Karl Wiener

Merkenswertes


Die Sicht der Kinder ist keineswegs die Froschperspektive. Sie sitzen hoch oben auf einem Regenbogen, baumeln mit den Beinen und betrachten die Welt. Glücklich, wer bei ihnen sitzen darf.

Meine Frau hatte sich neue Küchenmöbel ausbedungen, bordeauxrot mit silbernen Beschlägen. Als Miss Sophie, eines unserer Urenkel im zarten Alter von zwei und einem halben Jahr, erstmals nach dem Umbau zu Besuch kam, verharrte sie kurz und bemerkte mehr zu sich selbst: “...schöne Küche!...“. Ich war verblüfft, denn ich hatte nicht erwartet, daß sie die Veränderung überhaupt wahrnimmt, aber meine Frau bestätigte, daß ich richtig gehört hatte. Ein anderes meiner Urenkel, etwa gleichaltrig, zog beim Betreten des Badezimmers prüfend die Luft durch die Nase und stellte sinngemäß fest: "...hier stinkt's wie im Schwimmbad...". Das Kind war erst einmal in seinem Leben in einem Schwimmbad gewesen, aber ein von meiner Frau benutztes chlorhaltiges Reinigungsmittel hatte es an das Geruchserlebnis Schwimmbad erinnert. Ich bin neugierig. Unterschätzen wir vielleicht das Wahrnehmungsvermögen unserer kleinen Mitmenschen? Ich setze mich auf den Boden, um die richtigen Größenverhältnisse herzustellen, betrachte ein Bild aus meinen frühen Kindertagen und suche in meinem Gedächtnis nach ersten Erinnerungen.

Es sind zunächst stehende Bilder, die ich vor mir sehe, ohne Bewegung,lautlos und ohne Bezug zueinander. Erst später kommt Bewegung in die Bilder und schließlich fangen sie auch noch an zu sprechen. Ich hatte keinen Begriff von Raum und Zeit, es ereignete sich alles hier und jetzt. Durch mein späteres Wissen über die zeitliche Abfolge der Aufenthaltsorte meiner Familie kann ich die Bilder aber einordnen.

Von meinem Geburtsort habe ich keinerlei Vorstellung. Die Familie zog bald nach meiner Geburt von dort fort. Meine ersten Erinnerungen führen mich an einen Ort, den die Familie nach meinem dritten Geburtstag verließ. Jedes Gedankenbild, das sich auf diesen Ort bezieht, muß also während meiner ersten drei Lebensjahre entstanden sein. Das aller erste Bild, das mir vor Augen steht, zeigt das Gesicht eines lieben Menschen, umrahmt von den Rändern der Plane eines Kinderwagens. Durch späteren Vergleich weiß ich, daß es das Bild meiner Großmutter ist, das ich bis heute bewahre. In der Folge schließen sich viele frühe Bilder an. Da ist ein Bauernhof, wo meine Mutter, wie ich heute weiß, täglich die Milch für mich und meine älteren Geschwister kaufte. Ich sehe die Bäuerin und meine Mutter im Gespräch, für mich, wie immer, ohne Worte und ohne Bewegung. Es ist das einzige Bild meiner Mutter, das ich aus diesen Tagen bewahre. Die bemerkenswertere Person aber war nicht meine Mutter, sondern die mir fremde Bauersfrau. Merkwürdigerweise habe ich aus dieser Zeit kaum Erinnerungen an meine Eltern und meine Geschwister. Das rührt wahrscheinlich daher, daß sie als Teil meines ständigen Umfelds nicht so bemerkenswert waren wie fremde Personen.

