Bernhard Dickhut

Rastelli Rogalla

Rastelli Rogalla

Der Mann kam näher. Er lief. Er trug eine verwaschenblaue, kurze Sporthose, darüber ein ehemals rotes Shirt. Er lief, obwohl seine Figur so gar nicht zu der eines Läufers passte. Er lief, obwohl sein Körper aufgedunsen war und sein Atem schwer ging. Er lief, obwohl vor allem seine Beine nicht zum athletischen Körper eines Läufers passten. Oberschenkel und Waden bildeten ein weites O, das im Becken und in den Füßen wieder zusammenlief. In seiner Kindheit hatten ihm die alten Männer aus dem Tauberverein erklärt: da kannsse kein Ferkel mit fangen.

Er hatte ihnen nicht geantwortet. Er würde niemals versuchen, ein Ferkel zu fangen und kein Fußballspieler, kein einziger würde es schaffen, ihm jemals einen Ball durch das riesige O zu spielen.

Fast hatte er sogar Recht behalten.

Die Männer saßen erschöpft auf den Holzbänken. Ihre tiefroten Köpfe lehnten an der Außenwand der alten Umkleidekabine. Sie hatten gekickt, wie sie es seit unzähligen Jahren freitags taten. Vier gegen vier. Hell gegen Dunkel.

Ihr hättet von den Weißen einiges lernen können.

Friedhelm entdeckte den unförmigen Läufer als erster.

Das ist er, sagte Friedhelm. Tatsächlich war er es. Rastelli Rogalla. Er lief. Wenn man es als laufen bezeichnen konnte.

Rastelli Rogalla, sagte Friedhelm mit einem Hauch von Bewunderung.

Wer ist das, fragte Günter.

Das war einer. Der hatte es drauf.

Jeder von ihnen hatte einen knappen Satz parat, der denen, die dabei waren, alles sagte. Alle wussten Bescheid. Bis auf Günter. Der konnte ihre Geschichten nur erahnen. Rastelli Rogalla, dieser behäbige Mann, der da auf sie zulief, gehörte als Glanz in diese Geschichten.

Friedhelm hatte sie zusammengetrommelt.

Damals. Sie waren noch keine zwanzig. Er hatte das Dorfturnier unbedingt gewinnen wollen. Mit Rastelli Rogalla und Riegelhorst waren sie unschlagbar.

Wie lange ist das jetzt eigentlich her?

An Riegelhorst war keiner vorbeigekommen. Die Null stand. Und vorn Rastelli Rogalla. Jeder Ball suchte seine Füße, rollte von der Seite an den Spann, an die Ferse, machte Drehungen vor und zurück, ließ sich von keinem anderen Fußballschuh berühren. Nur wenn Rastelli Rogallas Fuß es wollte, rollte, flog, zischte der Ball millimeter-genau dorthin, wohin ihn Rastelli Rogallas Fuß schickte.

So war es. Genauso war es. Jedenfalls bis zum Finale. Da war das passiert, was niemand für möglich hielt. Irgend so ein kleiner Gegenspieler hatte Rastelli Rogalla den Ball durch das große O geschoben. Von da an war das Spiel gelaufen.

Wir waren die beste Mannschaft..., sagte Friedhelm.

Er hatte es vor dem Finale erlebt. Er würde es niemandem erzählen. Niemals. Nicht einmal im Suff. Aber er würde es auch niemals vergessen. Rastelli hatte unter der Dusche gestanden, ganz allein im hellgrün gekachelten Duschraum. Friedhelm war in der Tür stehen geblieben. Peinlich berührt, unfähig sich zu bewegen, hatte Rogalla ihn dort entdeckt und trotzdem weitergerieben. Haste gesehen, wie ich den Ball angenommen habe, er stöhnte, rieb schneller, durch die halbe Abwehr, dann dieser Lupfer, der Ball liegt in der Luft, unerreichbar für den Keeper, für alle und schiebt sich in den Winkel, da ... da ... da schoss es aus ihm heraus, in den Winkel, in den Winkel, genau in den Winkel.

Wir haben verloren. Eins zu Null. Horst musste nach vorn.

Der Läufer hatte sie inzwischen erreicht. Keuchend winkte er ihnen zu.

In zwei Monaten bin ich bei Euch. Er schob seine viel zu vielen Pfunde weiter, während Friedhelm an den Winkel dachte.

