Hartmut Wagner

Ziegenbockkrieg auf dem Donauradweg

 

Dienstag, 27.6.2006

Um drei Uhr morgens bin ich in meinem Haus am Lührmannsweg 9 in Schwerte-Ergste

aufgestanden. Um vier Uhr klingle ich bei meiner Nichte Anke im Nebenhaus. Sie hatte versprochen, mir Frühstück zu machen, das um vier Uhr auf dem Tisch stehen sollte, aber verschlafen. So bekam ich das Frühstück ein wenig verspätet: Zwei Toastbrote mit Käse, zwei leckere Tassen Milchkaffee. Eine liebe Nichte ist doch etwas Schönes.

Dann brach ich auf, im Dunkeln ohne Beleuchtung und mit prallem Rucksack auf meinem gelben Raleigh-Rennrad. Wunderbar frische Luft, Vogelkonzert, Morgennebel über der Ruhr, fast keine Autos und deswegen überquere ich skrupellos einige Kreuzungen bei roter Ampel.

Um fünf Uhr fünfzehn erreiche ich den Dortmunder Hauptbahnhof. Emil wartet auf Gleis elf. Der ICE fährt um fünf Uhr sechsunddreißig nach Karlsruhe und weiter nach Basel.

Wir bringen unsere Räder in Wagen 164 unter und suchen unsere reservierten Sitze auf. Ein Schwarzer weist mich darauf hin, dass ich auf seinem Sitz Platz genommen habe, ich darauf, dass der Zug fast leer ist. Der Dunkelhäutige beruhigt sich.

Eine Reisegruppe Radlerinnen und Radler will von Nancy entlang der Mosel nach Deutschland fahren. Sie waren auch schon im peruanischen Hochland und im marokkanischen Atlasgebirge. Emil übt Kritik an einer gerade zugestiegenen mittelalten Dame, die Laptop und Aktenkoffer spazieren führt, mit der freundlichen Bemerkung: "Die tut auch nur so, als ob sie intelligent ist."

Dafür entschuldigt er sich als Kavalier umgehend. Die Dame nimmt weder von Bemerkung noch Entschuldigung Notiz. Um Emils Äußerung zu verstehen, muss der Leser wissen, dass ich die Frau vorher gefragt habe: "Gibt es denn hier im Zug lnternetanschluss?" Darauf antwortete sie: "Das weiß ich nicht.“

Über Hagen, Solingen, das Rheintal mit Burgen und Weinbergen, Mainz und Mannheim erreichen wir um neun Uhr sechsundvierzig Karlsruhe. Dort steigen wir in einen Regionalzug um, der um 10 Uhr 10 nach Donaueschingen weiter fährt. Schwarzwaldtannen, -fichten und -häuser fliegen vorbei. Bei Rastatt entlädt sich ein Unwetter. Der Zug fliegt fast lautlos dahin und erreicht um zwei Uhr sechsundvierzig am Nachmittag den Bahnhof von Donaueschingen.

ln Donaueschingen fisselt es ein wenig. Dort suchen und finden wir schließlich den Donauradweg. Wir fahren zur Donauquelle im Park des Schlosses Fürstenberg. Da quillt das glasklare Flusswasser in einem künstlerisch wunderbar eingefassten Teich fast unmerklich nach oben. Wo genau es aus dem Boden steigt, ist nicht zu erkennen. Anschließend fließt das Wasser von oben über die Donaupforte. Der Quellteich ruht glasklar und fast ohne Bewegung in sich selbst.

Ein paar Touristen aus Mexiko, die vor allem wegen der Fußballweltmeisterschaft nach Deutschland gekommen sind, bewundern den Schlosspark und den Quellteich der Donau. Ich wechsle ein paar spanische Phrasen mit ihnen: "Como están Vds?" "¡Ah, muy bién! ¡Que fuente maravillosa! Nosotros quieren mucho los Alemanes y Alemania." "¡Deseo vacaciónes llenas de experiencas muy buenas a Vds! ¡Adios!" "Wie geht es lhnen'?" "Ah, sehr gut! Welch wunderbare Quelle! Wir mögen die Deutschen und Deutschland sehr!" "lch wünsche Ihnen Ferien voller guter Erfahrungen!

Tschüss!" Emil gefällt mein, nun ja, kosmopolitisches Verhalten. "Das finde ich gut, wie du so mit denen sprichst. Das ist ja gerade das Schöne an solchen Ferien. Man lernt doch viele neue Leute kennen und dann noch aus Ländern, die so weit entfernt sind." Ich widerspreche ihm nicht und freue mich über sein Lob.

Unterwegs sehen wir einen Storch, den Emil fotografiert. Hinter Tuttlingen befahren wir ein Naturschutzgebiet, das bis Kloster Beuron reicht, Felsen, Burgen darauf, Wald und Einsamkeit. Wir radeln über einen weißen  Schotterweg und machen Halt in der Ziegelhütte, weitab von jeglicher Siedlung. Dort versteckte die Familie Hein von 1944 bis 1945 eine jüdische Frau. Der DGB ließ dort 1988 ein' Denkmal errichten.

Heute müsste die Ziegelhütte dringend renoviert werden, aber der Staat erschwert Wirtin Yvonne und ihrem Mann die Arbeit, da er überdimensionierten Feuerschutz verlangt. Außerdem machen ihnen ständig Formalitäten das Leben schwer.

Die Ziegelhütte empfehle ich als preisgünstige Übernachtungsmöglichkeit mitten im Paradies. Für die sehr schöne Ferienwohnung sind pro Person und reichlichem Frühstück am Tag 25 Euro zu entrichten.

Nahe beim Haus gibt es Fische in der Donau und direkt an der Ziegelhütte Schweine, Schafe, Enten und Hühner. Emil will hinauf zur Burg Wildenstein, in der eine Jugendherberge eingerichtet wurde. Deswegen begleite ich ihn noch bis Beuron. Die Sonne scheint freundlich auf uns herab. Am Wegesrand sehen wir graue Felsen, darauf Burgen mit roten Dächern, die Donau, Wiesen, Wald und einsame Bauernhöfe. Schließlich erreichen wir das Benediktiner Kloster Beuron, eine imposante Anlage, die über eine klostereigene Metzgerei, einen riesigen Garten und eine wunderbare Klosterkirche mit höchst melodiösem Glockenklang verfügt. In ihr findet gerade ein Gottesdienst statt, dem Mönche mit gregorianischen Gesängen ein feierliches Gepräge verleihen. Einem Fluranschlag der Mönchsregeln zufolge, müssen die Mönche um fünf Uhr morgens aufstehen und anschließend einen strikt fest gelegten Tagesplan einhalten.

Nahe dem Kloster führt eine überdachte Holzbrücke über die Donau. Das Dach soll das Holz vor Nässe und Fäulnis schützen.

Bevor ich in die Ziegelhütte zurück kehrte, verfahre ich mich und gerate auf einen sehr schönen Kreuzweg, der durch dichten Wald in eine erleuchtete Grotte führt. Die ganze Anlage könnte Atheisten zur Konversion veranlassen. Ich konvertiere zwar nicht, aber mir erscheint mein Gang über den Kreuzweg wie der Beginn einer Erlösung aus der schwersten Depression meines Lebens. Sie belästigt mich bereits seit ungefähr zwei Wochen schmerzhaft und hat mich unter anderem dazu veranlasst, große Teile des Efeubewuchses an meinem Haus abzureißen. Ich konnte das grüne Schlinggewächs einfach nicht mehr sehen. Es erfüllte meine Seele mit Trauer und mein Herz mit Tränen. lch musste Licht auf die Hauswände bringen und strich sie deshalb strahlend weiß.

Auf dem Kreuzweg, diesem Herz zerreißenden Todesweg, flüstere ich abwechselnd die Namen: Jesus, Martin Luther King, Albert Schweitzer und Gandhi vor mich hin, die mir großen Trost spenden. Die Depression verlässt mich während der ganzen Reise nicht vollständig,. Mein Gang über den Beuroner Kreuzweg aber trägt entscheidend dazu bei, dass sie immer mehr abnimmt. Diese Depression betrachte ich im Nachhinein als einen Segen, da sie mich für die Zukunft stärkte und mich sensibilisierte, während ich sie mit mir schleppte. Sie machte mich offener für andere Menschen, schenkte mir mehr Mitgefühl und ließ mich sehr genau erkennen, dass der Mensch ein Grashalm ist, um nicht mit Martin Luther zu sagen: "ein elender Madensack" .

Ich war aber trotzdem überaus froh, als sie einige Tag nach meiner Heimkehr verschwand.

Emil schüttet sich zur Feier des Tages auf halbem Weg zur Burg Wildenstein eine ganze Flasche Wein hinter die Binde und wird alsbald zum Opfer des Getränks. Als wir noch ein wenig an der Donau spazieren gehen, legt er sich kurze Zeit quer auf die Straße.

Um zehn Uhr gehe ich ins Bett. Emil schläft vor dem Fernseher ein, beglückt, dass er einige seiner Freunde telefonisch erreicht hat. Ich will noch Tagebuch schreiben, komme aber über Anfänge nicht hinaus.

 

 

Mittwoch, 28.6.2006

Um acht Uhr frühstücken wir gut. An diesem Tag kommen wir fast bis nach Ulm und übernachten im Gasthof "Hirsch" in Schmiechen, einem Ortsteil von Schelklingen.

Auf der Donau sehen wir einen Pulk aus Kanus. Die Kanuten sind offenbar Anfänger. Ein Vorpaddler zeigt ihnen, wie sie ihre Paddel schwingen müssen und die Ladung zu verstauen haben. Der Plastikbehälter mit wichtigen Reiseutensilien ist in der Mitte des Kanus fest zu zurren.

Emil, ein Sachse, schreit: "Kürsschen!" oder etwas Ähnliches. lch höre erst einmal irgendetwas wie "Kirche" und wundere mich, weil ich keine sehe.

Dann taucht ein Kirschbaum mit prallen roten Früchten auf und im Nachhinein verstehe ich das für einen Westfalen schwierige Sächsisch. Emil der es naturgemäß perfekt beherrscht, ärgert sich manchmal, wenn ich nicht sofort begreife, was er will, und er manches doppelt oder gar dreifach sagen muss.

