Stefan Läer

Unter Herzanern

Müde und lustlos rettete sich Ernst durch die abendliche Blechlawine auf den Marktplatz des kleinen Ortes, wo er seinen 25 Jahre alten Käfer mit einem heiklen Manöver in die letzte verbliebene Parklücke manövrierte. Das Gefährt ächzte erleichtert, als habe man es gerade vor der Teilnahme an einem Helene-Fischer-Konzert bewahrt. Ernst klopfte ihm freundschaftlich auf die Hinterflügel. „Zu viel Stress. Du hast es schwer in der heutigen Zeit zwischen all den jungen Hüpfern auf der Straße. Ich bin gleich wieder da, mein Guter.“

Auf dem Weg zur Post rempelte ihn eine Handvoll hektischer Gestalten an, die ihn nur erahnen ließen, was an derselben Stelle in zwei Wochen los war, wenn erst einmal der Vorweihnachtswahnsinn eingesetzt hatte. Wie er dieses Fest aus dem Grunde seines ganzen Herzens hasste! Ernst sandte einen Stoßseufzer gen Himmel, dass die Jahresuhr noch nicht ganz so weit vorangeschritten war. Anders seine Armbanduhr, die ihm leider bescheinigte, dass das gelbe Gebäude bereits seine Tagespforten geschlossen hatte. „Kreuzottermist!“, fluchte er, entsann sich aber gleich seiner Mission, doch nur ein paar plumpe Briefmarken erstehen zu wollen, die sich gewiss auch an dem dafür vorgesehenen Automaten ziehen ließen. Heutzutage geht doch eh alles automatisch, redete er sich Mut zu. Diesen Mut benötigte er auch reichlich, denn leider fand Ernst keinen Schlitz, der sich dazu bereiterklärte, seine bunten Scheine oder wenigstens seine Plastikkarte schlucken zu wollen. Schließlich fand er eine schmale vertikale Öffnung mit der lapidaren Beschriftung „Münzen hier“, die immerhin noch ins Englische übersetzt war. Nur einen kurzen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, seinen 50-Euro-Schein im gegenüberliegenden Kreditinstitut, das gewiss um diese Uhrzeit noch geöffnet hatte, in einen Sack voller 2-Cent-Stücke umzutauschen. Also keine Briefmarken heute, dachte er resigniert und widerstand nur mit größter Mühe der Versuchung, dem Automaten mal ordentlich vor das Schienbein zu treten. In seiner Enttäuschung hätte er fast den kleinen Fetzen Papier übersehen, der unten in exakt dem Fach lag, das seinen Job der Briefmarkenausgabe so vehement verweigerte. Eine vergessene Quittung, war sein erster Gedanke, als er das weiße Stück herauszog. Einen Augenblick später verfinsterte sich seine Miene, denn der Text war nicht schwarz wie für Quittungen üblich, sondern in knallroten Druckbuchstaben geschrieben. Eine widerliche Farbe, durchfuhr es ihn. Mittwoch, 19.12., 18:45, Bahnhofsparkplatz. Bitte sei pünktlich, wir haben keine Zeit zu verlieren, las er zu seiner Überraschung. Wohl doch keine Quittung, dachte er. Oder die Quittung kommt erst noch, wenn an besagtem Termin ein Halbintellektueller mit Baseballschläger sein Spiel eröffnet. Vielleicht wäre es besser, eine vertraute Person vor der Wahrnehmung des Termins einzuweihen, wenn nicht gar den Papierfetzen der Polizei zu übergeben, dachte Ernst etwas belustigt und spürte plötzlich, wie die Wohltat eines Lächelns seinen mausetoten Alltag für einen Moment wiederbelebte. Vielleicht sollte er den Termin tatsächlich wahrnehmen, wenn ihn schon der Zettel so erheiterte. Nicht, dass am Bahnhof nachher Briefmarken umsonst verteilt wurden und er sie verpasste …

 

Doch es kam anders. Als Ernst an jenem Mittwoch am Bahnhofsparkplatz aufschlug, erschien um exakt 18:45 ein merkwürdiges Etwas vom Himmel, das schließlich direkt vor seinen Füßen landete. Er kniff sich in sein Ohrläppchen, um sicherzugehen, dass er nicht träumte. Das unbekannte Objekt leuchtete ihm in einer Mischung aus Neongrün, -blau und -pink entgegen, wobei sich nur die Konturen deutlich abzeichneten, während der Rest des Körpers in ein halbtransparentes Schimmern getaucht wurde. Von der Form her erinnerte ihn das Objekt an eine – er versuchte den Gedanken zu unterdrücken, aber es gelang ihm nicht – fliegende Untertasse. Hilfesuchend sah er sich um, ob nicht andere Passanten in der Nähe waren, die ihn in seiner Halluzination bestärken konnten. „Hallo Sie da“, rief er einer vorbeihastenden Dame entgegen, „sehen Sie denn das Ufo nicht?“, woraufhin diese nur mitleidig mit dem Kopf wackelte und weiterhastete. Derweil öffnete sich die Luke des Flugobjekts und spuckte eine komplett in Gold gehüllte Person aus, die so hell funkelte, dass Ernst seine Augen zusammenkneifen musste. „Hallo Ernst, wir müssen abreisen“, sagte sie mit engelsgleicher Stimme, dass er auf keine andere Idee kommen konnte, als dass sein letztes Stündlein  nun geschlagen hatte.  Hypnotisiert beobachtete er, wie sich ein silbern glitzernder Belag bis unter seine Füße ausbreitete, ihn einwickelte und schließlich in die Untertasse hineinzog, wo er in einen tiefen Schlaf fiel.