Ich erinnere mich an einen Mann, der wohl sehr kinderlieb gewesen sein muß. Ich sehe mich im Kreise einer Kinderschar an seinem Tisch. Wir spielten ein Fingerspiel, bei dem man immer die Hände hoch in die Luft heben mußte. Heute weiß ich, daß man das nur durfte, wenn der zuvor genannte Begriff fliegen konnte. Damals hatte ich die Spielregeln natürlich nicht begriffen und schämte mich, weil mich die anderen Kinder auslachten. Ich ließ wohl die falschen Dinge fliegen. Auch bei diesem Spiel kann ich meine Geschwister nicht unter den anderen Kindern erkennen, bemerkenswert waren wohl nur die Gemeinschaft der Kinder und mein eigenes Unvermögen. Eines der bedeutendsten Ereignisse dieser Zeit war ein Verkehrsunfall, den der kinderliebe Nachbar erlitt. Ich weiß nicht mehr, wie und warum ich zum Unfallort gelangte, aber ich habe ein Bild bewahrt. Ich sehe vor mir ein Auto aus den ersten dreißiger Jahren, einen Zweisitzer mit hinten zwei aufklappbaren Notsitzen, wie man ihn noch heute im Museum sehen kann, ein Fahrrad auf der Straße, unseren Kinderfreund und einen Polizisten, der sich über die Motorhaube des Autos beugt und etwas aufschreibt.

Aus der Zeit vor Vollendung meines dritten Lebensjahres hat ein weiteres Erlebnis bleibende Eindrücke hinterlassen. Es muß mein erster Haarschnitt gewesen sein. Ich wurde auf ein hohes Stühlchen gesetzt und habe entsetzlich geweint oder gar geschrieen. Ich kann noch heute das Interieur des Salons und das Gesicht des Haarschneiders beschreiben. Meine Großmutter, die mich in diese Hölle gebracht hatte, trat dadurch auf den Plan, daß sie das Martyrium beendete, mit mir zu einem nahegelegenen Spielzeugladen ging und mir dort bunte Holzbausteine kaufte. Ich mußte ihr wohl versprechen, tapfer zu sein, denn anschließend sehe ich mich beim Friseur auf dem Marterstühlchen sitzen, wo ich dank der Bauklötzer kräftig schluckend das Ungeheuere über mich ergehen ließ.

In meinem dritten Lebensjahr, 1933, verließen wir den Ort meiner frühen Kindheit, wir verließen Deutschland, in dem die Nazis die Herrschaft angetreten hatten. Die örtlichen Verhältnisse hatte ich mir aber fest eingeprägt. Als ich nach mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal wieder an diesen Ort kam, fand ich ohne jede Vorbereitung und ohne fremde Hilfe die wichtigen Schauplätze des Geschehens wieder. Am Bauernhof vorbei bog ich an der Unfallstelle von der Hauptstraße in eine Seitenstraße ein, fuhr den Berg hinan und hielt vor einem Haus, von dem ich annahm, daß es dasjenige sei, in dem wir gewohnt hatten. Zweifeln ließ mich allerdings seine geringe Größe. Wir hatten damals in einem viel größeren Haus gewohnt. Als ich jedoch eine ältere Frau am Gartentor fragte, stellte sich heraus, daß sie unsere frühere Hauswirtin war. Auch den Ort des Friseurgeschäfts und des Spielzeugladens habe ich viele Jahre später wiedergefunden, obgleich es diese Geschäfte zu dem Zeitpunkt längst nicht mehr gab.

An die Vorbereitungen auf unsere Ausreise habe ich keine Erinnerungen. Vielleicht war ich für die aufregende Zeit des Kofferpackens ausgelagert bei meiner Großmutter. Auch an die Reise an sich entsinne ich mich nicht mehr. Bemerkenswerte Eindrücke sammelte ich erst wieder in Wien: „ Karl Wiener, Wien, 18. Bezirk, Gentzgasse 12 “. Ob ich nach so langer Zeit die Hausnummer mit dem Bezirk verwechsele, weiß ich nicht. Vermutlich haben mir meine Eltern die Adresse fest eingeprägt, für den Fall, daß ich einmal in der großen Stadt verloren gehe.

