Gherkin

ALLEIN IM BUS

Tach auch, ein leicht verbittertes Mitglied des Prekariats richtet vertrauensvoll das Wort an Euch, die Ihr ebenfalls mühselig dahin schreitet und ohne jeden Zweifel beladen seid, mit all den Unbilden des völlig unwägbaren Lebens wohlfeil vertraut. Jeder Tag ein Abenteuer, jedwedes Zögern und Zaudern kann das Ende bedeuten. Denn merke: Im Krieg und in der höchsten Not bringt der Mittelweg den Tod! Immer!

Hier also sitze ich nun, schwer vom Leben gezeichnet, und trauere den verpassten Gelegenheiten nach. Und wirklich ALLES, was ich noch wissen möchte, ist dies: Wer zum Teufel hält den Pinsel? Wer zum Geier will ausgerechnet MICH zeichnen? Und warum dauert all das zum dreimal vermaledeiten Hugo so lange? Einen flotten Strich bringt „Meister Leben“ nun wirklich nicht zustande. Zeichnet akribisch langsam, setzt an, setzt ab, wischt und schmiert, bessert aus, bessert nach, prüft und sinniert, lässt Zeit verstreichen, mischt Farben, prüft Perspektive, Licht und Schatten, verwirft eine Idee, grundiert, geht ins Detail, übermalt, zerreißt mitunter die Arbeit und beginnt neu (das allerdings kommt nur selten vor). Sicher, Dämmern gehört mit zum Handwerk - aber die Arbeit ganze Jahre zu unterbrechen, das erfordert Mut, und lässt die Nähe zum eigenen Werk verloren gehen.

Ich bin kein Bob Ross, eine auch nur gelinde Form von „Joy of Painting“ ist mir so fern wie einer Kuh das Tandem-Radfahren. Der gute Mann verstarb übrigens am 4. Juli 1995. Er hält also möglicherweise den Pinsel. Nur so eine Idee...  

Der Break. Ist er hilfreich beim Neustart? Gebiert diese Taktik letzten Endes geniale Meisterwerke? Oder dilettiert der Meister jahrelang vor sich hin? Spricht dem alten Port in nicht unerheblichem Maße zu? Raucht, bedenkt - und führt Tagebuch, malt aber nicht/kaum. Ist bei Befragung aber dennoch total von sich und der Idee an und für sich überzeugt. Meint, die Dinge zu einem positiven Abschluß bringen zu können. Glaubt an sich. Glaubt an sein Werk. Glaubt stringent. Ruht sich aber erst mal aus.

Es gibt so vieles zu bedenken: Worauf male/zeichne ich? Mit welchem Material bin ich vertraut, welche Materialien muss ich näher kennenlernen? Pinsel, Bleistift oder Feder/Filzstift/Finger? Öl? Aquarell? Buntstift-Zeichnungen? Schwarz-weiß? Besser gar nicht zeichnen/malen? Mangels Talent? Mangels Mädels, die sich vor mir, dem Künstler, nackt präsentieren wollen? Muss ich denn überhaupt Akt malen? Muss ich überhaupt malen? Fragen über Fragen. Antworten, wie immer, wenig hilfreich oder auch, bisweilen, unbefriedigend.

Das Alter ist ein seltenes Privileg, das nicht jedem passt, aber doch sehr vielen leider vorenthalten bleibt. Das Alter ist magisch, doch für manche Menschen verblasst die Magie zusehends, je schlimmer all ihre Beschwerden und die Zipperlein werden. Sie können das „Altersgold“ nicht mehr in all der Pracht ermessen. Sie schimpfen mehr, als dass sie sich der Vorteile erfreuen. Ihre Freude am Leben und am Alter weicht mehr und mehr dem Neid auf die Jungen/Jüngeren. Die Nähe zum Tod lässt sie in zunehmendem Maße verbittern. Die Gravitas der eigenen Biografie, sie gräbt sich tief in die Gesichtszüge ein. Es ist wie beim Gesicht von John Hurt (verstorben am 25.02. 2017): Manch einer wird dieses Gesicht als wunderschön bezeichnen, eher junge Menschen werden von einer „Gesichtslandschaft mit tiefen Kratern“ sprechen. Dies Gesicht (Hurt) - für mich ist es wundervoll, im Wortsinne. Magisch. Voller Wunden, voller Wunder, voll der wunderbaren Erfahrung, gelebte Gravitas, pur, authentisch.