Mein sächsischer Begleiter rupft die Kirschen eifrig vom Baum und stopft sie sich genüsslich in den Mund. "Hast du überhaupt gefragt, ob du das darfst?", frage ich. "Ja klar", schallt es zurück. "Na, dann kann ich ja auch beruhigt ernten", denke ich und lange zu wie Emil. Außerdem hängen die gut bestückten Zweige über den Gartenzaun hinaus bis fast zum Weg hinunter.

Da kommt plötzlich der Eigentümer des Kirschbaums: "Was macht ihr denn da?" Na ja, was wohl? Gute Frage! Aber trotzdem antworte ich mit Blick auf Emil: "Der Blödmann hat mir gesagt, Sie haben ihm das erlaubt." "Wer ist hier ein Blödmann? Wen meinen Sie damit? Kirschen klauen und mich dann auch noch beleidigen!" Der Baumherr fühlt sich beleidigt. Emil macht sich schleunigst aus dem Staub. lch höre kaum unterdrücktes Kichern. Ich begütige: "Ich habe meinen Begleiter Blödmann genannt, nicht Sie, Entschuldigung!"

Danach verschwinde ich, ohne abzuwarten, ob meine Entschuldigung

angenommen wird. Dann überholt uns wahrhaftig eine gut aussehende Frau, die ihr Fahrrad mit einer riesigen Einkaufstasche beladen hat. Sie wohnt nahebei in Mengen und betreibt dort eine Imbissbude. Nach 25 Jahren hat ihr Mann sie verlassen. Sie kann ihn aber nicht hassen, sondern liebt ihn immer noch. Gestern hat sie vor Kummer geweint. Sie erzählt uns Fremden das alles ohne Hemmungen, als wären wir ihre besten Freunde. Wahrscheinlich erleichtert es sie sehr, uns ihre traurige Geschichte zu erzählen. Ich hätte fast mit ihr geweint und wir wünschen ihr beim Abschied von Herzen alles Gute. Emil schnauft angestrengt hinter mir her. Er kämpft mit den Folgen der gestrigen Weineskapade und muss häufig rülpsen. Aus heiterem Himmel fängt es an zu gießen und wir werden sehr nass. Aber schnell scheint wieder die Sonne. Den Ort Riedlingen schmücken wunderbare alte Fachwerkhäuser und wir sehen hübsche mit Blumen geschmückte Brunnen. Die Kirche, welche ich kurz aufsuche, durchbrausen majestätische Orgeltöne. Auf den Wiesen am Wegesrand suchen Störche nach Fröschen und anderen Beutetieren. In einem Supermarkt kaufen wir Äpfel, Bananen und Getränke, die wir anschließend hungrig und durstig zu uns nehmen.

Dank guten Wetters trocknen unsere feuchten Kleidungsstücke allmählich. Viele unangenehme Steigungen erschweren uns das Vorwärtskommen. Wir kehren im Wirtshaus „Zum Rössle“ ein und verzehren jeder eine Wurstplatte.

Eine meiner Rucksackbefestigungen reißt ab. Emil hat Nadel und Faden dabei. lch repariere die Halterung gemäß Emils Anweisungen, und, oh Wunder, alles hält.

Das Ziel Ulm bleibt zunächst unerreichbar. In Ehingen kaufe ich Postkarten und Emil lässt seine Digitalkamera, die immer fünf statt einer Aufnahme schießt, von einer netten Fotografin reparieren. Der Radweg verläuft nicht immer nah an der Donau entlang, sondern manchmal neben dicht befahrenen Autostraßen weitab vom Fluss. Vielleicht verhindern hier Eigentumsrechte und unfähige Kommunalpolitiker eine bessere Wegführung. Auf dem Radweg hat uns niemand überholt.

Emil ist schon ein wenig braun geworden. Ich hatte seit dem Frühjahr stark juckende, rote Flecken überall an meinen Beinen und musste mich ungeheuer beherrschen, um nicht ständig daran herum zu kratzen. Manchmal kratzte ich trotzdem und erlebte ein ungeheuer intensives Schmerzlust-Gefühl. Sprühte ich in der Badewanne mittels des Duschkopfes heißes Wasser auf die Flecken, ging ich fast in die Luft, solche Lustgefühle verursachte der hässliche Ausschlag. Angeblich, so der Hautarzt, war die Bakterienfauna auf meiner Haut geschädigt und frische Luft, Sonne und das Medikament Fenistil mit viel Kortisonanteil sollten die Ekzeme beseitigen. Das Fahrradfahren mit kurzen Hosen in der prallen Sonne wirkt sich auch schon etwas positiv aus. Sie und heißes Wetter begleiten uns netterweise während unserer ganzen Tour, dafür aber auch im Gegenzug ein relativ starker, unaufhörlicher Gegenwind aus Osten.

Um halb sechs Uhr abends kommen wir im Gasthof „Hirsch“ in Schmiechen, einem Ortsteil von Schelklingen, an. Das Doppelzimmer kostet mit Frühstück 36 Euro . Wir fragen uns, ob das jeder zu bezahlen hat oder ob es der Preis für zwei Personen im Doppelzimmer ist.

Zum Abendessen vertilgt Emil Spätzle mit Züricher Geschnetzeltem. Ich trinke zwei Apfelschorlen und esse eine Gemüseplatte mit Bratkartoffeln.

Der sechsundachtzigjährige Wirt erzählt uns aus seinem Leben. Er war zwei Jahre lang in französischer Kriegsgefangenschaft. Am Nebentisch tagen Mitarbeiter einer Zementfabrik und reden über Sprengladungen und dieSinus- und Kosinusfunktion auf dem Taschenrechner.

Ich schreibe fünf Postkarten an mehr oder weniger liebe Mitmenschen. Jetzt höre ich auf zu schreiben, denn Emil und ich begeben uns auf einen Abendspaziergang. Kaum haben wir den Gasthof „Hirsch“ verlassen, sticht mich ein großes geflügeltes Biest, eine Art Riesenfliege.

Wir gehen am Schmiechener Rathaus vorbei, aus dem wunderbare Lieder erklingen. Dort übt wohl gerade ein Chor. Dann steigen wir einen romantischen Kreuzweg zur Friedenskönigin Maria empor. Von hier oben sieht man das 1000-Seelen-Dorf Schmiechen in seiner ganzen übersichtlichen Ausdehnung.

 

Donnerstag, 29.6.06

Ich schlafe sehr gut. Wir verzehren um sieben Uhr am Morgen ein ordentliches Frühstück und legen eine sehr schöne Etappe von Schmiechen bis Marxheim zurück, das östlich von Donauwörth liegt. Des Öfteren durchqueren wir Dörfer deren Namen auf -heim enden. Eins von ihnen heißt Blindheim. Durch schattige Donauwälder erreichen wir Dillingen, während uns der Kraftwerksklotz der Atomanlage Grundremmingen mehrfach von weitem entgegen droht.

In Dillingen verspeist Emil zwei Brötchen mit Leberkäse, der ihm sehr gut schmeckt. Ich kaufe unterwegs im Lidl-Supermarkt Kirschen und Buttermilch.

Beim Bäcker labe ich mich an einer Schokoladenbanane. In Ulm besichtigen wir das Münster. Es ist wegen der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, die in Deutschland als sogenanntes "Sommermärchen" statt findet, von riesigen Dekorationsfußbällen umgeben und wirkt deshalb etwas Ballaballa.

Ich hatte es früher schon einmal besucht. Damals fielen Sonnenstrahlen durch die große gotische Rosette über dem Eingang, fantastisch bunte Farbenfinger, und dazu spielte ein Organist auf der gewaltigen Orgel eine Musik, die wie eine Tonwelle durch die riesige Kathedrale rauschte, und in der das Leben zu sich selber fand.

In Donauwörth kommen wir an einer Produktionsanlage der EDA, Europe Defence Agency, Europäische Verteidigungsagentur, vorbei. Dort wird gerade der Kampfhubschrauber Tiger erprobt, den man in Afghanistan bei Militäreinsätzen verwendet. Ein Versuchsexemplar klebt lange Zeit wie angenagelt an einem Fleck des blauen Himmels und verbreitet einen Höllenkrach. Emil fasziniert dieses Schauspiel.

Von Donauwörth bis Marxheim plagen uns einige Steigungen. Emil will unbedingt bis sechs Uhr abends fahren, obwohl es sehr nach Regen aussieht.

Mir gefällt eine Tagesetappe, wenn ich von zehn Uhr morgens bis sechzehn Uhr am Nachmittag unterwegs bin. Emil möchte am liebsten bis zum Anbruch der Dunkelheit fahren.

Gott, oder wem immer sei Dank! Am Ortsausgang Marxheims finden wir einen alten Brauereigasthof und ein schönes Doppelzimmer, dreiundzwanzig Euro für jeden plus Frühstück. Die Familie Klapproth bewirtschaftet diese Herberge seit acht Jahren. Vor dem Wirtshaus befindet sich ein gemütlicher Biergarten. Dort treffen wir Kater Florian, der so verschmust ist, wie ein Kater nur sein kann und schwarz wie Kohle.

Ich esse zum Abendessen Maultaschen, eine schwäbische Spezialität, mit Fleisch gefüllte Teigtaschen, und trinke dazu einen "Latte Macciato." Der  Schaumkaffee und die Maultaschen schmecken mir ausgezeichnet.

Am Abend führen Emil und ich philosophische Gespräche über die Schwierigkeiten internationaler Beziehungen, denn er ist wie ich mit einer Kubanerin verheiratet und wegen unserer Frauen haben wir uns überhaupt erst kennen gelernt.

Der Sachse Emil hat aufgrund des Eins-zu-Eins Umtausches der Ost- gegen die Westmark bei der Wiedervereinigung Glück gehabt. Er und sein Vater hatten wie viele Menschen aus der DDR einiges Geld gespart, weil man dort nicht soviel kaufen konnte wie in der westdeutschen Bundesrepublik. Nun hat er, gelernter Schlosser, mit einem persischen Partner in Dortmund ein Geschäft für Lederwaren aufgemacht und besucht nebenbei noch Bikermessen, auf denen er Lederjacken für Motorradfahrer verkauft. Die Jacken und die anderen Kleidungsstücke produzieren zum Teil Perserinnen und Perser in ihrem Heimatland. Eine der Schwestern Emils heiratete seinen persischen Geschäftspartner und nahm dessen muselmanischen Glauben an.