Ich bemerkte auf den Straßen Wiens viele Menschen, die um Almosen baten. Sie wurden Bettler genannt. Ich dachte, Bettler zu sein, wäre ein Beruf wie andere auch. Man sagte, daß einige von ihnen reich wären und einer am Abend in einem Pelzmantel gesehen wurde. Seitdem verbinde ich den Begriff reich mit dem Besitz eines Pelzmantels. Jahre später sagte ein Österreicher zu mir: "In Österreich haben die Bettler fettiger geschissen, als die Deutschen essen". Die Bettler klingelten auch an den Türen. Eines Tages stand einer von ihnen vor unserer Tür. Meine Mutter hatte selbst nicht viel Geld. Sie reichte ihm ein Butterbrot und eine Tasse Kaffee, doch nach kurzer Zeit klingelte er erneut und rügte, daß sie den Zucker am Kaffee vergessen hatte. Vielleicht erinnere ich mich an diese Mahnung bis heute, weil der Herr meine Mutter mit "Gnäfrau" anredete. Diese höfliche Anrede bedeutet in Österreich so etwas wie "gnädige Frau". Es gab jedoch auch eine Steigerung dieser Anrede: An einem Marktstand handhabte ein Mann eine Flamme, wahrscheinlich einen Bunsenbrenner. Meine Mutter wollte eine Porzellantasse reparieren lassen. Der Mann begrüßte sie mit "küß die Hand, Gnäfrau". Offensichtlich erinnere ich mich am besten an Dinge, die ich am wenigsten verstand.

Beim Anblick einer Hauswand, die durch viele Löcher beschädigt war, sprach mein Vater von Schießereien und erwähnte den Namen „Dollfuß“. Sicher fand ich damals den Namen und die Schußlöcher bemerkenswert und nicht den damit im Zusammenhang stehenden Putsch von 1934. Im Souterrain des Hauses, in dem wir wohnten, befand sich ein kleines Ladengeschäft. Dort wurden zerkleinerte und kandierte Apfelsinenschalen angeboten. Meine Mutter kaufte sie als Backzutat und ich naschte gern davon. Als mein Vater eine Tüte geschälter Apfelsinen mitbrachte und meinte, diese seien billiger als ungeschälte, war ich sehr verwundert, da mir Apfelsinen, die man vor dem Essen nicht erst schälen mußte, wertvoller erschienen. Den Zusammenhang zu den kandierten Apfelsinenschalen stellte ich damals nicht her.


Unterwegs in Wien hatte mein Bruder ein dringendes Bedürfnis. Wir befanden uns in der Nähe des Stephansdoms. Meine Mutter führte uns in eine Seitengasse am Stephansdom, wo sich mitunter auch die geduldig wartenden Pferde der Fiaker erleichtern, und mein Bruder pinkelte an eine Mauer. Plötzlich stand ein Gendarm vor uns und verlangte von meiner Mutter einen Schilling als Strafe für die „Verunreinigung eines Gotteshauses“. Auch über dieses Erlebnis muß ich lange nachgedacht haben, denn das Bild des Gendarmen steht mir noch vor Augen. Überhaupt müssen mich Uniformen damals sehr beeindruckt haben. Ich erinnere mich an einen Aufzug der damals „Heimwehr“ genannten Armee Österreichs bei dem ein Esel oder Maultier eine kleine Karre zog, auf dem eine zumindest für meine damaligen Begriffe riesige Pauke stand. Nebenher lief ein Soldat, der mit kräftigen Schlägen den Marschrhythmus vorgab.


Später mieteten wir ein Haus in einer Gemeinde am Rande von Wien. Das Haus war ganz neu und wir waren wohl die Trockenwohner. Ich habe heute noch den für mich damals angenehmen Geruch von frischem Mauerwerk in der Nase. Der Hausbesitzer hieß Herr Graf. Ich habe mir den Namen gemerkt, weil Herr Graf bei seinen Besuchen immer eine Thermosflasche mitbrachte, gefüllt mit schwarzschillerndem stark gesüßtem Malzkaffee, von dem er uns Kindern abgab. Stark gesüßter Kaffee heißt bei mir noch heute „Grafkaffee“.

Eine ähnliche Gedankenbrücke besteht zu einer Frau Linz. Diesen Namen verbinde ich mit der Erinnerung an ein von meiner Mutter als „Linzschnitte“ bezeichnetes Fettbrot, das keilförmig von einem runden Bauernbrot geschnitten und dick mit Schmalz bestrichen wurde. Wir hatten diese Köstlichkeit erstmals bei Frau Linz gegessen. Überhaupt knüpfen sich viele Erinnerungen aus dieser Zeit an leibliche Genüsse besonderer Art. Ich erinnere mich an ein riesengroßes rundes Brot. Zur Mitte hin wurden die Scheiben immer länger. Sie durften nicht quer, sondern nur längs geteilt werden. Wie wir kleinen Kerle die langen wurmartigen Gebilde dann in den Mund geschoben haben, weiß ich nicht mehr.