Psychologen, Psychiater, Geistliche, AltenpflegerInnen plus Freunde, Verwandte, Bekannte und Mitbewohner hier raten unermüdlich dazu, das Leben in vollen Zügen zu genießen. Der alte Mensch jedoch mag den lauten Trubel nicht mehr in dem Maße, wie ihn der junge Mensch so liebt. In vollen Zügen? Nein, da sind die leeren Busse eher angebracht. Das Leben in leeren Bussen genießen. Ja, so ist´s besser. Nicht mehr an jeder Haltestelle anhalten müssen. Kaum einer steigt zu. Es bleibt ruhig. Der Busfahrer: verlässlich, still, erfahren, kompetent. Sein Stiernacken beruhigt und vermittelt Sicherheit, Ruhe, Wehrhaftigkeit und Vertrautheit. Gut, das Gesicht ist nicht zu sehen. Du kennst den Fahrer nicht von Angesicht zu Angesicht. Doch der Nacken, er symbolisiert Verlässlichkeit plus konzentriertem, wohltuendem,  entspanntem und beruhigendem Schutz. Entspannt lehnst du dich zurück. Allein im Bus. Sicher. Ja, so lässt sich´s leben... Warum also in vollen Zügen sitzen?

Und nun, Freunde, lasset uns den Schleier der vollkommenen Ignoranz über dieses grauenhafte Antlitz der Realität stülpen. Der eine braucht ein Fläschchen Absinth, der andere bevorzugt gewisse Pillen, ein Nachbar von mir bevorzugt Magic Mushrooms, wieder andere hüllen sich in Dampf und Nebelschwaden. Was auch immer Ihr treibt, übertreibt es nicht. Denn Eines dürfte ja wohl klar sein: Irgendwann rächt sich JEDE Sünde. Oft wurde ich gefragt: Und welches Laster bedienst du, Gherkin? Gerne will ich dem berühmten geneigten Leser davon berichten, welche Schwäche ich habe. Es ist nicht der Alkohol, es sind keine Rauschgifte, nein, auch keine Pillen oder Pilze, es ist ein Spiel. Ja, genau - ein schwarzer, großer Arcade-Game-Automat. Ich habe ihn 1981 aus Portland, Oregon, hierher verschiffen lassen. Er hat mich ein Vermögen in US-Dollars gekostet, umgerechnet wären das heute 174.000 Euro. Ein gewisser Ed Rotberg hat mir den riesigen Kasten verkauft. Es ist das Spiel „Polybius“. Vorgeblich existiert es überhaupt nicht, ähnlich wie die Area 51. Aber ich kann bestätigen: Doch, das Spiel gibt es. Es steht bei mir im Hobby-Keller. Und ich spiele es täglich. Meiner Schwäche gebe ich täglich nach. Es ist eine Sucht geworden. Niemals würde ich den noch so interessierten Gamer damit spielen lassen. Niemals. Da bin ich sehr eigen... Auf der Rückseite klebt ein seltsamer Zettel. Da steht: MK-Ultra II, Project 119, Subproject 8, 1981.

Es hat nur einen kleinen roten Joystick und einen weißen Knopf rechts daneben. Es ist ein eher unscheinbarer, großer, schwarzer Kasten, oben mit der Aufschrift, in sehr großen Lettern: Polybius. Mysteriös, mystisch, magisch, malefizisch. Und nicht ganz so einfach zu spielen. Da muss man schon klar in der Rübe sein. Dieses Spiel packt dich ganz und gar. Es hat eine psychologische Ebene, eine leicht mystische Nuance, und es macht süchtig. Polybius wurde einst dazu konstruiert, die Menschen (Amis) zu manipulieren, es war ein Experiment, höchstwahrscheinlich vom Militär aus gestartet.

