Ines Wertenbroch

Seine Wege


Ich war in der Stadt und sah mir seit einiger Zeit die Auslagen der Parfümerie an. Die Artikel hinter dem Schaufenster waren von farbigen Seidenpapier umgeben. Ich konnte mir genau vorstellen, wie die klare Flüssigkeit in den Flakons duftete.
Ich zögerte, hineinzugehen. Immer wieder warf ich einen Blick auf die Menschen, die aus dem Geschäft traten. Die meisten von ihnen waren Frauen, über zwanzig und modisch gekleidet. Ihre Gesichter unterschieden sich kaum voneinander. Sie blickten nicht nach links oder rechts. Sie traten heraus und verschwanden geradlinig im Strom von Passanten.
Ich wand mich von dem Schaufenster ab und ging zu den Fahrradständern neben dem Geschäft. Ich öffnete das Schloss meines Fahrrades, als ich spürte, dass jemand hinter mir stand. Es war ein Mann. Als sich unsere Blicke trafen, sprach er mich an: „Ich habe dich schon einige Male gesehen, in dem Café hier in der Stadt.“ Er stockte. Ich schaute ihn an. Er fuhr fort: „Ich wollte dich fragen, ob du vielleicht mit mir und meinem Freund einmal ausgehen möchtest. Wir sind jeden Freitag ab acht in dem Café.“
Ich legte meine Tasche mit langsamen Bewegungen in den Fahrradkorb. Als ich fertig war, stieß ich mit dem Fuß gegen den Fahrradständer, der daraufhin hochschnappte. Ich ließ meinen Blick über den Boden schweife, als suchte ich etwas.
Er blieb dennoch bei mir stehen. „Hier ist meine Nummer. Wenn du mal Zeit hast, ruf mich doch an. Ich heiße Thomas.“
Er holte ein Zettelchen aus seiner Hosentasche und hielt es mir entgegen. Ich zog das Rad aus dem Fahrradständer. Dann sah ich kurz hoch, nahm den Zettel und meinte: „Ich habe keine Zeit und muss los.“
Ich stieg auf das Rad und spürte seinen Blick auf meinem Rücken, als ich fortfuhr.

An diesem Abend war ich mit Michael verabredet. Wir trafen uns im Stadtcafé, an unserem Stammplatz.
Nach einer Weile bemerkte Michael, dass wir beobachtet wurden. Als ich mich umschaute, dachte ich einen Moment, dass mir der Mann bekannt vorkam. Doch ich konnte sein Gesicht im Halbdunkel nicht erkennen.
Michael und ich versuchten, zu unserem Thema zurückzukehren und bald hatten wir ihn ver-gessen. In einer Gesprächspause nutzte ich die Gelegenheit, zur Toilette zu gehen.
Eine Treppe führte nach unten zu den Toilettenräumen. Es waren hölzerne Stufen, die bei jedem Schritt leise knackten.
Als ich von der Toilette wiederkam und die Stufen wieder hinauf in das Café ging, sah ich den Mann aus der Stadt am Ende der Treppe stehen. Er musste dort auf mich gewartet haben, denn er beobachtete jeden meiner Schritte.
Ich wagte nicht, ihn anzuschauen und versuchte, an ihm vorbei zu gehen, doch er versperrte mir den Weg. Er ging leicht in die Knie, um in meine Augen sehen zu können. Ich hatte das Bedürfnis, ihn wegzustoßen oder ihn nur darum zu bitten, mich gehen zu lassen. Doch ich blieb stehen und konnte den Mund nicht öffnen. Nach einer Weile ließ er von mir ab und ich konnte an ihm vorbeigehen. Ich konnte nicht erkennen, wohin er ging.

Am nächsten Tag wollte ich nachmittags mein Fahrrad aus dem Keller holen. Es war Samstag und ich war mit meiner Freundin Linda verabredet. Heute war ich an der Reihe, sie zu besuchen.
Ich fand mein Rad an die linke Wand des Kellerraumes gelehnt. Normalerweise stand es auf der anderen Seite in einem Fahrradständer. Ich nahm es und wollte es in Richtung Ausgang stellen. Dabei bemerkte ich, dass die untere Hälfte des Ständers abgebrochen war. Das Fahrradschloss war wie der Rest des Rades unberührt und seine spiralförmige Drahtschnur hakte wie immer im Hinterrad, verbunden mit dem Fahrradkorb.

Ich erzählte Linda von dem abgebrochenen Fahrradständer. Wir konnten uns den Sinn dieser Tat nicht erklären, falls es überhaupt Absicht war. Vielleicht war einem der Mitmieter des Hauses das Rad umgefallen und der Ständer war auf diese Weise abgebrochen. Auch die Spuren an der Bruchstelle schienen darauf hinzuweisen.

Erst spät fuhr ich von Linda zurück nach Hause. Die Nachtluft war kühl und mild. Mein Rückweg führte an einem Fluss entlang, auf den sich ein zarter Schleier gelegt hatte. Ich atmete tief durch. Niemand begegnete mir und ich hatte das Gefühl, die Straße, der Fluss und die umliegenden Wiesen gehörten mir. Alles war durchdrungen von nächtlicher Stille, doch es war nicht die kühle Stille einer Kapelle. Ich stieg von meinem Rad, um ein Stück zu gehen.
Ein Stimme hallte unvermutet durch die Ruhe. Es dauerte eine Zeit, bis ich wahrnahm, dass jemand hinter mir meinem Namen gerufen hatte. Ich drehte mich um. An mir rannte ein Mann vorbei, dessen Silhouette in einer Wegbiegung verschwand. Wie ein Echo dieser schnellen Bewegung begann mein Herz im gleichen Tempo zu schlagen. Ich stieg auf mein Fahrrad und fuhr so schnell ich konnte nach Hause, ohne mich noch einmal umzusehen.

Zu Hause angekommen beeilte ich mich, mein Fahrrad in den Keller zu bringen. Als ich an meinem Abstellraum vorbeikam, sah ich, dass die Tür aufgebrochen war. Sogar die Halterung des Hängeschlosses war aus dem Holz herausgerissen. Das Schloss und die Halterung waren nicht einmal mehr auffindbar. Ich ging in den kleinen Raum, um nachzusehen, ob etwas fehlte. Alles war wie immer. Ich fand nur die Hälfte eines Fahrradständers, die auf dem Boden unter dem kleinen Fenster lag.
Wer wusste, dass dies mein Abstellraum war? Warum hatte die Person nichts mitgenommen? Welchen Sinn machte dieser Einbruch?

Als ich meine Jacke in der Garderobe meiner Wohnung auszog, fiel mir ein kleiner Zettel aus der Tasche. Darauf stand mit Kugelschreiber geschrieben „Thomas“ und eine sechsstellige Zahl ohne Vorwahl.


(15.2.2003, Ines Wertenbroch)

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