Claudia Savelsberg

Abschied von Emma

Beate stand auf dem Parkplatz der Tierklinik. In der Hand hielt sie das Halsband und die Leine ihrer Emma. Vor ein paar Minuten hatte sie die todkranke Hündin einschläfern lassen müssen. Emma war tot. Hektisch rauchte Beate eine Zigarette, dann setzte sie sich ins Auto und fuhr los. Manchmal dachte sie, dass Emma auf der Rückbank läge und zufrieden grunzte, wie sie es beim Autofahren immer getan hatte. Aber Emma war tot.

Zuhause angekommen, räumte Beate das Körbchen, die Näpfe und die Dose mit den Leckerli in den Schuppen. Sie konnte den Anblick nicht ertragen. Die Leine und das Halsband wickelte sie in ein schönes Papier und legte sie in die unterste Schublade einer Kommode. Die Wohnung war so fürchterlich leer und einsam ohne die Hündin. Manchmal dachte Beate, dass Emma gleich um die Ecke käme und mit der Schnauze an ihr Knie stubste, um sie zu einem Spaziergang zu animieren. Aber Emma war tot.

Abends hielt es Beate in der Wohnung nicht mehr aus. Es war die gleiche Zeit, zu der sie immer mit Emma den letzten Spaziergang des Tages gemacht hatte. Beate ging die gemeinsamen Wege ab und lief immer weiter. Manchmal hoffte sie, dass Emma neben ihr wäre. Aber Emma war tot. Schließlich kam Beate zu einem Kinderspielplatz und setzte sich in eine Schaukel. Sie wippte leicht vor und zurück und schaute in den Himmel. Es gab sicher auch einen Hundehimmel, und dort war Emmas Seele jetzt. Dieser kindliche Gedanke gab Beate Trost. Emma war tot, aber ihre Seele nicht.

Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt. Beate schaukelte weiter und ließ ihren Erinnerungen freien Lauf. Sie hatte Emma zu sich genommen, als die Hündin sechs Jahre alt war. Ihr Besitzer war verstorben, und seine Töchter wollten Emma in ein Tierheim geben. Dies wollte Beate, die Hunde über alles liebte, nicht zulassen. Also kam die Hündin zu ihr.

Emma war ein Schäferhund-Mix. Von Kopf bis Fuß schwarz, nur mit einem kleinen weißen Fleck auf der Brust. Sie hatte große Ohren, die Beate liebevoll als „Fledermausohren“ bezeichnete. Wenn Emma schlief, dann schnarchte sie manchmal wie ein erwachsener Mann, und wenn sie sich wohl fühlte, dann gab sie oft ein Grunzen von sich.

Die Hündin gewöhnte sich schnell an Beate und ihr neues Zuhause. Emma war gut erzogen und hatte einen sanften Charakter. Beate konnte sie jederzeit ohne Leine laufen lassen, weil Emma ihr aufs Wort gehorchte. Die Hündin war lieb und folgte ihrem Frauchen auf Schritt und Tritt. Beate tat alles für Emma. Sie waren ein eingespieltes Team. Freunde und Nachbarn, die sie mit Emma beim Spaziergang sahen, sagten oft: „Ihr seid ein schönes Paar.“ Ja, das waren sie. Sieben glückliche Jahre lang.

Dann ging alles sehr schnell. Emma hinkte mit dem linken Hinterlauf immer mehr. Die von der Tierärztin verordneten Tabletten brachten Linderung, aber Beate merkte, dass die Hündin sich veränderte. Emma wollte kaum noch das Haus verlassen, die täglichen Spaziergänge wurden immer kürzer, und hinterher lag die Hündin erschöpft in ihrem Körbchen.

Schließlich gab die Tierärztin Beate eine Überweisung für eine große Tierklinik. Dort verfügte man über die neueste Technik und würde ein spezielles Röntgenbild von Emma anfertigen können. Beate, die sonst so selbstbeherrscht war, brach in Tränen aus: „Aber Emma ist doch schon fast dreizehn Jahre alt.“ Die Überweisung umklammerte Beate wie einen Rettungsanker. Bereits in zwei Tagen hatte sie den Termin in der Klinik.

Es war ein extrem heißer Tag. Abends wollte Emma nur kurz raus und dann wieder zurück in ihr Körbchen. Beate öffnete alle Fenster in der Wohnung in der Hoffnung auf eine erfrischende Windbrise. Sie setzte sich vor den Fernseher und schaute immer wieder auf Emma, weil sie sich Sorgen um den alten Hund machte.