Ich habe oftmals danach Halluzinationen, wenn ich zu lange spiele. Und ich hörte Stimmen, merkwürdige Stimmen. Hypnotisch zieht mich das Spiel an. Polybius ist, sagen wir mal, eine Art Crystal Meth, zerfrisst Körper, Geist und Seele desjenigen, der nicht in der Lage ist, all diesem Zwingenden, dem Oktroyierenden, dem Kategorischen auszuweichen. Man muss den Kasten austricksen. Das kannst du nur mit einer sehr großen mentalen Stärke. Schach gegen den Großmeister. Ultrahart. Gewinnt dieser Automat, hast du dein Leben verwirkt. Gewinnst du, bist du um ein Vielfaches stärker als jemals zuvor. Du wirst zum Hulk! Doch mit jeder Niederlage schrumpfst du auch ein wenig. Ich hatte Zeiten, ganz zu Beginn, als ich das Spiel erhielt, da war ich echt  winzig klein, mental. Ein Zwergen-Geist, ein Schrumpf-Kopf, ein desolater Schrott-Wichtel, im wahrsten Sinne des Wortes. Mittlerweile habe ich begriffen. Ich bin stark und mächtig. Ich spüre quasi die pathologische Veränderung in mir. Für Außenstehende nicht bemerkbar. Aber in mir tobt die pure Energie. Ausgelöst durch jene Impulse, die über diesen Kasten in mein Hirn gepflanzt, gepumpt werden. Ähnlich gefährlicher Anabolika, vergleichbar mit den nur im Darknet erhältlichen Steroiden. Ist das Spiel böse? Ich denke, es gibt wirklich kein „böses Spiel“. GTA V ist auch nicht böse. Aber Menschen, die Spielszenen aus GTA V nachspielen und dabei andere Menschen töten, die sind böse. Daher kann ich nicht nachempfinden, wenn mir vom Polybius-Spiel abgeraten wird. Ich spiele es ja zur geistigen und mentalen Ertüchtigung. Und ich kann damit umgehen. Meine roten Blutkörperchen haben sich, im übertragenen Sinne, verzehnfacht.

Mein Bregen bringt die achtfache Leistung. Ich löse im Schlaf die kompliziertesten und gewagtesten Gleichungen - und erinnere mich beim Erwachen absolut nicht. Ich kann Probleme der Menschheit im Nullkommanix-Modus erkennen und auch noch beseitigen. Das Erwachen birgt jedoch nur noch eine leise Ahnung all dessen, was in der Nacht alles ablief. Details dringen ans Licht, die eine oder andere Nuance, mitunter auch ein Mosaikstein - aber das Ganze, Wahre, Komplette, das ist verloren.

Gestern erwachte ich mit dem Begriff „Higgs-Teilchen“. Völlig verschwitzt sprang ich aus den Federn. Es muss ordentlich was los gewesen sein in der Nacht, denn mein Notizbuch war vollgekritzelt, mit tausend Formeln, die, bei Licht betrachtet, keinerlei Sinn ergeben. Macht mich Polybius wahnsinnig? Als ich das Spiel 1981 kaufte, hatte mir Ed noch gesagt: „Es kann dein Untergang sein. Es kann aber auch dazu führen, dass du dereinst den Krebs besiegst oder den Welthunger stillst. Sei achtsam. Diese Warnung möchte ich dir mit auf den Weg geben. Sei stets achtsam...“

Das Top Secret Military Project von Ed Rotberg ist längst Geschichte. Ich aber spiele und spiele, bis zum Ableben, Polybius. Jeden Leser, der mich kontaktiert und an dem Automaten spielen möchte, muss ich, leider unfreundlich, abweisen. Mir kommt kein Fremder ans Gerät. Es ist einfach zu gefährlich. Es wäre geradeso, als würde ich als oberster Chef von CERN (Large Hadron Collider) einem blutjungen Praktikanten die Leitung der kompletten Anlage übertragen. Nein, das geht nicht. Von Anfragen bitte ich daher abzusehen.

Die Grund-Aussage des Textes ist: Ältere Menschen sollen ihre Zeit in leeren Bussen genießen, nicht mehr in vollen Zügen. Das ist es, was ich eigentlich zu sagen hatte. Es wurde ein Exkurs über den Polybius-Exzess, der mein Leben total beherrscht. Er  mag vielen Lesern als warnendes Beispiel dienen, den wenigsten als Ansporn. Die Option, mit dem Spiel aufzuhören, existiert längst nicht mehr. Ich BIN das Spiel. Und Ed Rotberg hatte mich gewarnt: „Sei achtsam!“ Doch bin ich mit dem schwarzen und sehr gefährlichen Kasten verwachsen. Wir sind EINS. Nennen Sie mich Polybius, oder, kurz, Poly. Piep.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.12.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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