gardinen. ln
Holz- und Wellblechhütten vegetierten Alte und Junge. Jugendliche turnten
gefährlich in Wohnungen, denen eine, gelegentlich sogar zwei Seiten fehlten,
oder auf Treppen, die nirgendwo endeten. Doch hier und da glänzte ein
Neubau, wuchs friedliches Menschenwerk aus unmenschlichem
Schlachtenschutt.
Der Junge konnte gar nicht schnell genug gucken, um alle
Sehenswürdigkeiten mitzubekommen. Dann löschte die Dämmerung den Tag
aus. Überall flammten Lichter auf. Den Reisenden ängstigte diese helle Flut
ein wenig. In seinem Dorf folgte dem Abend sanft die samtene Ruhe der
Nacht. Zwischen Gladbeck und Dortmund jedoch gab es keine richtige ,
Dunkelheit. Lichter und Feuer erstrahlten und blinkten, Zeichen des
vielfältigen, unermüdlichen Lebens. Wie in einem Ameisenhaufen, dessen
Bewohner weder rasten noch schlafen, kam „Ödi” sich vor, ziemlich klein. Das
gefiel ihm nicht. ln diesem Gewimmel kannte er nur seine paar Verwandten.
„Und ob ich hier mit der Straßenbahn durch einen Lichtsee rattere oder nicht,
wen kümmert das schon? Aber „Lissken“ ist ja auch noch hier." Die Gedanken
über die eigene Bedeutungslosigkeit angesichts des Häuser- und
Menschenmeeres senkten ein wenig „Ödis” hitziges Reisefieber. Aber schnell
strömten viele strenge und milde Gerüche in seine empfindliche Nase und
vertrieben die Schattengefühle.
Ln Dortmund waberte fetter Schlempengeruch der vielen Brauereien. Dieses
Aroma war dem Jungen sehr vertraut, denn es hing oft über den Dächern
Ergstes, wenn die dortige Schnapsbrennerei ihren „Hiddinger Silberbrand"
produzierte. Gelsenkirchen prunkte mit derbem Parfüm und roch
unverwechselbar nach faulen Eiern. Gladbeck stank aus allen Poren nach
Teer, und über dem ganzen Ruhrgebiet lag eine Glocke aus Abgasgeruch,
der Kokereien und Zechen entströmte, und Ödipus meinte, er habe ihn
ähnlich an frischen Brötchen wahr genommen.
Er bekam großen Hunger. Ein letztes, lang gezogenes Quietschen der
Straßenbahn. Die Endstation war erreicht. Nach einer kleinen Fußstrecke
standen „Ödi“ samt „Lissken“ vor dem Wohnhaus der Verwandten in der
Zweckeler Gluckstraße. Tante „Mimmi“, groß und kräftig, mit straff zurück
gekämmtem und zu einem Nackenknoten gerafften Haar, wartete plus
Tochter, Nichte und Kusine Liesel schon vor der geöffneten Haustür auf die
Ankömmlinge: „Na, seitta abba gezz vollkommn pünktlich und happt
beschtimmt ganz viel Hunga. Liesel hat mich schon viel Essen aufm Maakt
und inne Geschäffte gekauft. Da könnta gleich essen, bissa platzt. Ich weiss
ja dat der kleine Kerlh imma hungrich iss“, sprach die Tante herzlich zur
Begrüßung.
Tochter Liesel, später Rektorin einer Gladbecker Grundschule und schon drei
Jahre auf dem Mädchengvmnasium, runzelte ein wenig die Stirn über das ,
„Mimmische“ Pottdeutsch. Aber eine Mutter zu kritisieren und erst recht diese,
und das zur damaligen Zeit?
Es hätte außerdem sowieso ganz und gar nichts bewirkt und obendrein auch
„Mimmis“ höchst stabiles Selbstbewusstsein nicht im Allergeringsten
angekratzt.
Der „kleine Kerlh“ fühlte sich natürlich ein wenig herab gesetzt, aber nur ein
sehr, sehr kleines Bisschen angesichts der leckeren Speisengebirge, die auf
ihn warteten.
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Der Beitrag wurde von Hartmut Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.12.2018.
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