Der Horst, an dem kam keiner vorbei.

Horst war im Gegensatz zu Rogalla kantig. Sein Körper war kräftig, fast bullig, seine Bewegungen schienen ungelenk und abrupt. Rogalla hatte nur vor Horst Respekt, an allen anderen kam er vorbei. Bis ihm dieser Wicht den Ball durch die Beine schob. Der Horst war keine vierzig geworden. Krebs.

Sie alle hatten Rogalla beneidet. Er hatte die tollsten Frauen. Spielte mit Horst in der Landesliga, dann in der Verbandsliga. Sie trennten sich, als Rogalla einen Vertrag in der Bundesliga unterschrieb.

Er hatte ganze drei Minuten auf dem Rasen gestanden, mit einem wunderbaren Trick einen gestandenen Profi ausgespielt. Friedhelm hatte immer behauptet: das war der Rüssmann. Rastelli hatte sogar noch einen zauberhaften Pass gespielt, ehe ihn der gestandene Profi mit einem gezielten Tritt nicht nur ins Krankenhaus befördert, sondern ihn bis in die Verbandsliga zurückgesandt hatte. Mit 39 hatte er noch Bezirksliga gespielt. Dann war alles vorbei.

Er hatte nichts gelernt außer Fußball, Alkohol und Frauen. Als er nicht mehr eingewechselt wurde, wechselten ihn auch die Frauen aus.

Er blieb zwei Tage und zwei Nächte auf der Auswechselbank sitzen, starrte solange auf die rote Asche bis er ins Landeskrankenhaus eingewechselt wurde. Er war nicht mehr Rastelli nur noch eine blass sedierte Ausgabe von Rogalla. Er zog zu seiner Mutter. Er blieb fortan in seinem Zimmer, das er nur noch zu Arztbesuchen verließ.

Bald würde er fünfzig werden.

War auch scheiße von uns, sagte Friedhelm und meinte: Wir haben mit ihm gejubelt, jeden Beinschuss gefeiert, oft genug einen draufgemacht und dann haben wir ihn hängen lassen.

Man gewöhnte sich daran, dass Rastelli Rogalla lief. Jeden Tag. Mehrmals. Seine Mutter war solange glücklich, bis ihr der Arzt mitteilte: Ihr Sohn befindet sich in einer manischen Phase. Kurzerhand erhöhte er die Medikation. Mit dem Rezept machten sie sich auf den Weg zur Apotheke. Aber dort kamen sie nicht an. Weil Rastelli, den sie Manni nannte, ihr ins Ohr flüsterte: Ich lebe. Da war sie fast wieder glücklich. Steckte das Rezept aber in ihr Portemonnaie und Rogalla lief weiter. Sein Körper wurde athletischer, seine Züge jugendlicher. Du wirst bald fünfzig, sagte seine Mutter. Gerade deshalb wollte er sich unbedingt einen Lederball kaufen.

Den halte ich im Garten hoch. Zuerst kurz dann länger.

Es galt noch etwas gut zu machen.

Als Rastelli Rogalla eines Freitags tatsächlich zum Kicken kam, grüßte er sie alle mit Namen. Nur Günter kannte er nicht.

Wo ist Horst? Kommt der noch? Ohne Horst geht es nicht. Warum ist der tot und nicht ich.

Sie spielten wie immer. Weiß gegen dunkel.

Nach dem Kick fragte Rogalla, wann ist das Turnier?

Wir sind zu alt, meinte Friedhelm.

Günter spielt für Horst, entschied Rogalla.

Beim nächsten Treffen brachte Rogalla Atze mit, seinen alten Trainer, der knapp über achtzig war. Er ließ Standartsituationen üben.

Der Tag kam. Der Tag des großen Kleinfeldturniers. Fünf gegen Fünf. Sie hatten eine Vorrunde mit Mannschaften zu spielen, die halb so alt waren wie sie, die doppelt so schnell waren wie sie, die Luft hatten für mehr als zehn Minuten. Atze ließ sie von Beginn an nur verteidigen. Besonders Rastelli Rogalla schärfte er ein, nur zu zerstören.

Drescht die Bälle ins Aus.

Sie spielten zweimal 0:0. Das dritte Spiel gewannen sie 1:0.

