Claudia Savelsberg

Der ungeborene Sohn

Schon als Teenager wusste Petra, dass sie niemals heiraten würde und auch keine Kinder wollte, was ihre Mutter kopfschüttelnd zur Kenntnis nahm. Wenn der richtige Mann käme, würde es sich Petra sicher anders überlegen. Außerdem wollte sie unbedingt Enkelkinder.

Mit einundzwanzig Jahren verliebte sich Petra in den zwölf Jahre älteren Manfred. Er war Lehrer. Intelligent, charmant und belesen. Manfred war die große Liebe für Petra, und sie wollte nach wenigen Wochen zu ihm ziehen, träumte von einer gemeinsamen Zukunft. Mit diesem Mann konnte sie sich ein Kind vorstellen. Einen Sohn, für den sie schon einen Namen hatte – Johann Christian Jochen. Es musste unbedingt ein Sohn sein. Ihr Sohn. Sie sah das Kind schon in ihren Armen. Sie würde ihrem Sohn alle Liebe der Welt schenken.

Nach einem Jahr zerbrach die Beziehung; denn Manfred kehrte zu seiner geschiedenen Frau zurück. Petra war unglücklich und weinte oft. Ihre Mutter sagte: „Was hast du dir denn vorgestellt? Schau dich doch mal im Spiegel an. Du hast kaum Busen, und mit deinen langen Armen siehst du aus wie ein Affe. Er ist Lehrer und du nur eine kleine Sekretärin. Was hättest du ihm schon bieten können?“

Petras große Liebe war gestorben, und damit starb auch ihr Wunsch nach einem Kind. Und zwar für immer. Sie fühlte keine Leere in sich. Es würde kein Kind geben in ihrem Leben. Niemals. Sie entwickelte auch nie den berühmten Mutterinstinkt. Wenn eine Freundin ihr voller Stolz und Glück ihr Baby in den Arm legte, dann hielt sie instinktiv sein Köpfchen. Aber mehr Gefühl entwickelte Petra nicht. Nein, es würde kein Kind geben in ihrem Leben. Niemals.

Als Petra heiratete, war sie bereits zweiundvierzig Jahre alt. Die biologische Uhr tickte, war aber noch nicht abgelaufen. Sie hätte noch ein Kind bekommen können. Das hatte ihr Frauenarzt bestätigt. Ihre Mutter kommentierte die bevorstehende Hochzeit mit den Worten: „Es wäre doch pervers, wenn du in deinem Alter noch ein Kind bekommen würdest. Außerdem musst du deine Gene nicht unbedingt weitergeben.“

Petras Mann, der aus erster Ehe zwei Kinder hatte, wollte keinen Nachwuchs mehr. Somit das Thema Kind erledigt, was Petra erleichtert zur Kenntnis nahm. Nur die Mutter sagte mit weinerlicher Stimme: „Dann werde ich wohl nie ein Enkelkind im Arm halten können.“

Manchmal wurde Petra gefragt, warum sie keine Kinder hätte. Es wäre doch der Wunsch jeder Frau, einem Kind das Leben zu schenken. Wenn sie antwortete, dass sie nie Kinder gewollt hatte, hielt man sie für egoistisch. Oft kam auch die mitleidige Nachfrage: „Konntest du keine Kinder bekommen?“

Petra hatte immer Kinder bekommen können. Aber da sie keine wollte, tat sie alles zur Verhütung. Da sie die Pille nicht vertrug, ließ sie sich eine Spirale einsetzen, die alle zwei Jahre erneuert werden musste. Der Eingriff war mit schlimmen Schmerzen verbunden. Petra hatte immer Angst davor, aber noch größer war ihre Angst vor einer ungewollten Schwangerschaft. Es würde kein Kind in ihrem Leben geben. Niemals.

