Heinz-Walter Hoetter

Alle 1000 Jahre eine neue Chance

Von irgendwo her erklang eine künstliche Stimme, die sprach:

„Wenn 1000 Jahre vorüber sind, erhält jede verdammte Seele eine neue Chance zur Läuterung und einen neuen Körper, einen sog. KLON. In einer künstlich erschaffenen Realität muss sie sich wegen ihrer begangenen Sünden neu bewähren.

Diese neue Realität enthält immer eine ganz bestimmte Situation aus ihrem eigenen, vergangenen Leben, in der sich das Original gegenüber der Schöpfung verbrecherisch verhalten hat. Bewährt sich die Seele und ändert sie ihr Verhalten zum Guten, wird sie geläutert und ist frei.

Versagt sie aber, muss sie für weitere 1000 Jahre in die „Dunkelkammer“, zurück in einem schrecklichen, völlig hermetisch abgedichteten Gefäß ohne Licht, ohne die befreiende Weite eines unendlichen Universums. In diesem Urnen ähnlichen Gefäß ist sie in ihrer eigenen Sünde gefangen, in der sie fürchterliche Ängste und abgrundtiefe Verzweiflungen erfährt, bis sie endlich wieder eine neue Chance bekommt, um sich zu läutern und zu befreien für ein höheres Sein.“

 

***

 

Als ich diesem Mohammed zum ersten Mal begegnete, stolperte er gerade unbeholfen und wie blindlings die Flurtreppe hinauf. Er sah aus, als wäre ihm etwas Unglaubliches, ja etwas total Außergewöhnliches widerfahren.

Im nächsten Augenblick stießen wir auch schon mit aller Wucht zusammen, sodass er taumelnd nach hinten in den Gang schleuderte, sich noch einige Male im Kreise drehte, bevor er wie in Zeitlupe langsam vor mir zu Boden sank. Mir war glücklicherweise nichts passiert.

Ich konnte ihn deshalb rechtzeitig auffangen und hielt ihn fest.

Durch meine lauten Hilfeschreie aufmerksam geworden, eilten einige Kolleginnen und Kollegen herbei, die sich sofort mit mir zusammen um den bewusstlosen Mann kümmerten. Wir betteten Herrn Mohammed auf eine Couch im Raucherzimmer unserer Abteilung, legten ihm einen Eisbeutel auf die Stirn und hüllten ihn in eine wärmende Decke.

Wegen seines schlechten Allgemeinzustandes rechneten wir mit dem Schlimmsten, deshalb rief einer der besorgten Mitarbeiter sogleich im nahe gelegenen Krankenhaus an, das daraufhin vorsorglich einen Rettungswagen losschickte.

Doch als der Rettungsdienst endlich kam, saß Herr Mohammed bereits schon wieder aufrecht und sicher auf einem der herumstehenden Stühle, hatte die Couch ohne fremde Hilfe einfach verlassen und sah uns Anwesenden mit mitleidigem Blick, ja irgendwie widerwillig ablehnend an.

Ironie umspielte seine etwas blass gewordenen Lippen, die ab und zu nervös hin und her zuckten.

„Bitte entschuldigen sie mein ungeschicktes Verhalten. Es wird nicht wieder vorkommen. Ich verspreche es ihnen“, murmelte er leise mit gesenktem Kopf vor sich hin.

Dann stand er auf und verschwand, ohne auch nur ein weiteres Wort zu sagen. Danach sah ich ihn eine Zeit lang nicht mehr.

Später traf ich ihn wieder. Zu meinem allergrößten Erstaunen wurde er in meine Abteilung versetzt und schien ein äußerst fleißiger Mitarbeiter zu sein.