 

Als er zwei Tage später wieder aufwachte, fühlte sich sein Kopf an, als hätte er sich dreimal hintereinander gegen seinen Willen das Bach’sche Weihnachtsoratorium anhören müssen. Vor seinen Augen flimmerten viele bunte Sterne, die ihn doch arg an seinem Verstand zweifeln ließen. Er fand sich auf einer weichen Unterlage wieder, die in einem Wald kunstschneebedeckter Tannenbäume lag, auf denen bunte Lichter im Stile einer völlig verkitschten Verunstaltung um die Wette funkelten. Vielleicht sollte ich doch einmal zum Psychiater gehen. Der Stress scheint nicht mehr normal zu sein, tröstete er sich. Vorsichtig rappelte er sich auf, wobei er jeden seiner Knochen am liebsten mit sofortiger Wirkung aus seinem Skelett gefeuert hätte. Eine fürchterliche Klimpermusik dröhnte wie 20 Düsenjets in seinen Ohren. Ich muss hier irgendwie raus, dachte er und humpelte zwischen den Tannenbäumen umher.

„Da ist er ja!“, schrie plötzlich eine Stimme hinter einem Baum hervor, die zu einem komplett in Glitzergrün gekleideten Wesen gehörte, das noch fünf weitere Ungeheuer im Schlepptau herankarrte. „Er ist wach, halleluja!“, sangen die Wesen im Chor.

„Ich will sofort wissen, was hier los ist!“, schrie Ernst den Wahnsinnigen entgegen.

„Du bist ein Mensch, ein echter Mensch, Mensch, hurra, hurra!“, jubelte die Menge.

„Gut erkannt. Und jetzt will ich sofort in meine Heimat zurück!“

„Aber Herr …“

„Ernst.“

„Aber Herr Ernst, in drei Tagen ist Heiligabend, da sollen Sie doch unser neues Weihnachtsmuseum einweihen. Sie können nicht zur Erde zurück.“

„In welcher Sektenabteilung bin ich bitte hier gelandet?“

„Wir sind die Bewohner des Planeten Herzanien und heißen euch ganz herzlich willkommen in unserem Weihnachtsmuseum.“

„Bitte holt mir eine Brechschüssel und lasst mich mit eurem Sektenführer reden.“

„Sie möchten mit der Höchsten Instanz sprechen? Wie es der Herr wünscht.“

Mit einem unerträglich fröhlichen Pfeifen setzte sich der Grünglitzertrupp in Bewegung und führte Ernst aus dem Wald heraus an Pyramiden, Lebkuchenhäusern, Marzipanhügeln und einer gigantischen Krippe im Bauhausstill vorbei hin zu einem rot-weiß gekleideten Bartträger, der auf einem kleinen Küchenschemel saß und einen blau-gelben Schal strickte. Ein fürchterlicher Anblick.

„Oh, Besuch in unserem Land?“, fragte der Barttünnes überrascht und zog die Augenbrauen nach oben.

„Ja, es ist der Herr Ernst, der die Eröffnungsrede am Heiligen Abend halten soll. Ein echter Mensch!“, schritt ein Grünglitzerträger ein, noch ehe man Ernst zu Wort kommen ließ.

„Hören Sie, wenn Sie mir diese ganze Chose hier eingebrockt haben, dann bringen Sie mich gefälligst wieder nach Hause und zwar auf der Stelle!“, befahl er.

„Hohoho, guter Mann, das macht mich aber ganz traurig zu hören. Wir Herzaner sind nämlich die größten Weihnachtsfans im Universum, euer menschliches Fest ist ein echter Exportschlager geworden. Und sehen Sie sich nur all die teuren Exponate des Museums an! Sie müssen doch etwas damit anfangen können?“

„Nein, nein, und nochmals nein. Sie haben mich gegen meinen Willen hierhin entführt! Bringen Sie mich sofort zurück!“

Der Bärtige seufzte. „Tja, wenn das so ist, müssen wir wohl jemand anderes finden, der kurzfristig einspringen kann. Schade, wir hatten auf ihr gutes Herz gesetzt, Herr Ernst, zumal Sie zu unserem Termin am Bahnhof freiwillig erschienen sind.“

„Ich bin doch keine Wunschfabrik. Ich hasse Weihnachten!“

Eine halbe Stunde später lag Ernst abflugbereit auf einer Pritsche aus Tannengrün und wartete auf sein grünes Glitzervieh, das ihn endlich von seinem Horrortrip erlösen und zur Erde zurückfliegen sollte.

Doch es kam anders. Zum ersten Mal auf seiner unfreiwilligen Reise verschlug es ihm die Sprache nicht aus Aversion gegen sämtliche Schrecken der Weihnachtszeit, sondern aus purem Erstaunen über die Schönheit einer Frau, wie er sie noch nie gesehen hatte. Ihre gesamte Figur war in Bronze gehüllt, ihre Haare aus glänzendem Lametta und ihre Ohren hatte sie mit dezenten Christbaumkugeln geschmückt.

 „Hallo Ernst, ich bin Valetta, deine Pilotin, die dich zurück zur Erde bringen soll.“

„Jetzt schon? Aber ich habe doch noch gar nicht alles von eurem Planeten gesehen …“

„Ich dachte, du wolltest die Eröffnungsrede nicht halten.“

„So direkt war das gar nicht gemeint.“

„Sondern?“

„Ich wusste gar nicht, dass es auch weibliche Herzaner gibt …“

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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