Heinz-Walter Hoetter

Walter Forresters Sehnsucht nach Freiheit

Walter Forrester stand auf dem breiten Geländer einer abseits gelegenen Steinbrücke, die irgendwo tief in den Bergen über eine kleine Schlucht führte. Seine klobigen Wanderschuhe ragten schon ein kleines Stück über den schwindelerregenden Abgrund, der weit unten in einem rauschenden Gebirgsbach endete.

 

Das Wetter war einfach herrlich, und seit den frühen Morgenstunden war Forrester zu Fuß unterwegs gewesen. Eigentlich hätte er völlig außer Atem und am Ende seiner Kräfte sein müssen, aber offenbar war seine körperliche Belastbarkeit wohl besser, als er gedacht hatte. Das überraschte ihn selbst ein wenig, wo er doch nicht mehr der Jüngste war und bald sechzig Jahre alt wurde.

 

Doch jetzt befand er sich weit droben in den Bergen, hier an diesem weit abgelegenen einsamen Ort, den er schon als junger Mann auf seinen vielen Bergwanderungen so oft aufgesucht hatte. Walter Forrester liebte die Abgeschiedenheit und Ruhe dieses wunderbaren Fleckchens Erde, das ihm jedes Mal aufs Neue wie ein Stück aus dem Paradies vorkam.

 

Sein verträumter Blick in die weite Gebirgslandschaft zu seinen Füßen beanspruchte jetzt all seine Sinne. Am fast wolkenlosen Himmel begann sich soeben die Sonne am fernen Horizont zu verabschieden, die mit ihren majestätisch leuchtenden Farben, einer Mischung aus rot und dunkelgelb, den Eindruck machte, als würde sie auf geheimnisvolle Art und Weise im Erdboden verschwinden und nicht wieder daraus auftauchen.

 

Noch nie hatte Walter Forrester so einen wunderschönen Sonnenuntergang erlebt. Weit unter seinen Füßen, etwas weiter rechts von ihm, befand sich ein ausgedehnter türkisfarbener Bergsee, auf dessen Wasseroberfläche jetzt die reflektierenden Farben der Abendsonne sanft wie das bunte Licht eines funkelnden Diamanten schimmerte. Nur Mutter Natur vermag diesen Zauber vollendeter Schönheit hervorzubringen, dachte er.

 

Sein Blick richtete sich die ganze Zeit nur auf dieses fesselnde Schauspiel. Er hielt eine Weile inne, schloss seine Augen und atmete das packende Gefühl der Wahrheit und des Einsseins mit der Natur tief in sich ein. Wie lange hatte er auf dieses Ereignis warten müssen, und jetzt, da es sich endlich ereignete, war es noch schöner und gewaltiger als er es sich je in seinen Träumen hätte vorstellen können.

 

Langsam, fast wie in Zeitlupe, beugte sich Forrester noch ein kleines Stück nach vorne und blickte hinunter in den Abgrund. Die imposanten Felswände zu beiden Seiten der Schlucht waren steil und glatt, ohne jeglichem Vorsprung und sahen aus, wie ein Schnitt durch einen Kuchen.

 

Ohne Mühe konnte er direkt unter sich den wilden Gebirgsbach sehen, der quirlig durch sein zerklüftetes Felsenbett dahinrauschte.

 

Dann, nach einer Weile, sah er wieder auf. Er wusste auf einmal nicht mehr, wie lange er schon hier auf der abgelegenen Steinbrücke stand, denn dieses überwältigende Gefühl von unendlicher Weite und absoluter Freiheit hatte ihm jegliche Zeitvorstellung geraubt. Waren es Sekunden nur, gar Stunden, Tage oder vielleicht sogar Jahre gewesen? Forrester wusste es selbst nicht. Er wusste nur eins, dass das, was er hier im farbenprächtigen Lichte der untergehenden Sonne sah, sein eigenes, wahres selbstgefühltes Leben war, ganz und gar ungetrübt von anderen, meist störenden Einflüssen, die das tagtägliche Leben unter den Menschen so mit sich brachte.

 

Eine Träne der überschäumenden Freude und tiefen Erfüllung rollte auf einmal sanft über seine Wange. Endlich fühlte er sich frei. Er schrie es förmlich aus sich heraus:

 

FREIHEIT!

 

Dann blickte er zum Horizont, wo die Sonne langsam unterging.