Eigentlich wusste ich nicht so recht, was ich von ihm halten sollte, denn schließlich stürmte ja nicht jeden Tag einer derart ungeschickt und wie in Trance die Treppe hinauf. Manchmal tanzte er sogar derart ausgelassen um seinen Schreibtisch herum, dass alle übrigen Kollegen nur noch mit dem Kopf schüttelten und ihn für irre hielten. Trotzdem schien mir Herr Mohammed nicht definitiv verrückt zu sein. Ich wurde aber einfach nicht schlau aus ihm, je länger ich ihn beobachtete.

Einen Tag nach seinem schlimmen Zusammenbruch war Mohammed schon wieder ziemlich gut auf den Beinen, tat so, als wäre nichts geschehen und saß danach die ganze Zeit tief in seine Arbeit versunken hinter seinem mit Schriftstücken und Akten übersäten Schreibtisch.

Das allerdings keineswegs so verbissen oder verkrampft wie wir es alle selbst nach dem bedauerlichen Unfall waren, sondern er benahm sich schlichtweg gelassen und völlig beherrscht. Seine Bewegungen waren erstaunlich flink. Ich traute meinen Augen kaum, mit welcher Geschwindigkeit er am Computer seine Texte eintippte, komplizierte Tabellen ausfüllte und eine Menge anstehender e-Mails bearbeitete und als Antwort wieder verschickte.

Erst später erfuhr ich von meinem Boss, der mir verraten hatte, als er von dem Malheur im Flur hörte, dass Herr Mohammed erst vor kurzem befördert worden und später dann in unsere Abteilung versetzt worden war. Aus mir bis dahin unerfindlichen Gründen wollte er, dass er sich in meiner Nähe aufhielt.

Wir mussten uns also alle mit solch einem Streber abfinden, ob es uns nun gefiel oder nicht, wir hatten einfach keine andere Wahl. Das Leben spielte einem bisweilen hässliche Streiche, dachte ich so für mich. Oder lag es vielleicht an mir, dass alle so kam, wie es kommen musste?

Irgendwann verschwand Mohammed eines Tages einfach. Sein Kollege Tom Whitney, der ihm direkt am Schreibtisch gegenüber saß, hatte seine Bitte um Kaffee nicht einmal vollständig zu Ende formulieren können, da war er auch schon weg und verschwunden. Keiner von uns wusste, wo er hingegangen war.

Tom holte sich den Kaffee selbst, ging mit seinem voll gefüllten Becher hinaus zum Trinken auf den Flur um seine müden Beine etwas zu vertreten, als plötzlich zwei herausgeputzte Wachmänner des Sicherheitsdienstes an der nächsten Flurecke seinen Weg kreuzten und fast mit ihm zusammengestoßen wären. Erschrocken wich Tom zurück und ein Teil des Kaffees ergoss sich über die beiden Männer.

Dies schien offenbar nicht sein Tag zu sein. Auch Entschuldigungen, lieb gemeinte Beschwichtigungen, aufrichtiges Bedauern und das Angebot der sofortigen Reinigung und Entfernung der Flecken trafen nicht auf das wohlwollende Verständnis der beiden Wachmänner. Mürrisch und ein paar unhöfliche Worte murmelnd zogen sie weiter.

Wieso kam der Sicherheitsdienst ausgerechnet zu uns? Suchten die beiden Typen möglicherweise nach diesem Mohammed oder wollten sie nur wissen, wo er sich jetzt herumtrieb? Meine diesbezüglichen Fragen waren nicht völlig unberechtigt, denn in letzter Zeit spielten sich in unserer Abteilung seltsame Dinge ab, von denen ich glaubte, dass sie auch etwas mit mir zu tun hatten.

Deprimiert verließ Tom den Ort des Geschehens. Beinahe wäre er auf dem Rückweg mit der sich öffnenden Bürotür zusammengestoßen, durch die Mohammed plötzlich wie aus dem Nichts hindurch kam. Er trug ein paar Akten unter dem Arm, die er im gegenüberliegenden Aktenschrank in aller Ruhe ablegte und ordentlich verstaute. Dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück und vertiefte sich in seine Aufgaben wie keiner von uns, wie wenn abermals nichts geschehen wäre. Allerdings waren nicht alle Kollegen mit seinem seltsam komischen Verhalten einverstanden, was mir nur verständlich erschien.