Wegen der neu gewonnenen Reisefreiheit flog Emil einst nach Kuba, wo er seine Frau kennen lernte, mit der er seit kurzer Zeit verheiratet ist. Seine und meine Frau lernten sich per Zufall in Dortmund kennen und haben einige Male in dem Dortmunder Geschäft mit gearbeitet. Emil hat mich gelegentlich besucht und wir sind gemeinsam mehrmals auf meinen Rennrädern die Dortmunder Hohensyburg hinauf gefahren und haben auch oft den Hengstey- und Harkortsee umrundet, zwei Ruhrstauseen. So kamen wir auf die Idee, einmal gemeinsam an der Donau entlang zu fahren. Bis Bratislava soll die Reise gehen und dann mit dem Flugzeug nach Hause.

Bei unserem Abendspaziergang am Donauufer eint uns die vollkommen gleiche Ansicht. Beziehungen zwischen Frauen und Männern sind insgesamt alles andere als einfach, aber das Verhältnis zwischen einer Frau und einem Mann aus unterschiedlichen Sprach-, Zivilisations- und Kulturkreisen potenziert die Probleme beträchtlich. Unser Zwiegespräch dauert so lange, bis die Mücken Emil fast aufgefressen haben. Er schmeckt ihnen anscheinend besser als ich, denn mich verschonen sie. Auf dem Rückweg treffen wir einen Angler, der mit dicken Spezialwürmern aus Kanada sehr erfolgreich fischt und eine Menge Fische von der Länge eines halben Unterarms erbeutet hat.

 

Freitag, 30.6.2006

Wir frühstücken sehr gut im Garten der Restaurantfamilie Klapproth in Marxheim. Nur ein Bauarbeiter auf einem Bagger mit einem riesigen Stahlmeißel meißelt äußerst geräuschvoll auf hartem Felsboden herum.

Glücklicherweise verzieht sich der Störenfried bald. Ich trinke auf Vorrat Wasser wie ein kameliges Wüstenschiff. Dann brechen wir auf und geraten unmittelbar östlich von Marxheim in eine menschenleere Flussidylle.

Vom Donaudeich sieht man in eine Landschaft, die aussieht, als habe sie einer meiner Lieblingsmaler, Caspar David Friedrich, erfunden. Nebelbänke liegen auf dem Fluss. Langsam sickert das Morgenlicht in den Tag. Eine bizarre viel verzweigte Baumruine verfällt im Wasser, an dessen Rand Reiher bewegungslos verharren.

Doch da, an der Bucht eines Altarms der Donau, trampelt die brutale Wirklichkeit durch die romantische Poesie der Flussaue. Gierig kreist eine große Möwe über einer kleinen Entenfamilie. Die Mutter schnattert aufgeregt und ängstlich ihre Kinderschar an, sechs winzige Wollebällchen, die arglos hinter der Mama her paddeln. Da stößt die Möwe hungrig hinab, doch vergebens. Die halb so große Entenmutti plustert sich auf, flattert mit den Flügeln, schnattert aggressiv. Die Räuberin zieht erschreckt ab. Noch drei Mal versucht sie es, doch immer ohne Erfolg. Die Mutter schwimmt ihr todesmutig entgegen und endlich verschwindet sie samt putzigem Nachwuchs ins rettende Uferschilf. Die Möwe kreischt enttäuscht, zieht einen höchst eleganten Bogen und dreht ab. Ich muss an meine Oma, meine Mutter, meine Schwestern, Tanten, viele andere nette und tapfere Frauen denken und freue mich sehr.

Lautlos gleiten wir dahin. Dann folgen Schotterwege, die mich an der richtigen Fahrradwahl für unsere Tour zweifeln lassen. Ich sitze auf einem meiner älteren Rennräder, einem Raleigh mit sieben Gängen und Unterrohr-Schalthebeln, Emil im Sattel eines preisgünstigen Supermarkt-ATBs, ATB = All-Terrain-Bike = Universalrad für jedes Gelände, das er mit Lenker- und Dreifachtasche für den Gepäckträger ausgestattet hat.

Die Breitreifen des ATB sind natürlich für Schotterpisten besser geeignet als meine schmalen 23er Rennradreifen. Mich stört mein Rucksack überhaupt noch nicht und ich bin natürlich schneller und wendiger als Emil. Das "noch nicht" im vorigen Satz weist auf einen Nachteil des Rucksacks bei weiteren Strecken hin. Er belastet die Schultern und den Südpol des Fahrers. Die Rucksackriemen schneiden an den Schultern ein und der Sattel bohrt sich in den Hintern, der allmählich schmerzt. Die Schulterbelastungen bleiben erträglich, aber das Gesäß wird langsam wund. Ich empfehle also eher die Emilsche Lösung bezüglich Fahrrad und auch Gepäcktransport.

Der Konus meiner Vorderradnabe löste sich bereits gestern kurz vor Ulm. Ich lasse ihn in der Fahrradwerkstatt eines Einkaufszentrums fest ziehen, das am Wege liegt.

Der Steuersatz übersteht die Rüttelei auf den Schotterpisten bis jetzt störungsfrei, aber heute bemerke ich kleine Löcher im Hinterreifen.

Außerdem verschwand eine Schraube der Pedalenbefestigung. Ein Platten war bisher noch nicht zu verzeichnen. Das Wetter zeigt sich gestern und heute von seiner allerbesten Seite, Sonne satt. Ein Bisschen Wermut tropft in den Sommerwein, der ständige Wind aus Osten. Und wir fahren genau in diese Himmelsrichtung. Östlich hinter Marxheim ist die Welt noch in Ordnung. Im Donauried fahren wir einsam dahin. Von Bad Gögging führt eine erstklassige Straße fast gänzlich autoleer durch sommerliches Bauernland. Sechs Kilometer vor Kelheim stößt sie auf den Donaudurchbruch bei Kloster Weltenburg.

Im wunderbar schattigen, riesigen und gut besetzten klösterlichen Biergarten neben einer sehr schönen Barockkapelle bekomme ich nicht den verlangten Latte Macciato. Es gibt nur Capuccino.

Ein Pflasterer stört den Klosterfrieden mit dem infernalischen Krach seiner Rüttelmaschine, mit der er den Boden verdichtet. Als wir uns gerade entschließen, mit dem Schiff bis Kelheim weiter zu fahren, legt es ab. Pech gehabt!

Wir begeben uns zur Drahtseilfähre. Der Fährmann steuert sie mit nur einem Paddel und ohne Motor am Drahtseil entlang. Die Passagiere haben vom einen bis zum anderen Ufer jeweils 1,50 Euro zu zahlen. Die Schiffsfahrt von Weltenburg bis Kelheim durch den malerischen Donaudurchbruch, graue, steile Felsen, in denen angeseilte Extremkletterer gehüllt in leuchtende Spezialanzüge umher kraxeln, führt durch starke Strömung und kostet 5,80 Euro.

Beim Fährmann leihen wir uns einen Schraubenschlüssel aus, um eine lockere Mutter an ihren alten Platz an meinem Fahrrad zurück zu drehen.

Emil und ich bekommen eine schwere Ladung Mühsal verpasst, als wir die Straße von Weltenburg nach Kelheim empor keuchen. Anschließend allerdings schießen wir rasant eine Abfahrt von ungefähr drei Kilometern Länge hinunter.

Schon vorher verleibt sich Emil in Vohburg die Tagesration seines geliebten Leberkäses ein. Ich erwerbe in einer Bäckerei Bienenstich, Milch, Saft samt einem belegten Brötchen und verspeise alles mit Wohlbehagen. In Kelheim herrscht großer Massenauflauf anlässlich der Fußballweltmeisterschaft. Die Innenstadt ist gesperrt. Wir fahren in ein kleines Dorf namens Kelheim-Winzer und obwohl es erst fünf Uhr nachmittags ist und Emil eigentlich noch bis Regensburg will, nehmen wir dort in einer kleinen Pension mit großem Garten Quartier. Sie liegt zwischen Donau und einer gerade renovierten alten Kirche, welche die Pensionswirtin als Küsterin betreut. Emil teilt mir mit, er sei total fertig, duscht und schläft unter seiner großen Landkarte ein.

Ich dusche ebenfalls, nehme dann das Tagebuch zur Hand und setze mich in den wunderschönen Garten, in dem es nach Sommer duftet und wo alle möglichen Blumen, vor allem Rosen, bunt in den schönen Tag blühen.

Der Hausherr teilt seiner Frau soeben mit, dass Argentinien gegen Deutschland ein Tor geschossen hat.

Später höre ich Freudengebrüll. Offensichtlich haben die Deutschen gerade ins Netz getroffen. Wie das Spiel ausgegangen ist, weiß ich jetzt, um 19 Uhr, leider nicht.

Hier im Garten wärmt mich die Sonne auf die angenehmste Art. Ich denke über die soeben zurück gelegten Strecken auf dem Donauradweg nach: Von Pfullingen bis Beuron Spitze, von Beuron bis Schmiechen so lala, von Ulm bis Maıxheim sehr schöne Auwälder und Landschaften, von Marx- bis Kelheim durchaus besichtigenswertes Gemüse- und Obstland, auf dem dicke Bohnen, Hopfen, Kohlrabi, Zucchini, Weizen, Hafer, Gerste und viele Kirschbäume wachsen, deren Früchte gerade reifen. Unterwegs sehen wir immer wieder den Sommer: Gärten, Rosen und Sonne satt.

Meine starken Depressionen aus der zweiten Junihälfte verschwinden fast. Vielleicht trägt dazu das Radfahren bei. Ich denke manchmal an das Alter, Abschied, an Radtouren, die ich mit meiner Schwester, meinem Bruder, einem Mitschüler, einer Nichte oder allein schon vor diesem Ausflug in Deutschland, Holland, Frankreich, der Schweiz und Österreich unternommen habe und an das Leben allgemein, das wie die Donau unaufhörlich dahin und davon fließt.

Entgegen meinen Absichten habe ich auf der Reise bisher nur wenig gelesen und noch weniger Spanisch gelernt.

 

Samstag, 1.7. 2006

Ich schreibe heute meine Tageserlebnisse in Markt Metten auf, einem Stadtteil von Deggendorf.

Wir sind einige Kilometer über Dämme entlang der Donau geholpert. Der Untergrund war für mein Rennrad nicht so gut geeignet. Aber dafür boten die erhöhten Wegstrecken eine wunderbare Aussicht auf Feuchtwiesen, Tümpel und Altwässer. Regensburg war voller Blumen, Gartenrestaurants und Leuten, darunter vieleTouristen. Wie das Ulmer Münster wurde auch der Regensburger Dom repariert bzw. restauriert. Diese alten Gebäude erfordern viele Bau- und Erneuerungsmaßnahmen, verbunden mit hohen finanziellen Belastungen.

