Ich saß im Büro und schaute nervös auf die Uhr. Eigentlich könnte ich schon längst Feierabend machen, aber vor meiner gläsernen Bürotür stand völlig unerwartet mein korpulenter Chef und trug eine dicke Akte unterm Arm.
Ich ahnte natürlich, dass ich ausgerechnet heute länger arbeiten müsste, obwohl ich etwas vorhatte.
Und dann kam er rein, mein Chef, legte mir mit einem breiten Grinsen im Gesicht die Unterlagen auf den Tisch und trug mir auf, diese wegen einer wichtigen Besprechung, die für ihn in etwa einer Stunde beginnen würde, nach der beigefügten Kennzeichnung der Reihenfolge nach einzuordnen.
Ich bebte innerlich vor Wut, machte aber trotzdem ein freundliches Gesicht, als er mein Büro kurz darauf wieder verließ
Der ganze Tag war sowieso heute irgendwie komisch gewesen. Schon beim Frühstück hatte ich ein ziemlich mulmiges Gefühl im Bauch und keine große Lust, in die Arbeit zu gehen. Ich wäre wirklich nur allzu gerne daheim geblieben, aber irgendwo musste ja das Geld zum Leben herkommen. Am Ende saß ich dann doch wieder im Büro.
***
Ich erledigte das Einsortieren der neuen Unterlagen so schnell ich konnte, die Blatt für Blatt aus lauter Statistiken bestanden. Um kurz vor 18 Uhr war ich dann auch mit allem fertig. Nebenbei blickte ich immer wieder auf die Uhr und hoffte, dass es vielleicht von der Zeit her doch noch reichen würde, meine schwerkranke Tante zu besuchen, die seit zwei Wochen in einem etwa 25 Kilometer weit entfernten Krankenhaus lag, das sich in der größeren Nachbarstadt befand.
Mein Gefühl sagte mir, dass mein Besuch bei ihr schon längst überfällig war. Ich fühlte mich irgendwie schuldig, nicht bei ihr gewesen zu sein. Doch heute Abend wollte ich unbedingt zu ihr. Sie war nämlich meine Lieblingstante. Aber wie es halt so ist im Leben, kam auch bei mir vor lauter Arbeit so manches zu kurz, was ich ansonsten gerne den Vorrang gegeben hätte.
Obwohl ich heute länger im Büro bleiben musste, wollte ich es mir auf gar keinen Fall nehmen lassen, meine Tante im Krankenhaus zu besuchen. Mit diesem Vorsatz machte ich mich schließlich eilig auf den Weg in die Tiefgarage unseres Bürogebäudes und brauste ein paar Minuten später mit meinem schnellen Sportwagen aus ihr heraus.
***
Draußen wurde es schon langsam dunkel. Ich gab noch mehr Gas. Schon bald fuhr ich aus der kleinen Stadt heraus und erreichte das offene Land.
Nach einer Weile sah ich plötzlich ein großes Schild mit der Aufschrift "Umleitung". Man hatte die Landstraße wegen Ausbesserungsarbeiten an der Fahrbahndecke gesperrt, die ich sonst normalerweise benutze. Unsicherheit breitete sich in mir aus, weil ich jetzt ungewollt meine übliche Route verlassen musste.
"Ist ja irgendwie komisch. Heute passt mal wieder alles bestens zusammen", schimpfte ich ärgerlich und mit lauter Stimme vor mich hin.
Ich folgte der Umleitung und schaltete vorsorglich das Licht ein. Die hellen Scheinwerfer meines Sportwagens tasteten sich zitternd in die beginnende Nacht hinein. Dann fing es auch noch heftig zu regnen an.
Na prima, auch das noch, dachte ich so für mich und konzentrierte mich auf die von hohen Bäumen gesäumte, einsam da liegende, viel zu schmale Nebenstraße, die nach wenigen Kilometern plötzlich in zwei Richtungen abbog, aber ohne Beschilderung war. Offenbar hatte man sie entfernt und wohl vergessen, neue Hinweistafeln aufzustellen.
Ich hielt den Wagen mit quietschenden Reifen an, ließ aber den Motor weiterlaufen und starrte ungläubig in die gespenstisch aussehende Nacht.
"Verdammt noch mal", sagte ich mit gepresster Stimme zu mir selbst, "alles hat sich heute gegen mich verschworen. Ich kenne mich hier nicht aus und weiß auch nicht, in welche Richtung ich abbiegen muss."
Der Regen prasselte jetzt immer heftiger auf die Windschutzscheibe meines Sportwagens. Die Scheibenwischer arbeiteten wie verrückt. Die ganze Situation kam mir auf einmal irgendwie unwirklich vor.
