Bernhard Dickhut

Drüben

Drüben

 

Früher war alles besser. Man achtete noch aufeinander. Man wußte, wer nebenan wohnte. Wenn dort die Schalousien unten blieben, bestellte man den Notarzt. Man wußte auch, wem man vertrauen konnte und wem besser nicht. Man lebte in einer sicheren und klaren Welt. Man kannte sich aus und wußte, wo es lang geht. Gab es mal jemanden, der etwas sagte, was man nicht hören wollte, konnte man ihm einfach ein deutliches GEH DOCH NACH DRÜBEN zuwerfen. Das konnte man natürlich jedem zurufen, der einem nicht gefiel.

So einfach war das.

Früher war eben alles besser.

Früher ist natürlich ein relativer Begriff. Die ganz Jungen meinen mit früher gestern und die ganz, ganz Alten meinen mit früher den Krieg. In diesem Fall ist früher die Zeit um 1980 herum. Es waren die letzten Jahre in denen Langhaarige noch nach drüben gehen sollten. Aber es gab auch Leute, die kamen von drüben.

Wie Karl-Heinz.

Er sah ganz normal aus. So wie man eben aussieht mit Anfang 40, wenn man rüber gemacht hat. Karl-Heinz hatte eine Wohnung in einem kleinen Nest in Westfalen gefunden. Nennen wir das Nest Bornholte. Dort gab es eine Kirche mit fulminantem Glockenton und damals auch noch einen eigenen Pfarrer. Es gab eine Domschänke, die so mancher der Predigt des alten Pfarrers vorzog. Es gab einen Konsum und es gab einen Sportplatz. Mit einem neuen Fußballerumkleidegebäude. Vorher hatte man sich im Keller der Domschänke umziehen müssen.

Es gab in Bornholte also alles, was man so brauchte, wenn man schon immer in Bornholte gelebt hatte oder wenn man rüber gemacht hatte.

Wie gesagt, es war früher. Als noch alles besser war. Als noch jeder jeden kannte.

Aber als noch niemand Karl-Heinz kannte.

Dafür gab es den Konsum. Und irgendwann betrat auch Karl-Heinz den Konsum und wurde mit einem freundlichen „guten Tach“ von Lotte Schneider begrüßt, die in Bornholte nur Konsumlotte hieß.

Karl-Heinz wollte nur Gemüse und Milch, Konsumlotte aber alles wissen.

Ja, er komme von drüben, ja seinen Hausnamen habe er noch nicht aufs Klingelschild geschrieben, er hieße Sparwasser.

Karl-Heinz hatte nicht viel sagen wollen und alles mehr oder weniger nur vor sich hin gebrummelt. Er hatte einfach versucht, ein bisschen freundlich zu sein.

Aber als sein Hausname – Sparwasser - fiel, bemerkte er eine gewisse Spannung im Konsum, bemerkte noch weitere Kunden, besonders einen Mann, dessen Anzugshose unter die Rundung seines mächtigen Bauches gerutscht war.

Sparwasser, wiederholte der Dicke, während Karl-Heinz zu Konsumlotte sagte: Ein Liter Milch noch.

Der Dicke stieß ihn an.

Was mit dem Sparwasser zu tun? Wie hieß der noch? Jürgen – Jürgen Sparwasser! Na der uns 74 zur Weltmeisterschaft verholfen hat. Mit seinem 1:0. Wie war das denn so in der DDR?

Karl-Heinz antwortete, er wolle nicht über diese Zeiten sprechen.

Was den Dicken weiter anspornte. Also doch verwandt. Haben Sie auch Fußball gespielt?

Karl-Heinz schüttelte den Kopf. Nicht weil er nie Fußball gespielt hatte – obwohl auch das stimmte – sondern weil er es einfach leid war zu erzählen, weil er hier niemanden kannte, weil er nur seine Milch wollte. Weil er seine Ruhe haben wollte.

Nachdem, was hinter ihm lag.

Also Trainer fuhr der Dicke fort, in der ersten Liga der DDR?

Karl-Heinz schüttelte weiter seinen Kopf, konnte den Dicken aber nicht stoppen.

Als der von der 3. Liga anfing, reagierte er gar nicht mehr auf den Dicken, der von da an alles wußte.

Also was haben wir denn da. Den Herrn Sparwasser, ehemaliger Trainer in der dritten DDR-Liga. Der wohnt bei uns in Bornholte, im Fliederweg. Das muss ich dem Werner sagen. Vielleicht ist Eintracht Bornholte doch noch zu retten.

Karl-Heinz verließ eilig den Laden.

Weil Karl-Heinz nicht Nein sagen konnte, weil er außerdem gelernt hatte, dass er mit Zustimmung am weitesten kam, nahm das Unheil seinen Lauf. Obwohl es natürlich gar kein Unheil war.

Wie vom Dicken im Konsum angedroht, besuchte ihn noch am gleichen Tag dieser Werner. Werner Maasjost. Er war der Vorsitzende von Eintracht Bornholte. Er war der Manager von Eintracht Bornholte und sein Bruder Willy Maasjost war der Trainer von Eintracht Bornholte. Und Eintracht Bornhalte spielte mit seiner ersten Mannschaft in der 1. Kreisklasse gegen den Abstieg. Wie jedes Jahr, wenn sie nicht zufällig in der 2. Kreisklasse spielten.

Jedenfalls nutzte alles abwinken und alles abstreiten nichts.

Hier auf’m Land hilft jeder jedem und Du hilfst uns am besten auf der Bank an der schönen weißen Seitenlinie. Mit Dir steigen wir nicht ab. Da geht gar keine Widerrede.