Zudem behindern ständig Baugerüste und Schutzplanen den Blick auf die sehenswerten Fassaden und Gebäudeblöcke. Gegenüber dem Dom habe ich von einem öffentlichen Telefon mittels Telefonkarte meine Frau Gladys angerufen, die sich einsam fühlt und deswegen alle Möbel umgestellt hat, wie sie mir berichtet. Wer weiß, wie das jetzt bei uns zuhause aussieht?

Vor dem Dom diskutiere ich mit zwei anscheinend politisch etwas verwirrten Grünen, die dort gegen den "israelischen Zionismus" demonstrieren. Ich meine, aufgrund des bestialischen Völkermords den Deutsche an Juden zur Regierungszeit des wild gewordenen österreichischen Rotzbremsers und der noch wilderen mordlustigen Massen der Volksgenossen begangen haben, sollte jeder Deutsche alle kritischen Äußerungen zu Juden und Israel unterlassen. Israel und die Juden kritisieren, das besorgen schon im Übermaß die vereinigten Antisemiten aller Nationen, besonders der arabischen und anderen moslemischen.

Nach meinen und einiger Passanten empörten Äußerungen verlassen die grünen deutschen Feddayin, Taliban oder Hamassisten mit eingerollten Transparenten die Stätte ihrer argumentativen Niederlage.

Mich wundert wirklich sehr, dass kein einziger Vorübergehender die antisemitischen Hetzer unterstützt. Ich hätte eher das Gegenteil erwartet. Wir erreichen Straubing, das eine wunderbare Altstadt ähnlich der Regensburgs besitzt. Am Eingang zu diesem ansehnlichen Stadtviertel steht der Storchenturm. Darauf lebt gerade ein Storchenpaar, das ein Junges umsorgt. Überall leuchten Blumen und plätschern dekorative Brunnen.

Notgedrungen unternehme ich zusammen mit Emil eine kleinere Shoppingtour. Wegen Strubbelhaars kaufe ich in der Drogerie Müller einen Kamm, wegen Durst und Hunger bei Macdonalds bzw. "Mäckes“ , wie der hoffnungsvolle Nachwuchs das ausdrückt, einen großen Erdbeermilchbecher oder neudeutsch einen "Erdbeer-Milk-Shake", schmeckt übrigens, obwohl oder wegen teuer sehr gut, und später noch Kirschen und Buttermilch im Netto-Supermarkt. Zum Shoppen noch eine kleine Anmerkung: lch halte das für eine saublöde und lästige Beschäftigung und bin immer froh, wenn ich aus geshoppt habe. Aber damit gehöre ich immer mehr zu einer seltsamen Menschenart, denn Shopping ist heute schwer in. Sogar Männer schämen sich nicht, drei Stunden im New Yorker, bei Jeans Fritz oder in den Saftläden von Olymp und Hades herum zu rennen, auf der Suche nach eitlem Fatzkentand von Tommy Hilfiger über Bugatti bis Jack und Jones. Dazu kommt noch die Manie, Duftwässer, Duschgel, Deoroller und Shampoos der unterschiedlichsten Puffgestanksnoten zu kaufen und über sich zu schütten bzw. sich in die Haut zu reiben, wie Frauen Achsel-, Brust- und Schamhaare abzurasieren, sich mit ekelhaften Tattoos und Piercings zu verhässlichen, das saudämliche Kacke-, Pisse-, Scheiße-, Ficken-Getöse des Rap anzuhören und als Mann in der Öffentlichkeit herum zu heulen wie ein in die Scheiße gefallenes Kleinkind. Den Prototyp dieses Weichei-Heulsusen-Modepuppen-Mannes stellt für mich David Beckham dar. Noch schrecklicher finde ich nur noch dessen Frau, diese klapperdürre Hungerhäkin. Männer gehören nicht in Mode-Shishi-Boutiquen, sondern, wenn sie überhaupt etwas kaufen, in Buch- und Kunsthandlungen, Musik-, Computer- und Elektronikgeschäfte, Baumärkte, Rennrad- und Antiquitätenläden. Wie sehne ich mich nach harten Kerlen der Marken John Wayne, Charles Bronson, Lino Ventura, Jean Paul Belmondo und angesichts der bulimitischen Skelette a la Heidi Klum nach richtig fetten, saftigen Weibern vom Format Jayne Mansfields, Marilyn Monroes, Liz Taylors und der unübertrefflichen Claudia Cardinale. Sich John Wayne mit Deoroller und als Sitzpinkler oder Liz Taylor vierzig Kilo schwer vorzustellen, einfach gruselig!

Emil und ich erreichen am Ende unserer Etappe Markt Metten und quartieren uns in der Pension Christina ein. Dort schauen wir uns das Spiel Brasilien gegen Frankreich an. Obwohl ich ein großer Fan des brasilianischen Fußballs bin, seiner Eleganz und Technik wegen, tippe ich auf Frankreich als Gewinner und behalte mit diesem Tipp wie die Pensionswirtin Recht. Markt Metten ist übrigens der Herkunftsort eines meiner Lieblingsfußballer, des Ex-Nationaltorhüters Sepp Maier, dieses bajuwarischen Alleinunterhalters. Bis jetzt hat die Gemeinde allerdings noch kein Standbild mit Gedenktafel errichten lassen. ln der Pension Christina gibt es ein brauchbares Zimmer sowie ein erfreuliches Frühstück für 38 Euro, obendrein eine nette Wirtin. Ich merke, dass ich den Schlüssel unseres Kelheimer Quartiers aus Versehen mitgenommen habe, telefoniere mit unserer Ex-Gastwirtin und schicke ihr den Schlüssel per Post zurück. In dem Rücksendebrief bedanke ich mich nochmals für die schöne Zeit in Kelheim-Winzer.

Für unsere dortige Herbergswirtin schloss ich übrigens am Abschiedsmorgen neben ihrer Pension eine kleine frisch renovierte Kirche auf, die unsere Gastgeberin als Küsterin betreut. Den Schlüssel für die Kapelle legte ich wie verabredet in den Hausbriefkasten, nachdem ich von der Kanzel eine wuchtige Bußpredigt für mein Ein-Mann-Publikum namens Emil gehalten hatte, die aber keinerlei Wirkung zeigte. Den Pensionsschlüssel nahm ich mit, durch seltsame Abschieds- und Denkgedanken zerstreut.

 

Montag, 3.7.2006

Ich schreibe in lnzell an der Donau in Österreich, direkt am Ufer des Flusses über den gestrigen Tagesabschnitt unserer Tour. Es ist sieben Uhr morgens, ein herrlicher Sommertag. Ich sitze am Frühstückstisch und die Vögel singen wunderbare Lieder. Vor mir steht die kleine Nikolauskapelle, die meine Pensionswirtin als Museumswärterin managt.

 

 

Sonntag, 2.7.2006, von Markt' Metten ...in Deutschland bis lnzell in Österreich

Dies Teilstück unserer Reise legen wir wieder wie beinahe alle bisherigen Etappen bei strahlender Sonne und lebhaftem Gegenwind aus Osten zurück.

Wegen Reparaturarbeiten am Donaudamm müssen wir eine Umleitung über Künzing nehmen. In Vilshofen, einer weiteren sehenswerte bayrische Kleinstadt, legen wir eine Kurzpause ein. Wir schießen Fotos' am prächtigen Eingangstor zur Stadt und von der St. Floriansfigur, die dort neben Statuen Marias und des heiligen Johannes, des Vilshofener Schutzpatrons, zusehen ist. Der Brunnen geschmückte Stadtplatz liegt in sonnntäglicher Ruhe einladend vor uns.

Unterwegs verzehren wir saftige Pfirsiche. Mein Mitfahrer Emil folgt mir meist mit geringfügigem Abstand. Wir durchqueren ein ruhiges, einsames Waldgebiet, das hohe bewachsene Berge eingrenzen. ln Passau lassen wir uns in einer idyllischen; von Rankgewächsen, Wein, Efeu und Blauregen, fast zugewachsenen Gartenwirtschaft gegenüber einer großen Kirche zum Essen nieder. Dort genießen wir eine nahrhafte Käseplatte und ein paradoxes Getränk, ein dunkles Weißbier. Aus Passau fahren wir am rechten Donauufer entlang und müssen vor Schlögen ein paar bergige Straßenkilometer überwinden. Die Schlögener Schleife, eine abenteuerlich gebogene Donaukurve, passiere ich zum zweiten Mal in meinem Leben auf dem Donauradweg, denn vor drei Jahren bin ich dort mit meiner Nichte Silke Anders schon einmal vorbei geradelt, anlässlich einer dreitägigen Radtour von Passau nach Wien. Ein Gasthaus, in dem wir damals übernachtet haben und aus dem wir bei strömendem Regen am Morgen aufgebrochen sind, sowie die nahe beim Gasthaus liegende Fähre fallen mir auf. In Inzell schläft Emil in der Nacht nah bei einem Campingplatz draußen auf der Terrasse eines Gartenhauses, ohne den Eigentümer um Erlaubnis zu fragen.

Für ihn bedeutet dies meiner Meinung nach etwas seltsame Übernachtungsverhalten Poesie unterm Sternenhimmel, Abenteuer in einer spannungsarmen Welt und. kostenfreie Logiermöglichkeit. Zum Waschen, Duschen, Pinkeln und Entsorgen nicht flüssiger oder bestenfalls dickflüssiger Verdauungsabfälle benutzt er die Einrichtungen des Campingplatzes.

lch habe eigentlich vor der Reise mit meinem Begleiter ausgemacht, kostengünstig in Doppelzimmern zu übernachten, aber Emil folgt meist seinen eigenen Vorstellungen.

Meine lnzeller Pensionswirtin ist eine Pechmarie. lhr erster Ehemann verunglückte tödlich mit dem Motorrad, der zweite ertrank in der Donau.

Sie trägt aber trotzdem in dieser Waldeinsamkeit, die den großen Fluss umgibt, das Hemd der Zufriedenen, freut sich ihrer Gäste und ihrer Kinder und hatte nach den zwei Männern einen neuen Lebensgefährten, der aber schwer erkrankte.

Das hielt sie nicht aus und sie fragte sich: "Was habe ich von einem kranken Lebensgefährten, den ich nur tot pflegen muss?"