Erschöpft legte ich meinen Kopf aufs Lenkrad. Mir wurde plötzlich irgendwie schwindelig im Kopf. Eine seltsame Müdigkeit überkam mich, dann fielen mir die Augen zu. Ich konnte nicht dagegen tun.
Auf einmal hörte ich eine Stimme und sah die Umrisse einer dunklen Gestalt direkt vor meinem Auto im Regen stehen. Erst dachte ich, sie hätte das Gesicht meiner Tante, was aber nicht sein konnte, da sie ja im Krankenhaus unserer Nachbarstadt lag.
Halluzinierte ich etwa?
Wieder konnte ich die Stimme hören, die wie ein fernes Rufen zu mir rüber klang.
"Fahre nach rechts", glaubte ich vernommen zu haben.
Ich war total benommen. Dann schüttelte ich mich und fragte mich, was mit mir eigentlich los war. Ich muss wohl eine Geisterstimme gehört haben, nahm ich an.
Wie auch immer. Ich riss mich jetzt zusammen, legte den Gang energisch rein, bog in die rechte Straße, drückte aufs Gas und fuhr mit aufheulendem Motor davon.
Nach knapp drei Kilometer Fahrt wurde ich ganz überraschend von der Polizei gestoppt, die mit mehreren Einsatzfahrzeugen auf dem breiten Seitenstreifen links und rechts der Straße standen. Einige Feuerwehrautos rasten mit Blaulicht und Sirene an mir vorbei.
Ein Polizeibeamter in Regenbekleidung kam auf mich zu. Ich ließ die Seitenscheibe runter und fragte ihn, was denn eigentlich passiert sei.
"Mann oh Mann, da müssen Sie aber einen Schutzengel bei sich gehabt haben. Vor wenigen Minuten haben uns einige Leute hier aus der Gegend über Handy alarmiert, dass ein schweres Brückengerüst eingestürzt sei. Ein Teil der Brücke ist dabei abgebrochen und in den Fluss gerutscht, der durch die starken Regenfälle Hochwasser führt. Wenn Sie die linke Abzweigung genommen hätten, wären sie mit großer Wahrscheinlichkeit von der Brücke in den Fluss gestürzt. Sie können wirklich von Glück reden, dass sie rechts abgebogen sind. Die Feuerwehr ist bereits unterwegs und sperrt die gesamte Straße zur beschädigten Brücke hin ab. - So, das war es dann auch schon. Sie können jetzt weiterfahren, mein Herr. Kommen Sie gut nach Hause!"
Ich legte wie in Trance den ersten Gang ein und fuhr langsam an den Polizeifahrzeugen vorbei. Dann beschleunigte ich meinen Wagen, um schnell ins Krankenhaus zu kommen.
"Das war kein Glück. Meine Lieblingstante war mein Schutzengel gewesen. Sie hat auf mich aufgepasst, da bin ich mir ganz sicher", dachte ich so für mich und freute mich darüber, dass ich sie bald sehen würde.
Aber alles kam anders.
***
Als ich endlich die besagte Kreisklinik erreicht hatte und später die Station betrat, auf der meine Tante lag, kam mir auch schon mit ernster Miene der diensthabende Stationsarzt entgegen und eröffnete mir mit sorgenvollem Blick, dass meine geliebte Tante vor etwas mehr als einer Stunde friedlich eingeschlafen sei. Ihr Herz habe ganz plötzlich aufgehört zu schlagen. Obwohl wir sie sofort auf die Intensivstation brachten, kam für sie jede Hilfe zu spät, sagte er zu mir.
Nach seinen Worten drehte ich mich um und fing an zu weinen.
Dann erinnerte ich mich daran, dass ich an der Straßengabelung eine Gestalt mit dem Gesicht meiner Tante gesehen hatte. Jetzt wusste ich mit Bestimmtheit, dass sie es gewesen war, die zu mir gesagt hatte, ich solle rechts abbiegen. Sie war als mein Schutzengel zu mir gekommen. Ich wäre sonst mit meinem Wagen von der stark beschädigten Brücke in den reißenden Fluss gestürzt, doch das wollte sie unbedingt verhindern, bevor sie für immer diese Welt verlassen musste.
***
Etwas später ging ich zurück zu meinem Auto, das auf einem Parkplatz direkt neben der Klinik stand. Mittlerweile regnete es nicht mehr. Die Wolkendecke löste sich langsam auf und bald konnte man die funkelnden Sterne am fernen Nachthimmel sehen.
Plötzlich zog eine helle Sternschnuppe über mir hinweg. Ich hob instinktiv die Hand und winkte ihr zu.
"In Gedanken bin ich bei Dir, liebe Tante", flüsterte ich mit halblauter Stimme so vor mich hin, stieg mit Tränen im Gesicht ins Auto und fuhr hinaus in die Nacht.
ENDE
(c)Heinz-Walter Hoetter
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 21.12.2018.
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