Die Straße, an der wir wohnten, war lediglich für den Bau vorbereitet. Der Ausbau wurde wohl infolge der Wirtschaftskrise unter Zurücklassung von Feldbahngleisen und Loren abgebrochen. Mein älterer Bruder und ein Junge aus der Nachbarschaft schoben die Loren ein Stück bergauf, stellten sich darauf und rollten damit den Berg hinunter. Ich Knirps durfte dabei nicht mittun, was mich sichtlich so sehr kränkte, daß ich dem entgangenen Kinderglück noch heute nachtrauere. Von irgendwo aus dem Wald, die Hügel dort waren alle bewaldet, schallten merkwürdige Schreie. Wir Kinder deuteten sie als Hilferufe und flüsterten uns unter Schaudern zu, ein Mensch habe sich im Wald verirrt und wolle nun auf sich aufmerksam machen, damit man ihn finde. Wir versuchten die Laute nachzuformen und immer, wenn ich in den folgenden Tagen die Schreie hörte, dachte ich, daß man den armen Kerl noch immer nicht gefunden habe. Heute weiß ich, daß irgendwo ein Mensch versuchte zu jodeln.

Nicht allzu weit entfernt, ich habe den Ort nie gesehen, muß ein Heim für geistig verwirrte Menschen gewesen sein. Die Kinder ärgerten mich mit einem Spruch, den ich bis heute nicht vergessen habe: „Starhof, Starhof, mach’s Türd’l auf, der Karli kommt im Dauerlauf und schreit in wilder Hast, ich bin jetzt euer Gast“. Ich hatte mit den dort lebenden Menschen mehrere denkwürdige Begegnungen, von denen ich hier nur eine herausgreifen will. Auf einem Waldspaziergang begegneten wir einem älteren Herrn. Der Unterhaltung meiner Eltern entnahm ich später, daß es sich wohl um einen der Heimbewohner gehandelt hat. Mein Bruder und ich turnten auf einem Holzstapel herum, den Waldarbeiter aus den Meterstücken gefällter Bäume aufschichtet hatten. Plötzlich fuchtelte der ältere Herr mit seinem Spazierstock und rief, er bekomme die „Scherereien“, wenn etwas passiere. In Erinnerung ist mir dieser an sich belanglose Vorfall wahrscheinlich geblieben, weil ich das Wort Scherereien mit dem mir bekannten Gegenstand Schere in Verbindung brachte und demzufolge lange Zeit erfolglos über den Sinn der Rede nachdachte.

Im Gedächtnis ist mir auch ein Gespräch meiner Eltern geblieben, in dem mein Vater einen Weg beschrieb, den er nehmen mußte, um irgendwohin zu gelangen. Mein Vater sagte:„...und an der Stelle muß ich dann in den sauren Apfel beißen...“. Der absurde Gedanke, daß mein Vater in einen saueren Apfel beißen mußte, noch dazu gerade an dieser mir unbekannten Stelle, hat mich lange beschäftigt. Die gesamte Situation, das Bild meines Vaters vor dem Hintergrund des Küchenfensters, steht mir noch heute wie eine Blitzlichtaufnahme vor Augen. Hätte ich damals gewußt, daß es sich nur um eine gängige Redensart handelte, ich würde mich an diese Begebenheit heute sicher nicht mehr erinnern.

Die örtlichen Gegebenheiten haben sich auch hier tief in mein Gedächtnis eingegraben Als ich mehr als 60 Jahre später erstmals wieder an den Ort zurückkehrte, fand ich trotz völliger Veränderung des Bebauungszustandes mit schlafwandlerischer Sicherheit das Haus, in dem wir gewohnt hatten. Das Haus stand leer. Ein Nachbar erklärte, daß Herr Graf zwei Jahre vorher im Alter von 105 Jahren verstorben sei und seine Erben erst vor sechs Wochen das Haus verkauft hätten. Ich fand auch die Waldlichtung, auf der die durchziehenden Zigeuner mit ihren Pferden lagerten, den Garten, in dem wir Scharen von Gartenzwergen bewundert hatten, und die Wiese, auf der wir mit dem Bernhardinerhund Wotan Ball spielten. Sogar die Bushaltestelle war immer noch am gleichen Ort. Nur den Bach, der dem Ort seinen Namen gibt, hatte ich viel breiter und unüberwindlich in Erinnerung.