Als ich wissen will, ob sie sich hier an dem abgelegenen Flussufer nicht einsam fühlt, sagt sie: "Neinl Wenn ich Lust habe fahre ich im Sommer mit dem Trecker in den Wald und im Winter besuche ich meine Kinder."

Wikipedia kann der Leser entnehmen, wie winzig lnzell an der Donau ist. Es gehört nämlich zur Gemeinde Haibach ob der Donau."Das liegt auf 528 m Höhe im Hausruckviertel. Die Ausdehnung beträgt von Nord nach Süd 7,2 km, von West nach Ost 9 km. Die Gesamtfläche beträgt 25,6 qkm. 45,3 % der Fläche sind bewaldet, 41,4 % landwirtschaftlich genutzt. Ortsteile der Gemeinde sind Au, Bach, Berg, Donauleiten, Dorf, Eckersdorf, Gemersdorf, Grub, Haibach ob der Donau, Hinterberg, Inzell, Kobling, Kolleck, Komas, Lehen, Linetshub, Mannsdorf, Moos, Mühlbach, Obergschwendt, Oberhub, Oedt, Pamet, Pichl, Pühret, Reith, Rennersdorf, Schauerdoppl, Schlögen, Schlögenleiten, Sieberstal, Starz, Untergschwendt, Wies, Wiesing. Die ganze Gemeinde bewohnen ungefähr 1300 Einwohner."

Benutzt man die Daten aus Wikipedia als Grundlage und rechnet man wie ein Milchmädchen für jeden Ortsteil die gleiche Einwohnerzahl, muss man 1300 Einwohner durch 35 Orte teilen und erhält pro Ort, also auch für Inzell, 37,14 Einwohner. Inzell also ist wirklich sehr übersichtlich, was die Einwohnerzahl angeht. Wir treffen dort eine geschiedene Australierin, ungefähr 30, die mit dem Kanu und anderen Kanuten auf dem Weg nach Bratislava in der Slowakei ist. Emil unterhält sich angeregt mit ihr. Außerdem reden wir mit einem Paddler, der mit seinem Boot zu fremden Orten reisen will. Er muss alleine reisen, da sein Freund, der ihn begleiten wollte, eine Herzattacke erlitt.

Das österreichische Inzell an der Donau sollte man übrigens nicht mit dem deutschen Inzell im Chiemgau venıvechseln, das ein Leistungszentrum für Eislauf beherbergt.

 

Klosterneuburg, Österreich, Mittwoch, 5.7.2006

Ich berichte jetzt über die Etappen von Inzell bis Ybbs am Montag 3.7.2006 und über die Strecke von Ybbs bis Klosterneuburg, am Dienstag, 4.7.2006. 

 

Montag, 3.7. 2006, Österreich, von Inzell bis Ybbs

Heute sind wir von Inzell bis zu einem großen Bauernhof in Ybbs, dem Glöcklhof, gefahren. Dort haben wir übernachtet. Dieser landwirtschaftliche Großbetrieb sucht dringend Arbeitskräfte. Ybbs, was für ein Ortsname, ganz was anderes als Katzen- oder Schweinfurt.

Am Morgen sind wir durch wunderbar ruhige Flusslandschaft, rechts und links bewaldete Berge, die ab zu malerische Burgen krönen, bis kurz vor Linz gekommen. Das Wetter war herrlich, unsere Räder rollten lautlos und wie von selbst über glatten Asphalt dahin, schwebten und flogen Wien entgegen. Und was macht Emil? Er beneidet kurz hinter Inzell einige Kanuten auf der Donau, die er schon auf dem lnzeller Campingplatz kennen gelernt hat. Denen erschwert der Gegenwind das Leben und die Sonne knallt ihnen gnadenlos auf die Köpfe. ln Linz fallen mir die Industrieanlagen des Hafens auf. Wir begeben uns ins Linzer Zentrum. lm Sparmarkt an der Hauptstraße, die von einer Donaubrücke in die Stadtmitte führt, versorgen wir uns mit Kuchen, Getränken und Obst. Emil telefoniert eine Stunde von einer Telefonzelle, lautstark wie die Posaunen von Jericho. So erfährt jeder Passant, sofern er sächsisch versteht, dass Emils zwanzigjähriger Patenjunge den Sieg der deutschen Nationalmannschaft über Italien in Dortmund feiern will. Dass nach diesem Spiel keineswegs die Menschen feierten, die sich gern an Brat-, Salz- und sonstigen Kartoffeln laben, sondern jene, die lieber Spaghetti und Makkaroni verspeisen, weiß er noch nicht. Nach dem Langtelefonat fahren wir weiter. An einem Radweg teeren Straßenarbeiter die Fahrbahndecke. Wir kommen nicht weiter, weil die Teermaschine eine Brückenauffahrt verstopft.

Nach einer Viertelstunde räumt die Maschine den Engpass. Kurz danach überholen wir einen älteren Radwanderer, der uns ein kleines Stück begleitet. Er wirkt irgendwie resigniert und lustlos, trotz idealer Reisebedingungen bei schönstem Sommerwetter.

Auf einer Bank machen wir eine Pause und er teilt uns mit: "Ach, wissen Sie, früher, da bin ich oft mit meiner Frau zusammen auf Tour gegangen. Diese Fahrt haben wir im Winter geplant und uns riesig darauf gefreut. lmmer schon wollten wir gemeinsam Wien erleben. Und nun ist meine Frau vor einem Monat gestorben." Was sollen wir auf diese Mitteilung erwidern? Der Mann tut uns leid. Kurz vor Ybbs verlassen wir ihn und freudlos fährt er weiter, einem Automaten ähnlich, aber immerhin, er fährt.

Anschließend beginnen Emil und ich ein wenig zu zanken, weil wir ja Urlaub und nichts Besseres zu tun haben. Wenn ich auf der rechten Seite der Donau entlang fahren will, möchte er die linke mit seiner Anwesenheit beglücken und umgekehrt. Um in unserem Zielort Ybbs ein Nachtquartier zu finden, steuern wir zunächst die örtliche Touristeninformation an. Ich hinterlege einen Vorschuss von 16 Euro für die Miete eines Doppelzimmers im Glöcklhof, denman uns als solide Bleibe empfiehlt. Dort soll ich dann vom Gesamtpreis, 40Euro, die Kaution abziehen und nur noch 24 Euro bezahlen. Den Rest von 16nEuro erhält dann der Glöcklbauer vom lnformationsbüro.

Ob die Ybbser Touristenbürokraten diese komplizierte Zahlungsweise selbst während zahlreicher höchst kreativer Denkvorgänge unter ziemlich heißenDuschen ausgebrütet, in deutschen Amtsstuben kennen gelernt oder dem Lehrbuch für umständlichen Geldverkehr entnommen haben, weiß ich nicht.

Jedenfalls beschreiben sie uns sehr detailliert, wie wir zum Glöcklhof kommen.

ln Ybbs studiert Emil trotzdem stundenlang den Stadtplan, um heraus zufinden, wie wir zu unserem Nachtquartier, dem Bauernhof kommen können.

Wir sind uneins über den besten Weg und.Emil meint, er hat Recht.

lch sage: "Wer zuerst da oben beim Bauern ist, hat gewonnen." Er braust los und ich auch. Ohne große Probleme erreiche ich unser Tagesziel ziemlich rasch. Emil ist nicht zu sehen. Das Doppelzimmer soll für jeden 20 Euro mit Frühstück kosten. Irgendwie habe ich die Quittung für die Zahlung an das Touristenbüro verklüngelt.

Als ich Emil heute fragte, ob ihm die Übernachtung auf der Veranda des Gartenhäuschens gefallen hat, meint er: "Das ist immer so romantisch mit den leuchtenden Sternen über mir und außerdem hat es nichts gekostet. Ichmfrage: "lst deine Vorliebe, in den Ferien draußen zu schlafen, eher ideologisch oder ökonomisch begründet'?" Er antwortet fröhlich: "Ach, so fiftyfifty!"

Emil genießt ganz einfach die Tour. Da kann er machen, was er und schlafen, wo er will, draußen, drinnen oder sonstwo.

Ich rechne schon gar nicht mehr mit ihm, da kommt er mit einer Stunde Verspätung angeschnauft. Ich will dann noch ein wenig in Ybbs bummeln, Emil nicht. Der Bauer nimmt mich in seinem Geländewagen mit.

Ich esse in einem ansehnlichen alten Klostergebäude, das im ersten Stock gleichmäßig geschwungene Steinbögen verzieren, eine Pizza vegetaria und trinke zwei große Apfelschorlen.

Für das bescheidene Mahl bezahle ich zwölf Euro. Am Nebentisch unterhalten sich ungefähr 15 Frauen mittleren Alters, so vierzig bis fünfzig, also eigentlich junge Damen verglichen mit mir 62 jährigem Wackelgreis, über die Möglichkeiten, den Luftwiderstand und die Kraft des Gegenwindes auf dem Fahrrad zu vermindern: "Etwas gebückt sitzen." "Den Kopf runternehmen." "Aber dann sieht man nichts mehrl" "Vor allem keine Flatterkleidung anziehen." "Ja, wer tut denn das auch auf dem Fahrrad? Die gerät doch sowieso in die Speichen." "Aber absolut das Beste: lm Windschatten fahren und sich dabei abwechseln."

Na, worauf Frauen doch so alles kommen. Wahrscheinlich radeln sie wie Emil und ich auf dem Donauradweg nach Wien, immer den Wind aus Osten im Gesicht.

Ybbs liegt ungefähr 100 Kilometer von Wien entfernt und wenn wir morgenfrüh wie an den vorausgehenden Tagen um acht Uhr losfahren, und, auch wie immer, bis um 18 Uhr weiter rollen, natürlich durch einige Pausen unterbrochen, könnten wir abends schon Wien erreichen.

