Thomas Sänze

Das Heil der Weihnachtszeit


Weihnachten, 18.30 Uhr
Ein Schlag. Noch ein Schlag.
Atmen. Atmen. Schlagen. Atmen.
Der Schweiß lief ihm in Strömen herab. Er keuchte. Konnte sich kaum noch, auf den Beinen halten.
Tänzeln. Schlagen. Tänzeln.
Seine Arme waren völlig gefühllos geworden. Er wünschte sich im Augenblick nichts mehr, als das sein Herz es auch wäre. Aber es brannte. Es tat weh. So verdammt weh! Und das an Weihnachten.
Gott, wie kannst du nur so etwas zulassen!
Atmen. Tänzeln. Boxen.
Du verdammter Mistkerl!
Atmen. Atmen.
Er wollte schreien, weinen, sich auf den Boden werfen und sterben. Aber er tat nichts davon.
Schlagen. Weiter. Weiter.
Er wollte seinen Geist genauso gefühllos machen, wie seine Arme. Sein Blut rauschte. Er konnte das Schlagen seines Herzens hören und hoffte, es würde stehenbleiben.
Tänzeln. Schlagen. Atmen.
Er konzentrierte sich völlig auf den Sandsack.
Atmen. Schlagen. Tänzeln.
Er wollte nicht schreien. Er schrie.
Er wollte nicht fühlen. Die Trauer und der Schmerz verschlangen ihn wie ein Orkan.
Er wollte sich nicht erinnern. Er erinnerte sich.

Vor vier Stunden
Er saß im Stuhl, auf dem Krankenhausflur. Der Geruch von Desinfektionsmitteln hing ihm in der Nase. Er hasste Krankenhäuser. Er hasste sie abgrundtief.
Sie waren ein Ort der Schmerzen und der Trauer. Natürlich auch der Hoffnung. Hoffnung gab es immer. Sie war das Einzige, was ihn davon abhielt durchzudrehen.
Er wollte in den Operationsaal stürmen, den Arzt am Kragen packen und ihm sagen, nein ihm befehlen, seinen Sohn zu retten. Aber er tat es nicht. Er wusste, er würde Sebastian damit nicht helfen.
Als der Anruf gekommen war, hatte er ihn für einen schlechten Witz gehalten. Es war keiner gewesen.
"Ein Unfall, Herr Schwert! Niemand hatte Schuld. Trotz langsamer Fahrt ist der Autofahrer ins Rutschen gekommen. Das ihr Sohn an der Straßenecke stand, war schlichtes Pech. Höhere Gewalt! Es tut uns leid!"
Schlichtes Pech! Er schnaubte verächtlich. Die Polizei würde bestimmt einen Orden für ihr Einfühlungsvermögen bekommen. Er glaubte nicht, dass es höhere Gewalt gewesen war.
Verdammt, es war Weihnachten! Gott würde das doch niemals zulassen! Nicht am Heiligen Abend! Er schloss die Augen und fing an zu beten.
Als der Arzt aus dem Operationsaal trat, schreckte er hoch. Er stand auf und versuchte zu lächeln. Es misslang. "Nun, Herr Doktor?" Er hörte das Zittern in seiner Stimme und für einen Augenblick, ärgerte er sich darüber. Verflucht, was war los mit ihm. Sein Sohn kämpfte um sein Leben und er machte sich Sorgen darüber, ob seine Stimme zitterte.
Der Arzt zog sich den Mundschutz vom Gesicht und in dem Moment wusste er es. Er sah es, in dem fremden Gesicht. Konnte es in den grauen Augen lesen.
"Es tut mir leid, Herr Schwert! Wir konnten leider nichts mehr für Ihren Sohn tun. Die Verletzungen waren einfach zu schwer!"
Er hörte es. Aber verstand es nicht. Und es war ihm im Augenblick auch egal. Sebastian war tot. Tod! Er hatte halt schlicht Pech gehabt.
Gott ließ es doch zu.
Er sah den Arzt an, suchte nach einer Erklärung. Er fand keine.
"Es tut mir sehr Leid, Herr Schwert! Wenn wir irgend etwas für Sie tun können?" Der Arzt sah ihn fragend an.
Er schüttelte nur den Kopf. Das einzige, wozu er fähig war. Der Arzt nickte kurz. Sagte noch etwas und ging. Floh vor ihm! Vor ihm und seinem Schmerz. Er setzte sich wieder auf den Stuhl und wartete.
Carmen kam zwanzig Minuten später.
Sie waren seit zehn Jahren verheiratet und Sebastian war ihr einziges Kind gewesen. Wie sollte er es ihr nur sagen!
Sie eilte auf ihn zu. Er sah ihre Besorgnis und ihre Hoffnung. Sie öffnete ihren Mund. "Martin!" rief sie. Dann schloss sie ihn wieder. Sie hatte Angst zu fragen. Angst vor der Antwort.
Er stand auf und nahm sie in die Arme. "Es tut mir leid!" war alles was er hervorbrachte. Er spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte als sie Verstand. Hörte ihr Schluchzen. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende und er hielt sie fest. Wollte ihren Schmerz in sich aufnehmen. Ihn zu seinem machen, um es ihr zu erleichtern.
Er strich durch ihr langes, braunes Haar und flüsterte ihr beruhigend ins Ohr. "Alles wird wieder gut!" Sie glaubte ihm kein Wort, und er selbst, tat das auch nicht.
So standen sie lange da.