Wegen der vorhersehbaren Angliederung Österreichs an das Reich wollte unsere Familie das Land verlassen. Die Schiffspassage nach Argentinien war gebucht, als mein Vater lebensbedrohlich erkrankte und schließlich in einem Wiener Hospital verstarb. Sein Tod verhinderte die weitere Flucht vor den Nazis, und für mich begann der Ernst des Lebens in einem Land, in dem mich viele Menschen nicht recht mochten.

Die erste Erinnerung an meine Zeit im Großdeutschen Reich bezieht sich auf eine Szene im Freibad. Wir, meine beiden Geschwister und ich, saßen auf der Liegewiese eines Freibads. Meine Mutter verteilte irgendwelchen Proviant oder Getränke, als der Bademeister auf sie zutrat und ihr erklärte, man habe sich über unsere Anwesenheit beschwert, und er müßte uns deshalb auf Anordnung der Behörden des Bades verweisen. Der Beschwerdeführer meinte wohl, seine Kinder könnten nicht mit uns im gleichen Wasser plantschen. Ich war mir der Bedeutung dieser Ausgrenzung noch nicht bewußt. Urlaubsreisen konnten sich in dieser Zeit nur wenige wohlhabende Menschen leisten, Besonders Kinder verbrachten ihre Freizeit vorwiegend im Schwimmbadbad.

An meinen ersten Schultag erinnere ich mich noch sehr genau. Damals ging man selbst am ersten Tag allein zur Schule, jedenfalls war das bei mir so. Den Ranzen auf dem Rücken, die Brottasche vorm Bauch, so stapfte ich den Berg hinauf, auf dem die Schule auf mich wartete. Auf halbem Weg verharrte ich und blickte noch einmal zurück. Ich denke, mir war bewußt, daß ein Lebensabschnitt zu Ende ging und ein neuer begann. Meine Mutter hatte mir ein mit Spiegelei belegtes Butterbrot eingepackt, das verführerisch aus der Brottasche duftete. Der schulische Rhythmus von Pause und Unterricht war mir noch nicht geläufig, auch hatten wir am ersten Schultag nur eine einzige Stunde zur Eingewöhnung. Irgendwann konnte ich dem Duft aus meiner Brottasche nicht mehr widerstehen, holte das Brot hervor und biß hinein. Das brachte mir die erste Rüge in meinem Schülerdasein ein.

Zu Beginn meiner Schulzeit schrieben wir noch Sütterlin, eine Schrift, in der es viele kleine Ringel gibt. Wenn wir den Federhalter zu tief in das Tintenfaß tauchten, zogen sich diese zu und es entstanden kleine Kleckse. Bei der Durchsicht der Hefte setzte sich der Lehrer vor uns auf die Bank, zückte den Rohrstock und wir mußten die Hand vorstrecken. Für jeden Klecksringel zog er uns einen kräftigen Hieb über die Finger. Mir fiel das Lernen leicht, weil ich sehr neugierig, oder besser sehr wißbegierig, war. Als uns der Lehrer am Jahresende an einen neuen Klassenlehrer übergab, ließ er die Schüler einzeln aufstehen und charakterisierte sie kurz entweder als „frech“ oder als „dummfrech“. Die Söhne privilegierter Bürger waren davon natürlich ausgenommen. Ich gehörte selbstverständlich nicht zu letzteren und bin heute noch stolz darauf, daß er nicht wagte, mich „dumm“ zu nennen.