 

Dienstag, 4.7.2006, Österreich, von Ybbs bis Klosterneuburg

Heute morgen rechnet nicht die liebenswürdige Jungbäuerin, sondern ihre Schwiegermutter mit mir ab, ein alter Drache. Mein Hinweis auf die 16 Euro, die ich bereits bei der Ybbser Touristeninformation vorgeschossen bzw. als Kaution angezahlt habe, interessiert sie überhaupt nicht. lch muss 40 Euro auf den Tisch des Hauses legen, obwohl ich schon 16 im Voraus bezahlt habe. Auch eine Quittung über die vierzig bezahlten Euro will die alte Zange mir nicht aushändigen. Damit könnte ich immerhin bei der Touristeninformation meine 16 Euro Kaution zurück verlangen. Bald erscheint glücklicherweise die Schwiegertochter. Die gewünschte Quittung übergibt mir die junge Frau auch. Dann erzählt sie, wie schwierig es ist, den großen Hof landwirtschaftlich zu betreiben und außerdem noch als Gästehaus. Die meisten Bauern ringsum, bei denen Gäste Ferien auf dem Land verbringen, arbeiten nur noch als Alibi- bzw. Nebenerwerbslandwirte und sind eigentlich Pensionsinhaber, Hotelchefs und Direktoren ihrer privaten Streichelzoos, in denen sich zur Freude der Urlauberkinder Schafe, Ziegen,

Kühe, Pferde, Lämmchen, Kälbchen, Fohlen, Hühner, Katzen und niedliche Hündlein tummeln, Jauchegruben oder Misthaufen aber nicht vorkommen.

Nach dem frühen Frühstück mache ich mich auf zur Ybbser Touristeninformation, um die Quittung des Glöcklhofes über 40 Euro einzulösen. Welch ein dämliches Theater, wegen dieser bescheuerten Ybbser Zahlungseigenarten! Emil fährt schon voraus und wird in Melk auf mich warten. Mir schwant bereits Übles, bevor ich an dem Touristenbüro ankomme, und wirklich: Es öffnet natürlich erst um zehn Uhr und jetzt ist es gerade eben acht. lch kaufe in der nahen, geöffneten Bäckerei einen Pappbehälter mit Vollmilch, trinke die eine Hälfte und fülle die andere in meine Trinkflasche am Fahrradrahmen.

lch versuche, bei der Bäckerin mein geldwertes Papier los zu werden. "Zahlen Sie mir 16 Euro, gebe ich Ihnen diese Quittung des Glöcklhofes über 40 Euro. Um zehn Uhr legen Sie das Papier den Mitarbeitern des Touristenbüros nebenan vor und erhalten 16 Euro, meine Kaution!"

Doch die Dame geht gar nicht auf meinen ernst gemeinten Vorschlag ein, selbst dann nicht, als ich ihr vorschlage, mir nur 10 Euro auszuhändigen und später 16 zu kassieren. lch bin wohl doch kein so begnadeter Verkäufer, wie ich mir einbilde.

Deshalb mache ich mich davon, sechzehn Euro hin oder her. Ehe ich abbrause, muss ich aber erst noch zigfach an meinen Rucksackriemen zerren, bis sie endlich sitzen.

Am Ortseingang von Melk sitzt Emil auf einer Bank. Er begrüßt mich laut und herzlich als einen verlorenen Sohn, der lange auf sich warten ließ. Neben ihm sitzt ein Ehepaar, das auch nach Wien radelt.

Anschließend strömt uns wie beinahe ständig unser alter Freundfeind der Ostwind entgegen, der wahrscheinlich das schöne Wetter herbei weht, uns aber andrerseits erheblichen Kraftaufwand abverlangt. Die Donau fließt breit und mächtig ruhig dahin. An ihrem Ufer blühen blaue, gelbe, rote und andersfarbige Blumen.

Wir durchqueren Weinberge und Weinfelder, die Wachau mit ihren Bilderbuch-Dörfern, in denen am Straßenrand überall Amarillen, fast pfirsichgroße Aprikosen, Kirschen und Obstbranntweine angepriesen werden.

Häufig sehen wir fromme Gebilde, Kreuze, Heiligen- und Madonnenfiguren. Wie in Bayern oder im Münsterland sollen sie die Betrachter erfreuen, trösten und ihnen Sinn bzw. Geborgenheit bieten.

Ich finde die frommen christlichen Wegmale tröstlich. Sie zeigen, wie nötig im Alltagsleben Haltepunkte, Stationen sind, die Nachdenken befördern und den Menschen einladen, das heraus zu finden, wozu er auf der Welt ist.

Als Wegbegleiterin weist ihn z.B. die Madonna, das Symbol für unsere Mütter und ihre rückhaltlose Liebe zu ihren Kindern, auf das hin, was einzig wichtig ist und zählt.

Außerdem bedanken sich die Schöpfer der Madonnen und Kreuze mit ihren Kunstwerken für das Gute im Leben, das nie selbst erarbeitet, sondern immer ein Geschenk der Natur oder Liebender für Geliebte ist.

Gerade mir, einem von einer tiefen Depression immer noch nicht ganz Geheilten, bieten diese Wegzeichen Trost. Sie sollten allerdings neben Jesus oder Maria vielleicht zusätzlich auch andere Mütter, Albert Schweitzer, Gandhi, Rosa Parks, Nelson Mandela oder sonstige große Liebende, Wohltäter, Künstler und Wissenschaftler zeigen.

lch lese gelegentlich abends gerade zum zweiten Mal eines der besten Bücher, das ich kenne, Thornton Wilders: Die Brücke von San Luis Rey. Es war schon Schullektüre auf meinem Gymnasium, ist gegenwärtig zu Unrecht weit gehend vergessen und weist darauf hin, welche Kraft die einzige ist, die uns zu einem sinnvollen Leben befähigt, immer, auch dann noch, wenn es wegen Leid, Unglück, Einsamkeit und Krankheit unendlich schwer ist, die Liebe.

Und ich kenne kaum schönere Schlussworte als jene dieses Buches: " Da ist ein Land der Toten und da ist ein Land der Lebenden und die Brücke zwischen beiden ist die Liebe, das einzig Bleibende, der einzige Sinn."

Auf dem Weg von Ybbs nach Klosterneuburg bin ich gezwungen, mir in Zwentendorf neue Pedale für 7,50 Euro zu kaufen. Die alten hängen nur noch wacklig auf den Achsen und drohen hinab zu rutschen. Die frisch erworbenen Billigpedale machen sich natürlich an einer ehemals über zweitausend DM teuren Rennmaschine nicht sehr gut.

Ich hatte mein altes, weißes Raleigh Ace mit vierzehngängiger Shimano Santé Schaltung und einem Rahmen aus Reynolds 653er Leichtstahl-Geröhr, für Rennrad-Freaks ein konstruktiver Leckerbissen, kurz vor der Reise fertig renoviert, d.h. kunstvoll blau-gelb lackiert, mit blauen Brems- und Schaltzügen versehen und mit blauem Lenkerband und einem gleichfarbigen Sattel ausgestattet.

Vorne setzte ich eine Scirocco-Aerofelge aus Aluminium von Campagnolo ein. ln mühevoller abendlicher Arbeit war in meiner Waschküche ein wahres Juwel entstanden. Das Radio hatte mir allerdings mit interessanten Sendungen und Klassemusik die ganze Zeit ein Bisschen versüßt.

Und jetzt diese Pedalen! Mittlenıveile spielt das auch keine Rolle mehr. Nach der langen Reise ist der schöne Renner schrottreif, liegt jetzt im Gebälk meines Stalles und wartet schon mehrere Jahre vergeblich darauf, ein zweites Mal renoviert zu werden.

Als ich die Pedalen besorge, lasse ich mir gleichzeitig den sehr lockeren Steuersatz anziehen, der leider jetzt schon wieder hin und her ruckelt. Die ständigen Aufstände der Materie und das schmuddelige Aus-Dem Rucksack- bzw. Aus-Den-Packtaschen-Leben gehören leider auch zum Alltag einer Radtour.

Ein Riesenrucksack auf den Schultern macht das Rennradfahren nicht eben einfacher. Beim Packen dieses Ungeheuers fällt mir außerdem ein Loch auf und wie der Leser weiß, hatte ich mit Emils Hilfe schon einmal etwas an dem löcherigen Behältnis repariert. Vor Reiseantritt konnte man ihm seine mindere Qualität nicht ansehen. Ich hatte ihn erstmals 1995 auf einer Reise durch Zimbabwe, Botswana Namibia und Südafrika benutzt, damals ohne Probleme. Aber da lag er auch meist in einem Fach im Safari-Truck und nicht auf meinen Schultern, während ich mit einem fragilen Rennrad nach Wien strample. lch bin schon vorher kurz auf die beste Ausrüstung für Radreisen eingegangen, aber sie ist auch äußerst wichtig. Man sollte bei Fahrrad sowie Rucksack auf Bauweise und .Qualität achten, um sich nicht ständig über irgendwelche Mängel zu ärgern. Emil ist ganz stolz auf sein preisgünstigesAll-Terrain-Reiserad, das während der Fahrt nicht ein einziges Problem verursacht. Auch seine Gepäcktaschen halten die ganze Zeit den Reisebelastungen vorzüglich stand.

Einen Schulterrucksack als Hauptgepäckstück halte ich für unzweckmäßig.

Sehr zu empfehlen sind: Ein kleiner Ergänzungsrucksack, robuste, möglichst wasserdichte Packtaschen und ein haltbares All-Terrain-Bike. Ich muss zugeben, Emil ist für die Reise wesentlich besser ausgerüstet als ich. Die größere Wendigkeit und Schnelligkeit auf dem Rennrad wiegt die Nachteile meiner Ausrüstung nicht auf. Funktionieren allerdings Rennrad und Rucksack, ist es eine Freude, auf dem Donauradweg entlang zu fahren.

lm "Spar" von Zwentendorf füllen Emil und ich unsere Einkaufstaschen mit den nötigen Kalorienspendern, Getränken, Obst und süßem Backwerk. Emil erfreuen Billigeinkäufe und Sonderangebote. Anschließend besingt er voller Freude seine Einkäufe und ihre Niedrigpreise. Wir versuchen, uns während unserer Reise angemessen zu ernähren und können meist alles Nötige in guter Qualität und zu angemessenen Preisen in den Supermärkten am Wegesrand erwerben. "Spar" und "Schlecker" verkaufen zu Preisen wie in Deutschland. Zum Essen auszugehen, ist natürlich wesentlich schöner, aber auch viel teurer. Gespritzter Most, Saft aus Holunderbeeren, Sachertorte und die unterschiedlichen Menüs, welche die Restaurants an unserer Strecke durch Österreich anbieten, sind nämlich nicht als Sonderangebote erhältlich.