Herr Mohammed wagte es sogar, seinen Posten noch vor Dienstschluss zu verlassen. So eine Frechheit, dachte ich, als ich davon erfuhr. Deshalb versuchte ich heraus zu bekommen, was er vorhatte. Über die Haus internen Überwachungskameras konnte ich seine geheimnisvollen Wege genau verfolgen. Ich suchte insgeheim nach einem Vorwand, um ihn loszuwerden.

Bald hatte ich ihn ausfindig gemacht.

Schnellen Schrittes verließ er gerade das Bürogebäude, eilte über die belebte Straße und lief dann, nach einem kurzen, flüchtigen Blick auf die Uhr, schnell bis zur nächsten Kreuzung. Mittlerweile war ich an das Panoramafenster meines Büros im sechsten Stockwerk getreten und konnte von hier oben aus alles genau beobachten.

Neugierig blickte Mohammed zur anderen Seite der Kreuzung hinüber. Welch holdes Wesen stand dort, was für eine Schönheit! Offenbar hatte er sich in das hübsche junge Mädchen verliebt. Oder irrte ich mich vielleicht nur?

Ich sah, wie er wiederholt zu seinem Handgelenk spähte und auf den Fußballen unruhig auf und ab federte. Dann setzte er zum Überqueren der Straße an.

Der Kerl muss wahnsinnig sein, dachte ich.

Die Fußgängerampel wechselte schlagartig von Grün auf Gelb, die Farbe der Hoffnung und der strahlenden Sonne. Sekunden danach sprang sie auf Rot um.

Das junge Mädchen auf der anderen Seite der Kreuzung lief plötzlich zu ihm rüber, ohne auf die Stopampel zu achten. Ein schlimmes Unglück braute sich offenbar zusammen. Mohammed hatte dies anscheinend rechtzeitig bemerkt und sprintete plötzlich los.

Würde es reichen? Dieser Gedanke kam mir unwillkürlich in den Sinn, als ich sein gewagtes Manöver verfolgte.

Die Autos rasten los. Links heulten Motoren auf, rechts blendete die Sonne und vor ihm eine Silhouette auf dem Fußgängerstreifen. Lautstarke Flüche, qualmende und quietschende Reifen, erschreckte Gesichter mit bösen Blicken erzürnter Autofahrer. Ein rasend rennender Mohammed, der verzweifelt versuchte, das junge Mädchen hechtend umarmend von der gefährlichen, stark befahrenen Straße zurück zu werfen. Der Tod des Mädchens schien nahe.

Doch es kam alles ganz anders. Ich war ziemlich erstaunt.

Über eine spezielle Abhöranlage konnte ich das Gespräch der beiden mitverfolgen.

„Sind Sie in Ordnung?“ hörte ich ihn zu meiner großen Überraschung fragen, als er mit dem jungen Ding zusammen stürzend den sicheren Fußgängerweg erreichte.

Mohammed rappelte sich hoch, wischte sich den Staub von den Schultern und gab ihr die Hand.

„Danke! Mir ist nichts passiert!“ sagte sie.

Sie ließ sich von ihm führen, leicht auf ihn gestützt.


"Der Tag ist heute wunderschön. Ich würde Sie gerne nach Hause begleiten und ein wenig mit Ihnen Plaudern“, sagte Mohammed.

Aha, so machten es immer die scheinbaren Helden seiner Welt, die höflichen Frauenverführer und eitlen Machos, welche alles Weibliche nur als Sexobjekte betrachteten, was auch jetzt Mohammed wohl in seinem tiefsten, männlichen Inneren dachte, schoss es mir in den Sinn. Irgendwie sah ich mich wieder einmal bestätigt.

