Thomas Sänze

DAS GRAUEN


"Sie wünschen, mein Herr!"
"Äh! Guten Abend! Mein Name ist Ulrich Weiding, mein Auto hatte eine Panne. Ich wollte Sie darum bitten, kurz einmal telefonieren zu dürfen!"
Der alte Mann in der Tür musterte Ulrich gleichgültig von oben bis unten. "Treten Sie bitte ein, mein Herr!"
"Vielen Dank! Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen!"
"Keine Ursache, mein Herr! Wenn Sie mir bitte folgen würden, mein Herr!"
"Natürlich!"
Der Alte führte Ulrich einen dunklen Gang entlang. Dieser war so finster, dass man die Hand kaum vor Augen sehen konnte. Lediglich am Ende des Korridors fiel Licht durch eine halb geöffnete Tür. "Ziemlich düster ist es hier!" versuchte Ulrich eine Unterhaltung anzufangen.
"In der Tat, mein Herr!"
"Von außen sieht es aus wie ein Schloss!"
"Es ist ein Schloss, mein Herr!"
"Sind Sie der Besitzer?"
"Ich!" Der Alte verharrte und schien zu überlegen. "Nein, mein Herr! Ich denke nicht!" sagte er langsam.
"Sind Sie sicher?"
"Ja, mein Herr!" Der Alte richtete sich auf, straffte die Schultern und schlurfte weiter. "Ich bin sicher, mein Herr!"
"Sind Sie dann so eine Art Hausmeister?"
"Nein, mein Herr! Ich bin der Butler!"
"Der Butler?!"
"Ja, mein Herr!"
"Also, gibt es noch mehr Bewohner!"
"Richtig, mein Herr!"
"Ich hoffe, Sie bekommen keine Schwierigkeiten, weil Sie mich hereingelassen haben!"
"Machen Sie sich darüber keine Gedanken, mein Herr! Der Graf wird sich freuen! Das tut er immer!"
"Heißt das: Er ist da!?"
"Natürlich, mein Herr!"
Inzwischen hatten sie die Tür erreicht. Der Alte stieß sie ganz auf und führte Ulrich in eine runde Halle, die von vier Säulenbogen getragen wurde und große Ähnlichkeit mit einer Kapelle aufwies. Überall sah man rote Vorhänge. Ein Kronleuchter hing von der marmorverkleideten Decke und tauchte die ganze Umgebung in ein helles, strahlendes Licht.
Ulrich verharrte geblendet und schloss für einen Moment die Augen. Als er sie langsam wieder öffnete, vernahm er Stimmen, die sich näherten. Der Alte stand an einer großen aus Holz verkleideten Tür und wartete geduldig auf ihn.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ein glatzköpfiger Greis in einer lächerlichen Phantasieuniform kam hereingestürmt. Eine weißhaarige alte Frau in einem roten Kleid folgte ihm. "Ende der Diskussion, Elvira!" knurrte der Greis wütend.
"Das ist viel zu gefährlich, Karl!"
"Wenn das Vaterland ruft, ist es meine Pflicht zu gehorchen!"
"Aber dabei denkst du gar nicht an mich!"
"Doch, Elvira! Ich denke nur an dich! Aber meine Pflicht gegenüber Deutschland geht vor! Der Führer befiehlt und ich folge ihm! Ich werde die Russen persönlich hinter den Ural jagen!"
"Aber, Karl! Du bist auch nicht mehr der Jüngste! Unser geliebter Führer Adolf Hitler wird das sicher verstehen!"
"Der Führer hat kein Verständnis für Schlappschwänze!" röhrte der Greis, riss die Tür, durch die Ulrich gerade gekommen war, auf und verschwand, gefolgt von der Frau in Rot mit einem lauten "Sieg, Heil!" hindurch.
Der Alte wandte sich ab. Ulrich folgte ihm verwirrt. "Ich bin nicht sicher, das verstanden zu haben!"
"Wie Sie meinen, mein Herr!"
"Ich meine: Der zweite Weltkrieg ist gottlob seit 70 Jahren vorbei!"
"Richtig, mein Herr!"
"Worüber haben die beiden sich dann gestritten?"
Wortlos zuckte der Alte die Schultern und öffnete die Tür vor sich. Er führte Ulrich in ein helles Zimmer. Mit roten Teppichboden und aus Holz vertafelten Wänden. In der Mitte des Raumes stand ein großer Eichentisch, um den drei Leute saßen. Ein Mann, eine Frau und ein Junge. Sie starrten sich stumm an.
Der Alte blieb neben dem Tisch stehen, beugte sich hinab und flüsterte dem Mann etwas ins Ohr. Daraufhin sprang der blonde Hüne kraftvoll auf und schmiss seinen wuchtigen Stuhl um.
Die Frau und der Jugendliche sahen ihn verständnislos an. "Wir haben Besuch!", grölte der blonde Riese und deutete auf Ulrich. "Besuch!" kreischte die Frau hysterisch. Der Junge gab nur ein Grunzen von sich.
Schüchtern kam Ulrich näher. "Guten Abend! Eigentlich wollte ich nur darum bitten, von hier aus den Pannendienst anrufen zu dürfen!"
"Können Sie! Aber zuerst müssen Sie etwas essen!"
"Essen! Essen!" wiederholte die Frau entzückt. Speichel lief aus ihrem Mund und tropfte auf den Tisch.
"Nein! Das ist wirklich nicht nötig!"
"Doch! Ich bestehe darauf!" Der Hüne nahm ein großes Messer vom Tisch und rammte es dem Alten in den Bauch. Blut spritzte auf den Tisch, den Boden und alle Anwesenden.
Ulrich konnte sich nicht bewegen und sah mit stummen Grauen zu, wie der Riese den Bauch des Butlers aufschlitzte. In den Zügen des Alten war weder Überraschung noch Schmerz zu sehen. Das Gesicht war völlig ausdruckslos. So als würde es einem Toten gehören.
Der Hüne packte den Alten und schleuderte ihn auf den Tisch. Als er damit begann, die Leiche auszuweiden, fingen die Frau und der Junge hysterisch an zu lachen. "Kommen Sie!" rief er Ulrich fröhlich zu. "Sie bekommen auch das beste Stück!"
Plötzlich löste sich Ulrichs Erstarrung. Wie der Blitz fuhr er herum und stürmte aus dem Zimmer. Er rannte aus Leibeskräften, rannte als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte und rannte und rannte. Schneller und schneller. Er erreichte die Haustür, riss sie auf und stolperte hindurch. Er rannte. Weiter. Nur Weiter.
Das Haus blieb hinter ihm zurück und wurde von der Nacht verschluckt.


ENDE

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.02.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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