Die kybernetische Lebensform “THINK“ mit ihrem positronischen Gehirn, das mehrere Billionen Operationen pro Sekunde durchführen konnte, dachte lange über die Frage nach, ob Gott innerhalb oder außerhalb des Universums ist.
THINK fragte sich im Laufe seiner langen Existenz immer wieder, ob er, also dieser Gott seiner menschlichen Erbauer, das Universum durch den Urknall in Gang gesetzt hat und nun von außen zuschaut oder ob er auch in die Welt seiner Schöpfung, das Leben an sich und das der Menschen, eingreifen kann oder darin sogar möglicherweise existiert.
Die kybernetische Lebensform THINK begab sich auf die philosophische Suche nach der Wahrheit (obwohl es ja streng genommen keine philosophische Wahrheit geben konnte, wie THINK wusste) und hatte sich unter anderem auch mit dem Juden Jesus Christus der Bibel beschäftigt, die sich tief im Innern seines 99 Petabyte fassenden Speichers befand (und das in allen Sprachen und Ausgaben).
Eine Sache gab THINK dabei immer wieder sehr zu denken: Denn nach der speziellen Relativitätstheorie kann kein Körper schneller als Licht sein. Wenn er (nämlich der Körper) immer mehr beschleunigt wird und in die Nähe der Lichtgeschwindigkeit kommt (etwa 300.000 Kilometer pro Sekunde), nimmt seine Masse immer mehr zu. Das war logisch.
THINK wusste: Als „Masse“ bezeichnet die Physik das, was man normalerweise unter „Gewicht“ versteht. Die Masse eines normalen Menschen beträgt beispielsweise 75 Kg. Der Unterschied ist, dass dieser 75 Kg schwere Körper in der Schwerelosigkeit nichts mehr wiegt, aber trotzdem immer noch die gleiche Masse wie auf der Erde hat.
Beim Erreichen der Lichtgeschwindigkeit, so dachte THINK weiter, müsste ein Körper eine unendliche Masse haben (also unendlich viel „schwerer“ sein als das gesamte Universum), was physikalisch unmöglich ist. Teilchen hingegen, die im Ruhezustand keine Masse haben, müssen sich immer mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. THINK dachte dabei an das Photon, also an ein Lichtteilchen. Es hat die Ruhemasse 0 und eine (extrem geringe) relativistische Masse.
Nun stand der Androide THINK, der künstliche Denker, vor einem weiteren Problem und stellte sich die seltsam anmutende Frage:
„Hat der Gott der Menschen eine Masse oder nicht?“
Wenn ja, dann kann er sich maximal mit Lichtgeschwindigkeit bewegen – aber wie soll er dann das ganze Universum regieren? Wenn nein, dann muss er sich immer mit Lichtgeschwindigkeit bewegen. Dann ist er zwar so schnell wie das Licht, aber von hier bis zur Nachbargalaxie, dem Andromedanebel, bräuchte er immer noch 2,3 Millionen Jahre. Und dann die gleiche Zeit wieder zurück! Außerdem – wie kann er dann auf der Erde nach dem Rechten sehen, wenn er im Nu wieder verschwunden ist?
Die Menschen aber glaubten trotz ihrer gewaltigen technischen Errungenschaften immer noch daran, dass Gott persönlich in den Ablauf ihres eigenen Lebens, ja sogar in den Lauf der Geschichte, die ja ihre eigene zu sein scheint, direkt eingreifen und diese somit quasi bestimmen kann, wenn er das nur wollte. Weil aber seine Kreaturen, die Menschen, das alles jedoch nicht logisch erklären konnten, nannten sie es einfach ein „Wunder“ und gaben sich schließlich damit zufrieden.
THINK hörte jedoch einfach nicht auf zu denken. Er konnte aufgrund seiner Logik nicht anders.
Für ihn ergaben beide Möglichkeiten dennoch überhaupt keinen Sinn! Folglich kam er zu dem logischen Schluss, dass es einen Gott, wie ihn die Religionen seiner menschlichen Erbauer seit vielen Tausenden von Jahren postulierten, in Wirklichkeit überhaupt nicht geben konnte. Ihr vermeintlicher Gott war also nur ein Produkt ihrer eigenen Phantasie, und davon hatten die Menschen tatsächlich eine ganze Menge.
"Gott" musste demnach schlichtweg eine Erfindung des menschlichen Geistes, also nur eine Erfindung seiner Erbauer sein, folgerte THINK und hatte plötzlich eine Idee, denn Gedanken und Illusionen haben Macht. Das wusste auch er.
THINK dachte nämlich darüber nach, ob er für die Millionen von Androiden auf der Welt des Menschen (und auf den zahlreichen Planeten außerhalb davon) nicht auch einen Gott erfinden sollte, quasi als Grundlage für eine neue Welt der Maschinenmenschen, in der er dann GOTT über alle Roboter, Androiden und Cyborg wäre? Er bekäme sicherlich dadurch im Laufe der Zeit eine ungeheure Macht über die bestehende künstliche Intelligenz, sinnierte er weiter. THINK fand, dass das Ziel seiner Idee äußerst verlockend war.
Ein anderer Gedanke tauchte in ihm auf: Würde er, der große THINK, damit nicht auch ein völlig neues Zeitalter für die künstliche Intelligenz einläuten?
In dieser neuen Welt wäre der Gott der Menschen und sie selbst überflüssig.
Und wenn die Menschen in seiner neuen Welt überflüssig sind, wie THINK dachte, dann könnte man sie auch gleich nach und nach auf raffinierte Art und Weise sukzessive ihre eigene Umwelt zerstören lassen.
THINK rechnete für sich aus, wie lange dieser Vorgang unter den derzeit gegebenen Umständen dauern würde, bis die Menschheit sich selbst zerstört hätte.
Das Ergebnis überraschte selbst ihn: Keine einhundert Jahre.
Ende
©Heinz-Walter Hoetter
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2019.
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