Sie waren im Halbfinale und Atze änderte die Taktik. Rastelli du gehst nach vorn. Du schießt uns ins Finale.

Sie hatten Anstoß. Friedhelm schob den Ball über die Mittellinie zu Rastelli Rogalla, der ihn empfindsam aufnahm. Ihn liebkoste. Ihn tätschelte. Mit einem leichten Stakkato führte er ihn an den Gegenspielern vorbei, um ihn bereits in der ersten Minute in die Maschen zu schicken. Unhaltbar.

Die Zuschauer jubelten.

Die Alten erinnerten sich. Die Jungen würden es nicht mehr vergessen. Nach dieser Szene wussten alle, wer Rastelli Rogalla war.

Nach wie vor kamen die Bälle auf ihn zu. Aber irgendein Fuß drosch den Ball vor ihm ins Aus, zur Seite, in die Höhe. Ihm wurde bewusst, dass er bereits fast fünfzig war. Er würde nicht viele Bälle bekommen. Aber wenn er den Ball an seinen Füßen hatte, war er nur durch Tritte gegen sein Schienbein oder durch Zupfen am Trikot zu stoppen. Wenn er jedoch nicht gefoult wurde. Dann traf er. Jedes Mal. Dreimal. Es reichte zum 3:2 Sieg. Nach dreißig Jahren waren sie wieder im Finale.

Friedhelm traf Rastelli Rogalla in der Dusche. Der lehnte mit seinem roten Trikot an der nassen, weiß gekachelten Wand. Ich hab ihn ins Tor getreten. Aber sie lassen mich nicht spielen und ich kann nichts dagegen tun. Ich dachte, es ginge wieder. Ich müsste nur ein Tor treten. Ein Wahnsinnstor. Ein echtes Wahnsinnstor. Aber es geht nicht mehr. Du hattest Recht. Wir sind zu alt. Viel zu alt.

Friedhelm ging auf ihn zu und legte seine Hand auf Rastelli Rogallas Schulter.

Du hast den Ball genommen und ihn mit Rechts voll in den Winkel geschickt. Genau in den Winkel.

Jetzt holen wir Alten den Pott, sagte er zu Rastelli Rogalla.

Und dann ist das Leben wieder vorbei, antwortete Rogalla.

Und dann feiern wir, sagte Friedhelm.

Sie gingen Richtung Spielfeld. Atze hatte sich auf einen Klappstuhl gesetzt. Jungs, Ihr macht das. Er sah noch älter aus. Macht‘s nicht zu spannend. Ich will das Ergebnis noch miterleben.

Die gegnerische Mannschaft hatte einen Spieler nur auf Rastelli Rogalla angesetzt, der ihm nicht von der Seite wich. Er war immer einen Schritt schneller. Gegen uns triffst du nicht. Wenn es der Ball doch schaffte zu Rogalla zu kommen, foulte er ihn.

Du gehörst doch in die Klappse.

Was hast Du gesagt, schrie Günter quer über das Feld.

Der ist doch verrückt. Total verrückt.

Günter suchte den Blick des Schiedsrichters. Vergeblich. Dann drosch er den Ball weit ins Aus. Soweit er konnte. Und setzte sich dort auf den Rasen, wo er gerade stand. Als wäre es abgesprochen, setzten sich auch die anderen vier auf den Rasen. Atze kam dazu. Der erste Zuschauer. Der zweite Zuschauer. Als die anderen den Ball zurückgeholt hatten, war das ganze Fußballfeld voller sitzender Männer und Frauen.

Rastelli Rogalla stand auf, nahm sich den Ball und spielte Slalom um die sitzenden Personen. Ich bin verrückt. Total verrückt. Aber Fußball, sagte er und nahm sich den Ball auf den Spann, zirkelte ihn über alle hinweg in das gegnerische Tor, kann ich besser als Ihr.

Der Schiedsrichter pfiff das Spiel sofort ab, als der Ball im Netz zappelte. Golden Goal, sagte er, weil auch ich verrückt bin. Verrückt nach einem, der so gut Fußball spielen kann.

So hatten sie das Turnier gewonnen.

Nach dreißig Jahren.

Rastelli Rogalla nahm den Ball und setzte sich auf Atzes Klappstuhl. Es sah aus, als starrte er apathisch auf das Grün des Rasens. Aber wer genau hinschaute, sah ihn lächeln.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.01.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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