Meine Mutter war eine resolute Frau. Ich weiß nicht, ob das in unserer damaligen Situation immer der zweckmäßigste Standpunkt war, jedoch bin ich meiner Mutter dankbar, denn so konnten wir in einer uns feindlich gesonnenen Umwelt unsere Selbstachtung bewahren. Als ich etwa 10 Jahre alt war, besuchte uns ein junger Mann. Ich sollte als Pimpf ins Jungvolk der Hitlerjugend aufgenommen werden. Meine Mutter erklärte ihm unumwunden, daß dies für uns nicht in Betracht käme. Ich kenne Gleichaltrige, die nur ungern zu den Dienststunden der Hitlerjugend gingen, aber keinen, der nicht Mitglied dieser Organisation war. Zu Beginn des neuen Schuljahres wechselte unser Klassenlehrer. Der neue Lehrer wollte, daß wir nach der Meldung durch den „Klassenführer“ ein Lied singen. Da ich wohl eine gute Musikzensur hatte, sollte ich das Lied anstimmen. Er wollte natürlich zackige HJ-Lieder hören und nannte als Beispiel „Es zittern die morschen Knochen“. Ich mußte darüber lachen, denn ich kannte diese Art Lieder nicht und dachte, der Lehrer mache einen Witz. Der war jedoch sehr erbost, als er erfuhr, warum mir das Lied unbekannt war und ernannte einen anderen Vorsänger. Er bestellte meine Mutter in die Schule, um ihr zu sagen, ich solle nicht auch noch stolz auf diese Ausnahmesituation sein. Heute weiß ich, wie das Lied endete: „Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fallt, denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt“. Ja, die Welt fiel in Scherben, aber sie gehört glücklicherweise nicht ihnen.

Meine Außenseiterrolle machte mich zum idealen Objekt der Aggression anderer Kinder. Ich erinnere mich, daß ich auf dem Schulweg oft verfolgt, umringt und bedroht wurde. Heute nennt man das Mobbing. Ich muß aber sagen, daß es stets bei Drohgebärden und Beschimpfungen blieb und nicht zur Gewaltanwendung kam. Die Ausgrenzung aus der Gemeinschaft der Altersgenossen führte frühzeitig zu solitären Aktivitäten.

In den Schulferien unternahm ich ausgedehnte Fahrradtouren, besuchte Schwimmbäder in Orten, wo man mich nicht kannte und lernte so, mich selbst zu beschäftigen. Im Nachhinein stelle ich fest, daß es auch einige Familien gab, die ihre Kinder dazu anhielten, uns nicht zu meiden.

Meine Mutter verdiente unseren Lebensunterhalt als Damenschneiderin. Sie hatte eine Modeakademie besucht und war dadurch in der Lage, auch für vom Normalen abweichende Figuren Maßarbeit zu liefern. Das brachte ihr einen hinreichenden Kundenkreis. Ich weiß nicht, wieviel Stunden ihr Arbeitstag hatte, aber ich erinnere mich, daß ich stets beim Rattern der Nähmaschine einschlief und auch am frühen Morgen beim gleichen Geräusch erwachte. Die fertigen Kleidungsstücke habe ich dann als Fahrradkurier oft in letzter Minute zu den Kundinnen gebracht, auch am späten Weihnachtsabend. Um den Versicherungsschutz der Krankenkasse für sich und ihre Familie zu erhalten, mußte meine Mutter von Zeit zu Zeit ein Arbeitsverhältnis eingehen. Einmal wurde mir stellvertretend für meine Mutter diese Aufgabe zuteil. Früh fünf Uhr, noch im Dunkeln, stand ich an der Bushaltestelle und nahm ein Paket Zeitungen in Empfang, das mit dem Autobus angeliefert wurde. Ich mußte die Zeitungen an die einzelnen Abonnenten verteilen. Die Schultasche hatte ich schon dabei, denn die Tour war gewissermaßen mein verlängerter Schulweg. Schlimm dabei war nur, daß einer der Abonnenten etwa zwei Kilometer abseits des Zustellungsbezirks wohnte. Oft schaffte ich den Weg bis dorthin nicht vor Schulbeginn und er bekam seine Morgenzeitung am Nachmittag oder gar erst am nächsten Tag. Meiner Mutter wurde das Arbeitsverhältnis schließlich wegen Unzuverlässigkeit gekündigt. Seinen Zweck aber hatte es erfüllt. Der Versicherungsschutz für die Familie war wieder für einige Zeit gesichert.