Vor zwei Stunden
Er hatte sie nur einen Augenblick allein gelassen, auf diesem Krankenhausflur. Er wollte lediglich noch einen Blick auf Sebastian werfen. Sich vergewissern das sein Tod Wirklichkeit war und nicht bloß ein böser Traum. Als er zurückkam, war sie weg gewesen. Also suchte er nach ihr.

Vor einer Stunde
Sie saß an der Bar. Mit einem Stirnrunzeln trat er hinter sie und berührte behutsam ihre Schulter. "Carmen!" fragte er sanft. Sie drehte sich um. "Martin! Liebling! rief sie überschwenglich und lächelte wie jemand der mehr als genug getrunken hatte.
Er schaute sie prüfend an. "Oooh, Mann! Wie viel hast du getrunken!"
"Ich weiß nicht! Ein Paar! Setz dich und trink mit! Es ist reichlich für alle da!" Sie kicherte und leerte ihr Schnapsglas mit einem Zug.
Als sie zusammensackte, fing er sie auf. Er hörte wie das Glas aus ihrer Hand fiel und auf dem Boden zerbarst. Es war ihm egal.
Er brachte sie nach Hause, ins Bett. Nachdem sicher war, dass sie schlief, ging er hinab in den Keller. Dort hing ein Sandsack. Er hatte in seiner Jugend geboxt und hielt sich auch noch heute damit fit.
Jetzt ging es ihm nicht um Fitness, er wollte Dampf ablassen. Seine Wut, seinen Zorn, seinen Hass loswerden, bevor dieser ihn zerriss.
Sein erster Schlag galt Gott und alle weiteren der Welt.
Er schlug zu. Wieder und wieder.

