Norbert Schimmelpfennig

Drei Wünsche im Eiszapfen-Dreizack

Etwas klopfte ans Fenster, gegen Mitternacht.

„Ich glaub, ich habe endlich einen Elch gesehen!“, rief der achtjährige Thaddäus aus und drückte seine Nase ans Fenster.

„Von denen träumst du doch schon die ganzen Tage hier!“, sagte Tamara, seine ältere Schwester, schläfrig und drehte sich auf die andere Seite.

 

Am nächsten Morgen, dem Tag der Abreise, hatte es heftig geschneit, vielleicht schon zu heftig, in diesem Tal im Mittelgebirge. Denn die einzige Straße, die aus diesem Tal hinausführte, war vollkommen zugeschneit, wo sie zum Ausgang des Tales anstieg.

So war der Reisebus gezwungen, anzuhalten, mitten auf einer weiten Schneefläche. In einiger Entfernung waren die Berghänge mit ihren verschneiten Tannen und Fichten zu sehen. Wenigstens passierte dies neben einem großen Schneemann. Dieser musste ungefähr zwei Meter hoch sein. Auf der Hinfahrt hatte ihn noch niemand gesehen.

Einige Fahrgäste stiegen aus, besonders die Kinder.

„Wer hat dich denn gebaut?“, fragte Thaddäus.

„Er kann dich doch nicht verstehen!“, sagte Tamara zu ihm.

Zu ihrer Überraschung aber antwortete der Schneemann:

„Der Elch Schneeschaufler!“

„Dann nenne ich dich Elchfreund!“, sagte Thaddäus.

„Dieser Name gefällt mir!“, meinte der Schneemann und erzählte dann:

„Wenn ihr diesem Elch das Richtige zum Fressen gebt, wird er so groß, dass er mit seinen Schaufeln den Schnee von der Straße wegräumt!“

„Ach was!“, sagte Tamara.

„Ist jemand unter euch, der besonders gut tauchen kann?“, fragte der Schneemann.

„Ja, ich!“, erwiderte Frau Tannenbacher, die Mutter von Tamara und Thaddäus. „Auch im Eis – dies habe ich am See beim Hotel geübt, noch bevor dieser See zufror!“

„Diesmal wirst du in das Flüsschen dort hinten tauchen! Dort könntest du einer Feerelle begegnen, die weiß, wo das Lieblingskraut des Elches wächst!“

„Eine Forelle mit Feenkräften – gibt es die wirklich?“, fragte sie skeptisch, und der Schneemann erwiderte:

„In diesem Tal schon, du wirst sehen!“

 

Frau Tannenbacher zog ihren Tauchanzug an und stieg in das Flüsschen, das sich aus zwei Bächen bildete, die von beiden Seiten des Tals kamen.

 

Sie tauchte eine Weile umher – und schließlich kam aus einem dieser Bäche eine Forelle auf sie zu geschwommen, mit einer Blaufärbung!

Eine Weile musterte die Forelle die Taucherin, dann sprach sie:

„Ich bin die Feerelle Eisbachschnelle,

ich wach hier über die Quelle und die Welle!

Siehst du in der Ferne die dunkelblaue Stelle?

Dort hat der Dämon der Lawinen seine Höhle!

Hörst du auch diesen fernen Klang?

Das ist des Dämons Lockgesang!

 

Mensch vom Land, wie heißt du, und wie bist du hierher gelangt?“

„Ich heiße Tanja Tannenbacher, und ich bin eine gute Taucherin! Und du kannst nicht nur sprechen, sondern auch zaubern?“

„Das kann ich! Du möchtest mit den anderen Menschen raus aus diesem Tal?“

„Ja, das möchten wir möglichst bald, noch bevor es dunkel wird!“

 

„Dann musst du zur Höhle des Lawinendämons – aber nur bis zum Eingang – und dort drei Eiszapfen abbrechen. Diese werden dann einen Dreizack bilden.“

„Und wenn ich dem Dämon begegne?“

„Wünsch dir am besten gleich etwas, was ihm gefallen wird! Dieser Wunsch wird in einen der Eiszapfen schlüpfen.“

„Dann wird uns der Dämon in Frieden ziehen lassen?“

„Dich zumindest. Anschließend bringst du den Dreizack zu deinen Leuten. Wenn dann zwei weitere Menschen unterschiedlichen Alters einen Wunsch in je einen dieser Eiszapfen stecken, wird der Bach eine Fläche frei spülen, auf der das Lieblingskraut des Elches wächst! Und wenn der Elch dieses Kraut gefressen hat, wird er groß werden! Viel Glück!“

Jetzt schwamm die Feerelle davon, und Frau Tannenbacher zu dieser Höhle. Dort erblickte sie oberhalb der Wasseroberfläche, inmitten von ein paar kahlen Felsen, tatsächlich drei Eiszapfen nebeneinander, während eine Melodie erklang, die sich ungefähr so anhörte, als würde der Wind „Kling, Glöckchen, kling“ spielen.

Frau Tannenbacher fasste instinktiv den mittleren Eiszapfen an. Dabei äußerte sie den Wunsch:

„Mögen in diesem Winter die Gletscher ordentlich wachsen und im nächsten Jahr nicht so stark schrumpfen wie sonst oft!“

Daraufhin brachen die drei Eiszapfen ab und formten in ihrer Hand einen Dreizack. Mit diesem begab sich Frau Tannenbacher zurück zu ihrer Gruppe und erzählte den anderen von ihrem Erlebnis.

Da fasste ihr Sohn Thaddäus einen weiteren Eiszapfen und sagte:

„Der Kevin aus meiner Klasse soll nächstes Mal auch ein schönes Weihnachtsgeschenk erhalten – seine Familie hat so wenig!“

Kurz darauf trat der weißhaarige Peter Pilzdorfer vor und sprach zu dem dritten Eiszapfen:

„Ich bin jetzt 88 Jahre alt, hatte früher einen acht Jahre älteren Bruder. Der ist im Krieg verschollen – möge er nun seinen Frieden finden!“

Jetzt spülte einer der Bäche eine Fläche vom Schnee frei, und darunter kamen ein paar rote und lilafarbene Kräuter zum Vorschein.

Daraufhin trabte ein Elch herbei, fraß diese Kräuter auf und nahm danach an Größe zu – war schließlich ähnlich groß, wie es ein Brachiosaurus gewesen sein mag.

Mit seinem Geweih schaufelte er nun den Schnee auf der Straße beiseite, und der Bus setzte sich alsbald in Bewegung.

 

Schließlich konnte der Fahrer den Bus über den Pass bringen, hielt aber vorher kurz an, so dass sich die Reisenden noch einmal umdrehen konnten und jetzt beobachteten, wie der Elch Schneeschaufler langsam zu seiner normalen Größe zurück schrumpfte.

Bald erreichte er Elchfreund, seinen Schneemann, stellte sich hinter diesen und lud auf sein Geweih eine Ladung Schnee, so dass es nun aussah, als winke der Schneemann dem Reisebus nach, der kurz darauf aus seiner Sichtweite verschwand.

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