Mittlerweile hatte ein feiner Nieselregen eingesetzt, der Kühlung brachte. Gegen 23 Uhr stand Emma plötzlich an der Wohnungstür und schaute Beate auffordend an. Offensichtlich wollte sie noch einmal raus. Beate war froh über Emmas Signal. Sie sollte alles bekommen, was sie wollte und tun, was ihr gut tat.

Es war schon dunkel, und Beate hatte ihre Taschenlampe vergessen. Aber sie lief mit ihrer Hündin durch die Nacht. Emma wollte immer weiter. So gingen sie gemeinsam die ihnen bekannten Wege ab, und Beate freute sich, dass die Hündin nicht mehr lahmte und wie immer ihre Umgebung schnüffelnd erkundete.

Schließlich kamen sie zu einem Kinderspielplatz. Auf einer Bank saßen Jugendliche, die laute Musik hörten und Bier tranken. Ein Mädchen rief mit gespieltem Entsetzten: „Vorsicht, da kommt ein gefährlicher schwarzer Hund.“ Barbara ging auf die Gruppe zu und sagte sanft: „Bitte leise sein. Meine Hündin ist alt und krank, erschreckt sie nicht. Sie wird sterben.“ Wortlos packten sie Teenager ihre Sachen zusammen und verließen den Spielplatz.

Emma hatte sich in den Sandkasten gelegt, leckte ihre Vorderpfoten und ruhte sich aus. Beate setzte sich auf eine Schaukel, wippte leicht vor und zurück, schaute auf ihren Hund und in den Himmel. Eine große Ruhe überkam sie. Sie hatte das ausgesprochen, was sie instinktiv wusste: „Sie wird sterben.“ Beate wippte stärker auf der Schaukel. Dieser Moment galt nur ihr und ihrer Emma.

Dann gingen sie nachhause, und Emma rollte sich zufrieden in ihrem Körbchen zusammen. In der Wohnung war es jetzt angenehm kühl. Nachts stand Beate zweimal auf, um nach Emma zu sehen. Die Hündin schlief und schnarchte ganz leise, ihr Herz schlug gleichmäßig. „Sie wird sterben“, dachte Beate. Sie wusste es. Ein Mondstrahl drang ins Zimmer und fiel auf die Überweisung in die Tierklinik, die auf dem Schreibtisch lag. Emmas Herz schlug, und sie schnarchte leise.

Am nächsten Tag fuhr Beate mit Emma in die Tierklinik. Sie war optimistisch. Vielleicht müsste Emma operiert werden und ein paar Tage in der Klinik bleiben. Aber dann würde sie ihren Hund wieder nachhause holen können. Es würde alles gut werden.

Beate stand auf dem Parkplatz der Tierklinik und rauchte eine Zigarette, während sie auf das Ergebnis der Untersuchung wartete. Es würde alles gut gehen mit Emma, es musste einfach gut gehen mit ihrem geliebten Hund.

Sie ging wieder hinein, und der Tierarzt empfing sie mit den Worten: „Ich habe leider eine schlechte Nachricht für Sie.“ Beate schaute auf das Röntgenbild und sah einen riesigen schwarzen Fleck im Oberschenkel des linken Hinterlaufs. Das verstand sie auch als Laie, obwohl sie es nicht verstehen wollte. Es war ein Tumor. Sie schaute den Tierarzt fragend an. „Die Hündin hat maximal noch zwei Wochen zu leben, und dann auch nur mit starken Schmerzmitteln. Sie ist Ihnen vertrauensvoll gefolgt, wie sie es immer getan hat. Jetzt liegt sie in Narkose, ihr Mensch ist bei ihr, und sie wird nichts merken.“

Beate nahm Emma das Halsband ab. Sie musste für ihren geliebten Hund, der sie seit sieben Jahren begleitet hatte, eine Entscheidung treffen. Sie sagte: „Dann ziehen Sie die Spritze auf.“ Emmas Herz hörte auf zu schlagen.

Weil sie nicht ohne einen Hund leben konnte, nahm Beate zwei Wochen später einen Welpen zu sich nachhause, der ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. Aber sie trauerte noch lange um Emma. Irgendwann erinnerte sie sich an den letzten Spaziergang im Nieselregen bis zum Kinderspielplatz. Dort hatten sie sich in Würde und Liebe voneinander verabschiedet....

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