Weihnachten, 19.00 Uhr
Er spürte sie mehr, als das er sie sah. Sie stand auf der Kellertreppe und beobachtete ihn, aus geröteten Augen. Einen Augenblick sah er sie stumm an. Dann. "Ich dachte, du würdest schlafen!"
"Ich habe es versucht!" Sie lächelte hilflos und zuckte mit den Schultern. "Es hat nicht so richtig geklappt!" Es brach ihm fast das Herz, sie so zu sehen. Verloren stand sie im Bademantel auf der Treppe.
Er zog die Boxhandschuhe aus und ließ sie achtlos fallen. "Du siehst fürchterlich aus!"
"So fühle ich mich auch!" seufzte sie. Er trat auf sie zu und strich ihr das Haar aus dem Gesicht. "Ich weiß!" flüsterte er.
Sie warf sich in seine Arme und begann zu weinen. "Was sollen wir jetzt nur tun! Wie sollen wir weiterleben!" Er spürte die Feuchtigkeit auf seiner Wange und wusste nicht, ob es ihre Tränen oder seine eigenen waren. "Ich weiß es nicht", sagte er leise.
"Es ist alles so sinnlos, Martin! Warum er und nicht ich! Ich weiß nicht, ob ich das durchstehe!" Er hörte die Panik in ihrer Stimme und strich ihr beruhigend über den Kopf. "Das wirst du, ich helfe dir!"
Er sah sie an. "Ich bin für dich da!" Sie sah weg. "Du bist lieb! Aber das spielt keine Rolle! Nichts, spielt mehr eine Rolle! Genauso gut, könnte ich tot sein! Ich wünschte ich wäre es!" Er zuckte zusammen. Plötzlich hatte er Angst. Angst sie ebenfalls zu verlieren. In ihren Augen sah er nur Verzweiflung.
Was sollte er nur tun? Er würde sie festhalten, aber das wäre nutzlos, solange sie fallen wollte. Ohne ihren Lebenswillen war alles, was er sagte oder tat sinnlos. Er musste zu ihr durchdringen und das schnell, sonst verlor er sie vielleicht auch noch. Das wäre mehr, als er ertragen könnte.
Aber was sollte er tun! Plötzlich hatte er eine Idee. "Zieh dich an!" befahl er. Sie erschrak. "Was?"
"Du sollst dich anziehen!"
"Warum?"
"Ich erkläre es dir später!" Er ließ sie stehen und stürmte die Kellertreppe hinauf. Heute war schließlich Weihnachten! Ein besonderer Tag. Ein magischer Tag.
Ein Anruf! Die Sache lief. Jetzt brauchte er nur noch die nötigen Utensilien. Aber die waren vorhanden.
Carmen kam aus dem Keller herauf. Sie war verärgert. "Würdest du mir bitte erklären, was das soll!"
"Später, Schatz! Wir müssen uns beeilen, sonst kommen wir noch zu spät!"
"Zu spät! Wozu?"
"Später!"
"Nein! Jetzt! Verdammt noch mal!"
Er sah ihr in die Augen. "Vertraust du mir!"
"Natürlich!"
"Dann tue, worum ich dich gebeten habe!" Stumm sah sie ihn einen Augenblick lang an, dann ging sie sich anziehen.

Weihnachten, 20.00 Uhr
Er konnte die Ehrfurcht in den Augen der Kinder sehen und lächelte. Er musste eine ziemlich beeindruckende Erscheinung mit seinem weißen Bart und dem langen, roten Mantel bieten.
Carmen stand neben ihm und verteilte Spielzeug und Süßigkeiten. Sie weinte die ganze Zeit dabei. Aber es waren heilende, befreiende Tränen, kein verzweifeltes Weinen mehr.
Am Anfang hatte sie ihn beschimpft und verflucht. Aber als dann die ersten Kinder den großen Speisesaal des Waisenhauses betreten hatten, war sie stumm geworden.
Sebastians größter Wunsch war es gewesen, am heiligen Abend seine Geschenke vom Weihnachtsmann persönlich zu bekommen. Er war ihnen wochenlang damit in den Ohren gelegen.
Schließlich hatten Carmen und er entnervt beschlossen ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Sie kauften ein Kostüm und füllten einen Sack mit Geschenken und Süßigkeiten. Schließlich sollte der Weihnachtsmann auch überzeugend wirken.
Sebastians Wunsch würde nun leider nicht mehr in Erfüllung gehen. Aber sie konnten in seinem Geiste den Kindern in diesem Waisenhaus wenigstens eine Freude bereiten.
Der Weihnachtsmann war mit Geschenken gekommen. Er hatte sie nicht vergessen.
Er berührte Carmen leicht an der Schulter. "Ich liebe dich!" Sie sah ihn an. Dann lächelte sie. "Frohe Weihnachten, Liebling!" sagte sie und küsste ihn.

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