Nachdem wir am Spätnachmittag die Riesenstrecke von Ybbs bis Höfling zurückgelegt haben, beziehe ich ein Doppelzimmer im Gasthof "Roter Hahn" der Familie Kutscha. Für eine Nacht mit Dusche WC und Frühstück muss ich fünfunddreißig Euro bezahlen. Wegen der Draußenschlafmacke Emils und der damit verbundenen Mehrkosten für mich, Doppel- sind nun einmal billiger als Einzelzimmer, bin ich sehr sauer. lch habe keine Lust mehr mit dem Sachsen weiter zu fahren und frage den Wirt des "Roten Hahns", einen netten jungen Mann, wie man am besten per Bahn oder Schiff von Höfling nach Deutschland kommen kann. Er weist mich auf einen Radfahrerbus hin, der von Höfling bis Passau fährt. Während wir abends gemeinsam zum Gartenrestaurant "Brauner Bär" wandern, weil wir uns dort das Halbfinalspiel der Fußballweltmeisterschaft Deutschland gegen ltalien anschauen wollen, erzählt mir Emil, er habe irgendwo am Ufer der Donau auf einer Wiese eine Superbleibe gefunden. Gemäß seiner impulsiven Art sprudelt es aus Emil heraus: "lch bin gut drauf! Sogar saugut. Da habe ich doch am Ufer der Donau ein prima Plätzchen gefunden, wo auch noch andere Leute übernachten. Und am besten war das Schwimmen in diesem Seitenarm, einfach Klasse." ,

Mir hätte das nicht gefallen, weil das Gewässer hier eher schmutzig grau und schmuddlig daher kommt, von wegen "Donau so blau".

Aber Emil genießt unsere Fahrt und sagt das auch. Er kommt auf ähnliche Genussreisen zurück. Am Yukon in Kanada und auf der lnsel Reunion im indischen Ozean hat er als Überlebens- und Lebenskünstler auch fast immer draußen unter dem Sternenhimmel übernachtet.

Dann erzählt er mir zum tausendsten Mal, dass er unsere Tour auch ohne mich unternommen hätte, ohne Schwierigkeiten. Ich nutze die Gelegenheit: "Tja, dann kannst du doch ab jetzt alleine weiter fahren." Er begreift nicht. "lch meine das ernst. Du willst draußen schlafen. Genieße es! Du willst den ganzen Tag Fahrrad fahren, bis es dunkel ist. Genieße es! lch hasse es, draußen zu schlafen, weil es schmutzig, ungemütlich und kalt ist. lch hasse es, länger auf dem Rad zu sitzen als von acht bis vier. Ich will mir dann ein  Quartier suchen, mich duschen, etwas essen und trinken, danach lesen, wandern und etwas Schönes besichtigen. Das findest du langweilig. Wir trennen uns hier in aller Freundschaft. Du fährst nach Budapest und ich nach Hause. Wir passen nicht so richtig zusammen. Du willst das und ich jenes.

Aber du denkst immer, was du willst, wollen auch die anderen. Du bist nicht schlechter oder besser als ich, nur anders. Und wir werden uns nur weiter auf die Nerven gehen. Deswegen lass uns die Geschichte hier beenden."

Emil macht ein Gesicht, als wäre er gar nicht gut, erst recht nicht "saugut", sondern eher "sauschlecht" drauf. Er sieht aus, als wolle er gleich weinen. Der ganze Kerl, seine laute, impulsive, prollige Art, alles kracht zusammen zu einem einzigen Schrei nach Liebe. Jetzt tut er mir sehr leid. Ich denke. "Du bist ein alter Eigenbrötler, willst nur deine Ruhe haben. Hast schon kaum noch Freunde. Du vereinsamst nur noch mehr, indem du dieses große liebebedürftige Kind verstößt."

Und Emil rauscht beleidigt zu meinem Gasthof ab, um sein Fahrrad samt Gepäck zu holen, das er dort untergestellt hat. Ich denke: "Jetzt bist du ihn endgültig los. Wie kannst du nur so grausam sein? Du sollst doch aus dem Herzen leben und nicht nur dein Vergnügen suchen!"

Seit der tiefen Depression dieses Sommers bin ich auf Liebe bedacht, darauf aus, Liebe zu geben, denn ich meine schon seit längerem: "Selbst zu lieben, ist viel besser, als geliebt zu werden."

Ja, das ist zwar sehr trivial, aber doch auch ewig wahr. Ich versuche, meine Gesprächspartner aufmerksam anzuhören, will sie trösten und nicht quälen. Und die "arme Seele" Emil wirkte eben sehr gequält.

Aber er kommt trotzdem zum großen Biergarten des "Braunen Bären" und wir sehen gemeinsam auf einer großen Leinwand wie Deutschland das Halbfinale der Fußballweltmeisterschaft gegen Italien verliert.

Emil isst "Spare Ribs". Ich esse wegen meiner Depression, die durch die Radtour weitgehend verschwunden ist, wieder wie schon früher weitgehend vegetarisch, um kein Leid zu verursachen und weil ich alles, was lebt, lieben will. Aber Emil bietet mir von seinem Fleisch so großzügig etwas an, dass ich nicht widerstehen kann. Er trinkt eine große "Holi", Holunderbeersaft, für den der Kellner vier Euro verlangte. Über den saftigen Preis regt Otto sich nach meiner Ansicht zu Recht auf. Daneben plagt ihn aufgrund des wenig weltmeisterlichen Spiels der Deutschen noch zusätzlich besonders schlechte Laune. Der "Holi" steht außerdem nicht auf der Speisekarte. Kellner Faruk meint: "Das ist ein Saisongetränk. So was schreiben wir nie auf die Speisekarte." Die Österreicher im Biergarten freuen sich nach Spielschluss sehr über den Sieg der Italiener und die Niederlage der Deutschen. lch gebe zu: "Die Italiener haben zu Recht gewonnen." Sie zeigen am Ende des Spiels einfach mehr Einsatzfreude und verfügen obendrein über größere Ausdauer als die Deutschen. Die legen sich zu früh auf eine Verlängerung fest, denn kurz vor Schluss steht das Spiel noch unentschieden. Mich wundert vor allem die bessere Kondition der Italiener am Ende. Normalerweise besitzen deutsche Nationalmannschaften konditionelle Grundlagen, über die Spieler anderer Länder noch nicht einmal ansatzweise verfügen. Aber bei diesem Spiel wirken die Deutschen zum Schluss völlig ausgelaugt. Ein Tor für die Italiener in der Schlussphase ist nur eine Zeitfrage. Dass die Ecke der Italiener per Kopf im Tor landet, sehe ich voraus, dennoch ein sehr gutes Spiel zweier sehr guter Mannschaften, mit zum Schluss etwas "guteren Spaghettivertilgern". Am Ende kann ich nicht anders und teile Emil mit: "Na gut, versuchen wir es morgen noch ein Mal miteinander." Ich schlafe sehr gut im "Roten Hahn", obwohl eine laute Straße genau vorbei führt, auf der allerdings am Tag viel mehr Lärm tost als während der Nacht.

 

Mittwoch, 5.7.2006, Österreich, von Höfling bis Wien

Ich stehe um sieben Uhr auf, putze meine Zähne, wasche mich, creme mich mit Sonnenmilch ein und will mich kämmen, aber der Kamm aus der Drogerie Müller in Straubing ist verschwunden.

Beim Packen des Rucksacks sehe ich ein Riesenloch an der rechten Seite,wo der Schultergurt verläuft. Das geht nicht mehr lange gut, noch mehr Kosten. Um viertel vor acht frühstücke ich: Müsli mit sehr leckerer Dickmilch, drei knusprige Brötchen, Eier, ÄpfeI, Fruchtsaft, eine große Kanne Kaffee.

Emil erscheint, ist gut drauf, hat erneut in seinem geliebten Seitenarm der Donau gebadet und gut auf seinem wilden Campingplatz geschlafen, den auch andere Reisende benutzten.

Alles funktioniert wunderbar, bis wir um halb zehn in Wien ankommen. Da geht es wieder rund. Emil will aus irgendeinem Grund unbedingt auf die Donauinsel. Ich sage: "Wir wollten doch zum Stephansdom. Lass uns mal dahin fahren!" Wir radeln weiter am Donauufer entlang. Mein Begleiter folgt mir äußerst unwillig. Dann frage ich einen netten Wiener: "Von welcher Brücke aus kommt man am besten zum Stephansdom?" Er antwortet: "Fahrt am besten zur Reichsbrücke. Von da führt ein Weg direkt ins Zentrum und zum Stephansdom. Die Reichsbrücke hieß früher 'Brücke der Roten Armee“.

Und es gibt hier sogar eine Brücke, die trug einmal den Namen eines sowjetischen Generals."

Ich bedanke mich für die geographische und historische Belehrung. Die Brücke erreichen wir bald. Da sehen wir zunächst viele Stufen, aber keinen Radweg. Emil hat wieder einmal seine "Trotziges-Kind-Miene" aufgesetzt. Ich suche, finde und zeige auf den Radweg, damit Emil weiß, wohin wir müssen. Doch er ist verschwunden, nirgends zu sehen und bleibt verschwunden. Weder er noch ich verfügen über ein Handy, was in solchen Fällen ja sehr viel nützt. "Naja, vielleicht pinkelt Emil auch nur irgendwo und kommt gleich zurück," denke ich. Aber irgendwie ahne ich bereits, dass er sich willentlich davon gemacht hat. Ich warte eine halbe Stunde. Dann wird mir das zu blöd. Wenn ich schon bei schönstem Sommerwetter mitten in Wien bin, dann möchte ich auch etwas davon sehen, ganz unabhängig von den Launen meines Mitradlers.

Ich frage mich erfolgreich zum Stephansdom durch, vor dem unendlich viele Pferdekutscher auf touristische Kundschaft warten. Zahlreiche Reisende aus allen möglichen Ländern schnattern mehr oder weniger begeistert in den verschiedensten Sprachen miteinander, fotografieren und bestaunen die große Kirche.

Der gewaltige, unübersichtliche, mit Skulpturen und Ornamenten überladene Dom steht klotzig in der Sonne. lch umrunde ihn einmal und hoffe, Emil nicht zu treffen. Ich plane an diesem Tag per Zug samt Sack und Pack nach Hause zu fahren. Ein zerrissener Rucksack, ein wackliger Steuersatz, Emil und mein brennender Hintern, alles Gründe, nicht wie ursprünglich geplant bis Bratislava weiter zu fahren.

Soll doch das Flugticket nach Deutschland verfallen! Ich bin endlich wieder

mein eigener Herr! Wie schön!