Petra lebte glücklich mit ihrem Mann. Auch ohne Kinder. Dennoch scheiterte die Ehe nach fünfzehn Jahren. Sie hatten sich auseinandergelebt und konnten nicht mehr zueinander finden. Es ging einfach nicht mehr. Sie trennten sich einvernehmlich und reichten die Scheidung ein. Kommentar der Mutter: „Du bist ja noch dümmer als ich immer dachte. Hättest du ein Kind bekommen, hättest du deinen Mann damit an dich binden können. Aber auch das hast du ja nicht geschafft. Du hast nichts in deinem Leben geschafft.“

Petra stand nach ihrer Scheidung kurz vor dem Zusammenbruch und entschloß sich zu einem mehrwöchigen Aufenthalt in einer Klinik, die auf psychosomatische Krankheiten spezialisiert war. Sie konnte einfach nicht mehr. Aber sie wollte sich helfen lassen, um ein neues Leben beginnen zu können.

In der Klinik lernte sie Stefan kennen. Ein Hüne mit stahlblauen Augen, zwanzig Jahre jünger als sie. Viele mochten ihn nicht; denn Stefan konnte extrem böse schauen, um Menschen von sich fern zu halten, was Petra schnell merkte. Sie mochte ihn und setzte sich in der Gruppentherapie bewußt neben ihn.

In einer Sitzung erzählte Stefan von seinem Leben. Sein Vater hatte ihn von Kindesbeinen an geprügelt und mißhandelt. Bei jedem kleinsten Anlaß. Wenn die Mutter dazwischen gehen wollte, schlug er auch sie. Nach der Lehre bekam Stefan eine feste Anstellung und zog zu seiner Freundin, die seine große Liebe war. Sie heirateten, und dann wurde die junge Frau schwanger. Stefan bekam Panik.

Ich hatte einfach Angst davor, dass es ein Sohn würde. Ich hatte Angst, dass ich einen Sohn prügeln und mißhandeln würde. So, wie wie es mein Vater mit mir getan hat. Aber wir bekamen ein Mädchen. Unsere Amelie.“ Stefan, der Hüne mit den stahlblauen Augen, brach in Tränen aus. Petra reichte ihm ein Taschentuch und nahm seine Hand. Dann brach sie in Tränen aus.

Der Therapeut fragte: „Petra, was hat Sie denn so bewegt an der Geschichte, die uns Stefan gerade erzählt hat?“ Petra rang nach Worten, konnte aber nichts sagen. Stefan reichte ihr ein Taschentuch, nahm ihre Hand und drückte sie an sich.

Petra beruhigte sich, gewann ihre Fassung wieder und erzählte. Einmal im Leben hatte sie sich einen Sohn gewünscht, dem sie in Gedanken schon den Namen Johann Christian Jochen gegeben hatte. Jochen nach dem Vornamen ihres Bruders, der Patenonkel hätte sein sollen. So hatte sie es sich vorgestellt.

Von ihrer Mutter wurde Petra immer wieder gedemütigt und beleidigt. Ihr ganzes Leben lang. Sie sagte unter Tränen: „Mein Kind hätte unbedingt ein Sohn sein müssen. Ein Mädchen hätte ich im Kreißsaal schreiend umgetauscht. Aus Angst, mich an einer Tochter so zu vergehen, wie sich meine Mutter an mir vergangen hat.“

Petra erschrak vor ihren eigenen Worten. Ihr Unterbewußtsein hatte im Laufe der Jahre vieles gespeichert. Jetzt hatte sie ausgesprochen, warum der Kinderwunsch in ihr gestorben war. Es tat nicht weh. Sie fühlte keine Leere in sich. Nur Erleichterung.

In seltenen Momenten dachte sie noch an ihren ungeborenen Sohn, dem sie den Namen Johann Christian Jochen hatte geben wolllen. Sie hatte ihn nie empfangen, aber er blieb in ihrem Herzen. Es wäre ihr Sohn gewesen. Sie hätte ihm ihre Liebe geschenkt. Es tat nicht weh. Sie fühlte keine Leere in sich.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.01.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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