Ich konnte plötzlich seine Gedanken lesen, so wie in einem offenen Buch. Sie waren erfüllt von Perversitäten der allerschlimmsten Art. Trotz seiner guten Tat vorhin brodelten böse Hintergedanken in seinem kranken Hirn, das ausschließlich von animalischen Trieben gesteuerte wurden.

 

„Das wird nicht nötig sein. Ich finde mich schon alleine zurecht“, antwortete das überaus junge hübsche Mädchen mit klarer, ruhiger Stimme.

Mohammed musterte sie ungläubig, ja schon fast abschätzig. War das der Dank für seinen lebensrettenden Einsatz? In Wirklichkeit aber dachte er nur an alle möglichen Perversitäten mir ihr.

Sie erwiderte seinen überraschten Blick hart und bestimmt. Die junge Frau konnte ebenfalls seine schlimmen Gedanken lesen.

Auch Mohammed hatte das bemerkt.

„Wieso konnten Sie wissen, was ich denke? Wie?“ fragte er sie mit leiser, schon fast unterwürfiger Stimme.

„Ich kann es nun mal. Nun, hätte ich mich auf ihre sexuellen Fantasien einlassen sollen? Niemals! Ein alter Mann wie Sie sollte sich mit anderen Dingen beschäftigen, als nur daran zu denken, Mädchen und Frauen penetrieren zu wollen“, sagte sie höhnisch.

Mohammeds schmutzige Hintergedanken offenbarten seinen wirklichen Charakter. Seine sexuellen Fantasien rasten wie irre im Kreis herum, die ausschweifend waren und in ihrem Verlangen nach ihrem jungen Geschlecht hemmungslos gierten.

Gleichzeitig ahnte er aber auch, warum er gescheitert war. Er hatte alles bereits schon einmal erlebt. Immer und immer wieder. Er konnte sich einfach nicht ändern. Die quälenden Erinnerungen an seine gescheiterten Versuche der Läuterung übermannten ihn. Schreiend wie ein kleines Kind sackte er zu Boden und verkrümmte sich wie zu einem zuckenden Fragezeichen. Hilflos und elendig blieb er eine Weile so liegen.

„Ich bin verflucht! Ich bin verflucht!“ rief er mit heiser gewordener Stimme und erschrak plötzlich, denn jemand rief laut nach ihm.

 

„MOHAMMED, stehen Sie auf und kommen Sie sofort zurück!“

Es war die unüberhörbare Stimme des GROßEN VERFÜHRERS, des ewig strafenden WIEDERHOLERS aller verdammten Seelen.

Er erhob sich mühsam von seinem Platz, wischte sich noch ein letztes Mal den Staub von der flatternden Hose und sah sich um.

Es war alles wie beim vorherigen Mal. Genau so.

Eine tiefe, dröhnende Stimme hallte aus dem Nichts, und nur er schien sie hören zu können. Im gleichen Moment veränderte sich die Umgebung, löste sich einfach unaufhaltsam auf bis sie ganz verschwunden war.

 

Auch sein eigener Körper wurde transparent. Kurz bevor er sich ganz in Luft aufgelöst hatte, trat eine dunkle Seele aus ihm heraus, die wie unter einem geheimnisvollen Zwang zu ihrem schrecklichen Bestimmungsort zurückkehren musste, einem Urnen ähnlichen Gefäß, mit einer pechschwarz gähnenden Öffnung in der Mitte, in die Mohammeds Seele unaufhaltsam hinein gesogen und für weitere Tausend Jahre darin versiegelt wurde.

Ein silbrigfarbiger Deckel erschien aus dem Nichts. Wie von Geisterhand geführt legte er sich auf die schwarze Öffnung, die er mit einem sanft zischenden Geräusch verschloss. Das Gefäß, auf dem er sich nun befand, war eines von Abermillionen, die in der Hölle der Verdammten dicht nebeneinander standen.

Der nächste Test zur Läuterung Mohammeds wird erst wieder in 1000 Jahren sein.

 

 

Ende

 

©Heinz-Walter Hoetter


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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