Wieder einmal war ich mit dem Fahrrad unterwegs. Vor einer geschlossenen Bahnschranke mußte ich warten. Auf den Gleisen stand ein langer Güterzug. Es herrschte beklemmende Stille. Niemals werde ich die blassen Gesichter vergessen und die hoffnungslos verzweifelten Augen hinter den mit Stacheldraht gesicherten Luken der Viehwaggons. Diese Menschen kehrten nie zurück. Ich würde ihnen gern an diesem Ort ein Denkmal setzen aus räumlich verschweißten Eisenbahnschienen, so angeordnet, daß aus jeder Perspektive ein Davidstern zu sehen ist, durchwoben von Stacheldraht.

Das Frühjahrshochwasser hatte die Uferbefestigung eines Baches zerstört. Täglich wurden russische Kriegsgefangene durch den Ort getrieben. Sie mußten, bis zum Bauch in eiskaltem Wasser stehend, das angeschwemmte Geröll entfernen. Abends führten sie eine zweirädrige Karre mit sich, auf der sie Kameraden, die den Strapazen nicht gewachsen waren, zurück ins Lager brachten. Ich weiß nicht ob diese noch lebten oder tot waren. Wieso sah ich all diese schrecklichen Dinge, von denen andere später nichts gewußt haben wollten?

Der Krieg kehrte an seinen Ausgangsort zurück. Die alliierten Truppen hatten die deutschen Grenzen überschritten. Täglich überflogen riesige Bomberverbände die Stadt. Zu dieser Zeit suchten die Menschen nicht mehr im Luftschutzkeller Schutz. Allzu viele waren unter den zusammenstürzenden Häusern begraben worden oder sind im Rauch der brennenden Gebäude erstickt. Die Leute standen auf der Straße und blickten gebannt nach oben. Der Angriff konnte schließlich auch uns gelten. Ein deutsches Jagdflugzeug schoß einen der Bomber in Brand. Die Menschen neben mir jubelten triumphierend. Der Pilot konnte das stürzende Flugzeug noch einmal abfangen und in schneller Folge sprangen kleine Punkte aus der Maschine. Ich kannte die Zahl der Besatzungsmitglieder dieses Flugzeugtyps und zählte stumm die sich öffnenden Fallschirme. Es waren elf. Alle konnten sich retten. Einmal war ich mit dem Fahrrad unterwegs, als die Sirenen einen Tagesangriff ankündigten. Durch Flucht aus dem Stadtgebiet suchte ich mich gleich anderen in Sicherheit zu bringen. Ich trat kräftig in die Pedalen. Neben mir fuhr eine junge Frau, die sich über die Grausamkeit Anglo-Amerikanischer Luftangriffe erregte. Ich hielt ihr entgegen, daß zuerst deutsche Bomben das englische Coventry zerstört hätten und die Deutsche Luftwaffe laut deutscher Propaganda ganz England „coventrisieren“ wollte. Ich habe das genau so wenig vergessen, wie die bange Ungewißheit der Bombennächte, in denen deutsche Städte zu Staub zerfielen.

Die Front rückte näher. Die Naziführung agierte immer gereizter. Ich habe die Todesmärsche gesehen und die Knüppel mit denen erschöpfte KZ-Häftlinge vorwärts geprügelt wurden. Pioniersoldaten errichteten Straßensperren und bereiteten Brücken zur Sprengung vor. Durch Wiederbelebung der Legende vom „Werwolf“ sollte die Bevölkerung für den Fall der Besetzung zu sinnlosem konspirativen Widerstand aufgestachelt werden. Viele Jugendliche meines Alters wurden noch im April 1945 in der Schlacht um Berlin verheizt. In dieser Situation hielt es unsere Mutter für geraten, das Umfeld in dem uns jeder kannte zu verlassen. Wir zogen zu Fuß in das etwa 12 km entfernt liegende Dorf, in dem meine Großmutter wohnte. Dort erlebten wir die letzten Wochen des Kriegs.

Einer der Bauern des Dorfes hatte seinen polnischen Zwangsarbeiter über Jahre hinweg drangsaliert. Als er ihn wieder einmal mit der Mistgabel bedrohte, setzte sich dieser zur Wehr. Der Pole wurde verhaftet und von einem Standgericht zum Tode verurteilt. In einem nahegelegenen Steinbruch wurde er aufgehängt. Ich sah, wie das Hinrichtungskommando auf Lastwagen durchs Dorf fuhr. Zur Abschreckung mußten die polnischen Zwangsarbeiter aus den umliegenden Dörfern Zeugen der Hinrichtung sein. Ein Schwager des ermordeten Polen, der mit Vergeltung gedroht hatte, wurde erschossen.