Wenn man wie wir hier an diesem Abend weiß, dass Karl-Heinz noch nie Fußball gespielt hatte und damit gar keine Ahnung hatte, wie Fußball trainiert wird, geschweige denn die Abseitsregel gekannt hätte, wenn man das alles weiß, denkt man, jetzt hat Karl-Heinz ein Problem.

Wenn man aber denkt, dass Karl-Heinz die dritte DDR Liga als Trainer gerockt hat, dann träumt man in ganz Bornholte sofort von der Bezirksklasse.

Karl-Heinz jedenfalls hatte ein Problem, das er aber schon beim ersten Training geschickt löste. Zunächst einmal erklärte er den Spielern etwas von Physiognomie, ließ sie sich nach Größe aufstellen und besah sich jeden einzelnen mit ernstem Blick und schrieb dann mit wichtiger Pose auf seinem Block: klein, nicht ganz so klein, etwas größer und zum Schluß: der größte.

Da eine ernste Athmosphäre über dem Sportplatz lag, da jeder – bis auf einen – wußte, das hier ein Profi am Werk war, zogen sich nach kurzem Hinweis alle Spieler ihre Pöhler aus, damit Karl-Heinz sich ausgiebig ihre Füße ansehen konnte. Karl-Heinz war erstaunt darüber, wie häßlich Männerfüße sein konnten. Die häßlichsten verurteilte er in die Verteidigung, die größten in den Sturm.

Damit stand die Aufstellung für das Sonntagsspiel.

Er war sehr erstaunt über sich, als er die Spieler mit dem Satz auf den Platz schickte: Ich weiß, was ich tue und wenn Ihr mir folgt, geht es richtig nach vorn.

Willy Maasjost, der ehemalige Trainer und jetzige Co-Trainer hatte sich verzweifelt die Haare gerauft. Diese Aufstellung konnte nicht gut gehen. Allein schon, dass Siggi Müller in die Sturmspitze sollte. Ausgerechnet Siggi, den er schon einmal auf der Bank hatte schmoren lassen, obwohl nur 10 Bornholter auf dem Platz standen.

Aber er täuschte sich.

Siggi war nicht nervös, weil er zum ersten Mal spielen durfte, obwohl ihm noch nie ein Trick gelungen war. Ihm war nicht einmal klar, dass er den größten Fuß in Bornholte hatte.

Siggi wußte aber ganz genau, der neue Trainer ist ein Profi und wenn der mich in den Sturm stellt, dann tut er das nur, weil ich der richtige bin, weil ich richtig gut Fußball spielen kann, jedenfalls besser als alle Verteidiger der 1. Kreisklasse.

Siggi schoss die Bornholter zum Sieg.

Natürlich war sich Karl-Heinz ganz sicher gewesen, dass er ab Montag nach diesem ersten Spiel kein Trainer mehr von Eintracht Bornholte sein würde. Aber da hatte er sich nach dem grandiosen Sieg getäuscht, aber noch immer keine Ahnung vom Fußballspiel. Also nahm er den Bus nach Münster, suchte eine gute Buchhandlung und erstand dort zwei Bücher: „Fußball für ahnungslose Frauen – mit einem Vorwort von Annemarie Renger“ und das Kinderbuch „Das kleine Fußball ABC – so wirst Du zum Fußballstar.“

Als beim nächsten Training das Spiel so dahin plätscherte, dachte Karl-Heinz, er müsse etwas sagen. Und plötzlich schrie er über den Platz:

Nach rechts, verdammt noch mal nach rechts sag ich.

Und alle starrten nach rechts. Rechts gab es nichts, was anders war als links oder sonstwo. In die Erstarrung hinein lief Siggi Müller nach rechts. Und da war er, der geniale Spielzug.

Danach wußten alle Spieler, der war niemals Trainer der dritten DDR Liga, das mußte erste Liga gewesen sein.

Als Karl-Heinz ihnen vor dem nächsten Spiel auch noch erklärte, welch Klassespieler sie seien – er bediente sich dabei dem Vokabular aus „Fußball für ahnungslose Frauen“– liefen sie mit größtem Selbstvertrauen aufs Feld. Der bislang ungeschlagene Spitzenreiter wurde mit 6:0 abgefertigt.

So ging es immer weiter. In der Folgesaison stieg man tatsächlich in die Bezirksklasse auf und natürlich wäre man fast in die Landesliga aufgestiegen.

Hätte es nicht diesen Zeitungsbericht gegeben. Sparwasser der Erfolgscoach. Hätte es nicht diesen Mann aus Sachsen gegeben. Ach - Wäre doch dieser Mann aus Sachsen niemals aus der DDR geflüchtet. Hätte sich doch dieser Mann aus Sachsen im Allgäu oder im Breisgau niedergelassen statt im Münsterland. Hätte doch dieser Mann aus Sachsen Karl-Heinz Sparwasser nicht gekannt. Hätte doch dieser Mann aus Sachsen mit Karl-Heinz Sparwasser in der Domschänke einen drauf gemacht. Hätte doch dieser Mann aus Sachsen der Zeitung nicht erzählt, Karl-Heinz Sparwasser wisse nicht einmal, was Abseits ist.

Aber natürlich kam es so.

Natürlich schmiss Werner Maasjost Karl Heinz Sparwasser als Trainer raus. Natürlich führte Willy Maasjost die erfolgreiche Bornholter Eintracht von der fast Landesliga zurück in den Abstiegskampf in der ersten Kreisklasse.

Und das alles geschah, obwohl Karl-Heinz Sparwasser inzwischen sehr genau wußte, was Abseits ist.

So zog also Karl Heinz Sparwasser nach Niedersachsen, wo ihn niemand kannte. Da er schlechte Erfahrungen mit der Nennung seines Hausnamens hatte, behauptete er einfach, er hieße Karl Heinz Bach. Inzwischen hat man ihm dort die Position des Organisten angetragen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.01.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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