Christiane Mielck-Retzdorff

Das Weihnachtsgedicht

 

 

Kurz vor dem Ende der Deutschstunde verkündete die Lehrerin:

„So, wir haben uns in den letzten Wochen ausgiebig mit Lyrik beschäftigt. Nun möchte ich wissen, welche poetischen Talente in Euch schlummern. Das Weihnachtsfest steht bevor, weswegen Ihr die Hausaufgabe bekommt, bis zur nächsten Stunde ein Weihnachtsgedicht zu schreiben. Es muss mindesten 6 Zeilen umfassen und in Paar- oder Kreuzreimen verfasst sein. Dabei dürft Ihr euch ruhig der schlichten Alltagssprache bedienen.“

Schon klingelte es und die Schüler stürzten in die Pause.

Erst nachmittags erinnerte sich Paul mit Grauen an die Aufgabe. Seine Leistungen im Fach Deutsch waren sowieso schlecht und nun sollte er auch noch dichten. Schelmisch lachte er, denn es war leicht, diese Forderung der Lehrerin zu erfüllen. Im Internet fanden sich bestimmt viele Weihnachtsgedichte unbekannter Laienschriftsteller, von denen er eines übernehmen konnte. Schnell fand er, was er suchte, wählte eine verschnörkelte Schrift für den Text und druckte ihn aus.

Am folgenden Tag übergab er der Lehrerin das Gedicht, die sehr erstaunt darüber war, wie schnell der sonst eher faule Paul die Hausaufgabe erledigt hatte. Doch auch sie kannte sich mit dem Internet aus und bemerkte bald, dass der Text nicht von ihrem Schüler sondern einer anderen Person gedichtet worden war.

Nach der nächsten Deutschstunde bat sie Paul zu einem Gespräch und offenbarte ihm, was sie entdeckt hatte. Streng urteile sie, dass das Verwenden von fremden Texten ohne den Urheber zu nennen, ein Straftatbestand sei. Wenn Paul nicht bis zur nächsten Stunde ein von ihm selbst verfasstes Gedicht vorlegen würde, müsste sie seine Eltern über das kriminelle Verhalten ihres Sohnes aufklären.

Paul war wütend, dass sein Trick aufgeflogen war und fürchtete, dass, wenn seine Eltern davon erfuhren, er zur Strafe das von ihm gewünschte, neuste und modernste Smartphone nicht zu Weihnachten bekommen würde. Das wäre eine Katastrophe, würde seinem Ansehen bei Gleichaltrigen erheblich schaden. Also setzte er sich nachmittags schweren Herzen hin und versuchte zu dichten.

Doch zum Thema „Weihnachten“ fiel ihm überhaupt nichts ein. Also bat er seine Facebook-Gemeinschaft um Hilfe. Die Antworten kamen prompt.

‚ An diesem Tag feiern die Menschen die Geburt eines Kindes armer Bauern. Es kam im Stallmist zur Welt und hatte nicht mal ein Bett.‘

‚ Weihnachten wird der Abholzung der Wälder gedacht. Als Symbol diene dafür ein sogenannter Tannenbaum.‘

‚ Es wird gefeiert, weil Außerirdische, die von Himmel hoch herkamen, auf der Erde landeten.‘

‚Das Fest ist eine Erfindung der Großkapitalisten um den Konsum anzukurbeln.‘

‚Mit Lieder wie „Leise rieselt der Schnee“ wird auf den Klimawandel aufmerksam gemacht.‘

Diese Vielzahl von Erklärungen half Paul aber nicht weiter. Was verband er mit Weihnachten? Seine Eltern, Geschenke, Gänsebraten, den Austausch mit etlichen Leuten über Facebook, Instagram, Fotos machen und in die Welt versenden. Er begann zu schreiben.

„Für euch schreib ich das Gedicht.

Meine Worte eher schlicht,…“

Das wollte die Lehrerin doch. Schlichte Alltagssprache.

„denn ich bin doch kein Poet,

weshalb mir auch der Spaß vergeht.“

Paul grinste zufrieden.

„Nun will ich die Geschenke haben

und mich am Gänsebraten laben.

Haben wir dann aufgegessen,

könnt ihr mich auch gleich vergessen.

Wir tun dann, was uns gefällt,

in unsrer schönen Handy-Welt.“

Das Gedicht gefiel seinen Eltern bestimmt, weil es genau ihr Weihnachtsfest beschrieb.

 

 

 

 

 

 

 

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