Die Rote Armee hatte einen langen und opferreichen Weg zurückgelegt. Von Leningrad und Stalingrad war sie bis an die Elbe vorgedrungen. Die Deutsche Wehrmacht mußte sich in verzweifelten Kämpfen immer weiter zurückziehen. Wo sie die Front nicht halten konnte, ließ sie keinen Stein auf dem anderen. Sie nannten das „Taktik der verbrannten Erde“. Die als Kettenhunde verschrieene Feldpolizei knüpfte Soldaten, die das sinnlose Morden nicht mehr ertragen konnten, am nächsten Baum auf.

Das Dorf, in dem wir Zuflucht gefunden hatten, wurde erbittert umkämpft. Mal war es von den Russen besetzt und lag unter deutschem Beschuß, mal traten die Deutschen zum Gegenangriff an, um die Russen zu vertreiben. Deutsche Soldaten, kaum älter als ich, weinten. Sie hatten den Befehl, bis zum letzten Mann zu kämpfen und keine Gefangenen zu machen. Die Russen kamen zwar nicht mit bluttriefenden Messern zwischen den Zähnen, wie es uns die Nazipropaganda glauben machen wollte, aber sie nahmen, was ihnen wertvoll erschien. Es war gut, ihnen dabei nicht im Weg zu stehen. Die Dorfbewohner fürchteten auch, daß das Verbrechen an den polnischen Zwangsarbeitern beim Einmarsch der Russen verhängnisvolle Folgen haben könnte. Tatsächlich erschienen die Polen wenige Tage später und erhängten den betreffenden Bauern in seiner Scheune.

Draußen herrschte naßkaltes Wetter und die von schwerem Kriegsgerät durchpflügten Wege waren kaum passierbar. Das Dorf lag unter deutschem Artilleriebeschuß. Im Haus hatte sich ein Trupp Rotarmisten einquartiert. Wir, meine Mutter und ich, hielten uns beiseite, um nicht aufzufallen. Da trat einer der Rotarmisten auf uns zu. Er war etwas älter als die anderen, durchweg blutjunge Burschen. Unter der Nase trug er einen ausladenden Schnauzbart. Dem Aussehen nach war er ein einfacher Kolchosbauer aus den Weiten Rußlands. In der Hand hielt er ein Paar abgetragene Schnürstiefel, die er in irgendeiner Ecke gefunden hatte. Er deutete auf seine lehmverkrusteten Stiefel, bei denen sich die Sohle teilweise vom Oberleder gelöst hatte, und wir begriffen, daß er die Schuhe bitter nötig hatte. Er wollte von meiner Mutter wissen, ob ich sie noch brauchte oder ob er sie haben könnte. Diese bittende Geste war in einer Situation der Angst und Ohnmacht so unerwartet, daß sie uns zu Tränen rührte. Der Soldat hatte unsere Tränen wohl mißverstanden, denn er versuchte, uns die Schuhe mit beschwichtigenden Gebärden zurückzugeben. Erst nach langem Zureden war er bereit, sie als Geschenk anzunehmen. Diese ausgetretenen Schuhe sind wohl das für mich wertvollste Geschenk, das ich je in meinem Leben machen durfte. Ich wünsche noch heute, daß es ihm vergönnt war, sie nach Hause zu tragen.

Am 8. Mai 1945 ging der Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands zu Ende. Für mich ist es ein Tag der Befreiung. Diejenigen, die sich allein an erfahrenem Leid orientieren und weniger an dem Leid, das durch sie oder mit ihrer Duldung anderen zugefügt wurde, bleibt es ein Tag der Niederlage.

Man sagt landläufig, daß das Alter das Langzeitgedächtnis schärft, während das Kurzzeitgedächtnis nachläßt. Kann es nicht auch sein, daß ältere Menschen mehr Zeit haben, über ihre Anfänge nachzudenken, und ihnen aktuell weniger merkenswerte Dinge begegnen? Das Gedächtnis älterer Menschen mißt nach Jahrzehnten, deshalb sollte man Nachsicht üben, wenn sie mitunter alltägliche Dinge vergessen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 02.01.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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