Auf meiner ersten Reise auf dem Donauradweg vor drei Jahren, jener, die mich zusammen mit meiner Nichte von Passau nach Wien führte, fuhr ich damals mit dem Zug vom Wiener Westbahnhof bis nach Passau zurück.

Dort hatte ich mein Auto geparkt, mit dem ich samt Gepäck und Fahrrad zu meinem Haus im Ergster Lührmannsweg 9 heimkehrte.

Jetzt verfüge ich nur über ein wackliges Fahrrad anstelle eines soliden Autos, das ich in Passau auf einem Parkplatz abgestellt habe. Aber wie ich weiß, gibt es vom Wiener Westbahnhof aus die Möglichkeit, mit dem Zug ohne umzusteigen bis zum Dortmunder Hauptbahnhof durchzufahren.

lch frage eine junge Frau nach dem Westbahnhof. Sie kann mir keine Auskunft geben, teilt mir aber mit, sie stecke in einer Notlage und brauche unbedingt einen Euro. Den überreiche ich ihr ein wenig unwillig. Ein sehr netter Jugendlicher erklärt mir den Weg zu einer prachtvollen Säule, einem Stein gewordenen Lobgesang auf Gott, zum Eingang der Hofburg undins Museumsviertel.

Der Hofgarten und die prächtigen Gebäude ringsum beeindrucken mich. Im Museumsviertel mit dem hässlichen grauen Klotz des Museums Ludwig und den großen Glas- und Steinwürfeln des Natur- und Kunstmuseums streifen Touristenscharen umher und die vielen gut besuchten Cafes verkaufen ganze Kaffeemeere und riesige Tortenberge.

Die Kaffeemengen, welche die eiligst flüchtenden Muselmanensoldaten des türkischen Sultans nach ihrer vernichtenden Niederlage gegen die Armee des Prinzen Eugen 1683 zurückließen, bildeten die Basis für die verfeinerte Wiener Caféhauskultur. Hätten die tapferen Muselmanenscharen nicht soviel und so gern Kaffee getrunken wie ein Heer alter Kaffeetanten und stattdessen mutig gekämpft, wer weiß, ob Europa nicht gegenwärtig

Bestandteil eines osmanischen Großreiches wäre.

Ich komme an der Kirche "Maria Hülfe" in der Babenberger Straße vorbei. Darin liegen viele ehemals hochgeborene und adelige Männer beerdigt, einst bedeutend und nun einfach nur tot.

Mir wird ganz anders und ich verlasse den traurigen Ort schnell. Draußen schlagen viele Trunkenbolde ihre knapp bemessene Lebenszeit tot und allerlei Bettler begehren Bares.

Schließlich finde ich den Westbahnhof und es kommt besser, als ich erwartet habe.

Es gibt einen Zug, der um 14 Uhr 30 von Gleis sieben über Köln und Dortmund bis nach Hamburg-Altona fährt.

In diesem Zug sitze ich gerade und schreibe an meinem Reisebericht. Wir stehen unplanmäßig auf der Strecke und der Zugbegleiter hat gerade zum dritten Mal verkündet, dass eine Stellwerkstörung unsere Weiterfahrt auf unbestimmte Zeit verhindert, ein Reparaturtrupp aber schon unterwegs ist.

Kurz vor der Abreise des Fernzugs nach Dortmund weist mich ein lnformationsbeamter auf ein Problem hin: "Gehen Sie schnellstens zu einem der Reservierungsschalter 11 oder 12, um auch lhr Fahrrad mit zu bekommen."

Am Reserverungsschalter 11 sitzen eine Österreicherin chinesischer, japanischer oder koreanischer-Herkunft und ein Mann, der mir leicht genervt erklärt: "Eine Reservierung für lhre Fahrradmitnahme ist leider nicht mehr möglich. Fahrräder sind fünf Stunden vorher anzumelden."

Ich begebe mich trotzdem samt Gepäck und Fahrrad auf den Abfahrtsbahnsteig, wo die Sonne scheint und außerdem ein Zugbegleiter umher schlendert.

Ihn frage ich: "Darf ich das Fahrrad vielleicht ausnahmsweise einmal ohne Reservierung mitnehmen? Es ist doch nur ein leichtes Rennrad, 10 kg schwer, und benötigt viel weniger

Platz als ein richtig großes und schweres Reiserad. Ich bekomme sonst heute keinen so günstigen Zug mehr und müsste die Nacht in Wien verbringen." "lch kann daran gar nichts machen. Ein Fahrrad dürfen Sie nur nach Anmeldung und Reservierung mitnehmen. Aber wie gesagt, ein Fahrrad, jegliches andere Gepäck schon."

Er hat das Wort "Fahrrad" zwei Mal sehr betont ausgesprochen. Ich sehe den

Zugbegleiter verständnislos an. "Ja klar, kein Fahrrad!" "Aber ich nehme an, Ihr Rennrad, das können Sie doch leicht zerlegen. Sie lösen die Räder aus dem Rahmen, ziehen den Sattel ab und schrauben die Pedalen los. Dann stellen Sie alles nebeneinander in den angehängten Fahrradwagen. Der transportiert dann allerdings außer vielen Fahrrädern auch ein Päckchen mit zwei Rädern, einem Rahmen, Sattel und Pedalen, das einst ein Fahrrad war und jederzeit wieder eins werden kann. ln seinem gegenwärtigen Zustand handelt es sich aber um Gepäck und nicht um ein Fahrrad."

Ich nicke erfreut: "Mache ich alles sofort! Vielen Dank! Heißen Sie etwa Schwejk?"

Er verneint, lächelt und wandert fröhlich weiter. Kaum habe ich das Rennrad in ein Gepäckstück verwandelt, fährt der Zug los.

ln meinem Abteil lärmt eine fröhliche Radlergruppe.

lhre Mitglieder unterhalten sich über den verflossenen Urlaub am Kärntner Weißensee und die Superradtouren, die sie unternommen haben. "lch fand Klasse, dass auf dem See nur elektrisch angetriebene Schiffe zugelassen waren."

"Ach, und ich bin samt Handtuch und Lektüre in den See gefallen. Mein Buch, ein Band Tucholsky, war doppelt so dick wie vorher, nachdem ich es mit Mühe wieder aus dem See gefischt hatte."

Irgendwann steigen die lärmigen Radfahrer aus und es wird still, ganz still.

 

Donnerstag, 6.7.2006, Deutschland, südlich von Köln bis zu meinem

Haus in Schwerte-Ergste

Ich sitze allein in dem Wagen, der monoton durch die Nacht und unsichtbare deutsche Regionen weit südlich von Köln rattert: Tatam, Rattatam, Tatam!

Gerade ist es vierundzwanzig Uhr geworden. Gespenster und Geister der Finsternis und der Einsamkeit kreisen ruhelos umher.

Da entreißt mich ein netter türkischer Zugputzmann aus Sinop am schwarzen Meer den Klauen einer alptraumhaften Verstimmung.

Er redet mit mir über seine zwei kleinen Söhne, Mehmet und Talip. Die Schönheit der Heimatstadt Sinop schildert er mir in eindrucksvollen Worten.

Aber auch Deutschland gefällt ihm. Die Menschen sind so nett und die Arbeit findet er gut.

Er hat ein Bisschen Geld gespart, in der Türkei ein großes Grundstück gekauft und während seiner Urlaubstage ein schönes Haus darauf gebaut.

Das Land bringt jetzt jede Menge Obst und Gemüse hervor. Irgendwann, wenn er in Rente geht, will er sich dort niederlassen.

Mein türkischer Freund trägt Gummihandschuhe und klaubt die Abfälle aus den Papierkörben, sammelt liegen gebliebene Flaschen, Zeitungen und anderen Müll ein, den er in einen großen blauen Plastiksack steckt.

Kurz vor zwei Uhr, der Zug rast wenige Kilometer vom Zielbahnhof Dortmund entfernt durch die Nacht, erscheint in meinem einsamen Waggon ein Bahnmitarbeiter, ein deutscher Pingelmann.

"Die Fahrkarte bitte!" Ich zeige sie ihm. Er bedankt sich und geht weiter. Dann sieht er mein zerlegtes Rennrad im benachbarten Fahrradabteil und kehrt zurück: "lch nehme an, das ist Ihr Fahrrad."

"Ja, das gehört mir. Ist aber kein Fahrrad, sondern Gepäck!" "Hmmm! Sidoch jeder, dass es ein Fahrrad ist. Dafür müssen Sie einen Reservierungsbeleg vorweisen oder vierzig Euro Strafe zahIen."

"Das ist aber Gepäck! Deswegen brauche ich auch keine Reservierung. Einer Ihrer österreichischen Kollegen hat es mir so erklärt: 'Wenn Sie Ihr Rennrad

auseinander nehmen, geht es als Gepäck durch.“

Der Pingelige schüttelt missbilligend den Kopf: "KoIIegen gibt es! Aber na ja,die Österreicher. Ach, ich habe keine Lust mich so spät nachts mit Ihnen herum zu ärgern. Wirsind ja sowieso bald in Dortmund. Ist das Fahrrad eben Gepäck. Gute Reise!"

"Unmöglich", denke ich. "Gibt es denn gar keinen unnachgiebigen deutsche Paragraphenreiter mehr?" Der Zug hält. Ich steige samt Gepäck aus und verwandle noch auf dem Bahnsteig mein Gepäck wieder zurück in ein Rennrad. Um zwei Uhr springe ich in den Sattel, wittere den Heimatstall und zische bei leichtem Nieselregen und ohne Licht. durch die Dortmunder Innenstadt. Dort treiben sich im Schmuddelwetter noch vereinzelte Nachtschwärmer herum. Rote Ampeln ignoriere ich zu dieser späten Stunde. Überall sehe ich die kleinen bunten Nashornskulpturen, die man aus Anlass der Fußballweltmeisterschaft dort aufgestellt hat.

Ich durchquere die Südstadt, Hörde, Berghofen, Schwerte und lande schließlich gegen 3 Uhr nachts in Ergste. Meine Frau ist überrascht. Sie hat mich noch nicht erwartet, freut sich aber sehr, aus ihrer Einsamkeit erlöst zu werden. Gladys hat fast alle Möbel umgestellt, so dass ich eine Weile brauche, um mich zurecht zu finden. Ich bin froh, wieder zu Haus zu sein, falle ins Bett und schlafe zufrieden neben dem warmen und weichen, schwarzen und schönen Körper meiner Frau ein.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 07.01.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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