 

Walter Forrester hatte eigentlich nie daran geglaubt, dieses erhabene Gefühl fern ab jeden Zwanges jemals zu erlangen, doch jetzt war es da, und er genoss es in jeder Sekunde seines Daseins.

 

In aller Stille kamen die Erinnerungen.

 

Wie viele Jahre seines Lebens hatte man ihn eingesperrt und behandelt wie ein Stück Vieh? Sein Geist und seine Seele litten unmenschliche Qualen. Er musste Dinge tun, die er nie von selbst getan hätte, und die er aus tiefstem Herzen verabscheute. Doch er tat, was man ihm auftrug, jeden Tag immer wieder und immer wieder aufs Neue. Es war die krank machende Ungewissheit und die stetige Angst vor den unüberblickbaren Veränderungen des eigenen Lebens, die ihn dazu trieben, bis er in den Zwängen einer anonymen Masse gefangen war, die alsbald Maßstab für ihn wurde. Doch blieb er stets auf der Suche nach seiner eigenen Identität.

 

Aber die systemkranken, die Freiheit zerstörenden Zivilisationen, mit ihren perfide arbeitenden Organisationen, die sich fein ausgeklügelter subtil brutaler Zwänge bedienten, die jedes menschliche Wesen auf Dauer an Körper, Geist und Seele pervertieren ließen, hielten ihn wie in einem Schraubstock gefangen.


Er wollte diesem schier unausweichlichen Moloch entfliehen, nicht einfach namenlos wie ein Nichts darin untergehen und verschwinden. Das hatte er sich innerlich geschworen. Wie oft wünschte er sich deshalb schon den Tod? Die schnelle Erlösung aus den Qualen eines sich immer mehr abstumpfenden Daseins, das in einem nie endenden Kreislauf aus ungeliebter Pflichterfüllung, Geld, Reichtum, Sex und jeder möglichen Art von Konsum zu versinken drohte, aber weder Erfüllung, Liebe oder Freude in ihm aufkommen ließ.

 

Doch der Gedanke an die Freiheit, die immerwährende Hoffnung und der innere Drang, einmal dieses wundervolle Gefühl der Erfüllung des eigentlichen Seins auskosten zu können, hielten ihn am Leben. Dieses tief in ihm verborgene Gefühl wuchs von Tag zu Tag und verlieh ihm Stärke all die Schmerzen und Zwänge zu ertragen, die man für ihn bereit hielt. Schon immer war ihm danach, diese Ketten zu zersprengen, die ihn ohne Gnade fesselten. Hier an diesem Ort auf der steinernen Brücke wollte er ein für allemal mit den widerlich anmutenden Zwängen abrechnen, die ihn wie bösartige Verfolger unablässig durch sein gesamtes Leben nachstellten, um jedwedes Gefühl von Lebensglück in ihm schon im Keime zu ersticken.

 

Ein Anflug von Zweifel erfasste Forrester. In der Vergangenheit hatten seine Verfolger noch nie verloren und warum sollte es hier und jetzt plötzlich anders sein? Nein, die Chancen standen im Prinzip schlecht für ihn. Doch heute war ihm das alles egal. Nun, wo er so kurz davor stand, die Freiheit für immer gewinnen zu können, wollte er nicht aufgeben und eisern durchhalten.

 

Jetzt stand er hier, ganz ohne Angst. Was zählten da noch die schmerzhaften Erinnerungen an die Vergangenheit? Er fühlte sein Herz wild pochen und wie es nach Leben schrie. Aber das Gefühl von unendlicher Freiheit wuchs in ihm von Sekunde zu Sekunde.

 

Sein Blick hatte sich für einen kleinen Augenblick von der untergehenden Sonne gelöst. Wieder rann ein Träne über sein Gesicht.

 

Er breitete seine Arme aus und ging ganz langsam einen Schritt nach vorne, sodass sein rechter Fuß ins Leere trat, als wollte er eine unsichtbare Treppe hinaufsteigen.

 

Dann bewegte Walter Forrester seine Arme auf und ab, als wären es Schwingen eines engelgleichen Wesens, die so zerbrechlich wirkten, als wären sie aus feinstem Kristallglas.

 

Hinter ihm wurden seine Verfolger in der Ferne sichtbar, die sich schnell näherten. Sie mussten sich ihrer Sache wohl ganz sicher sein, denn der Lärm, den sie verbreiteten, war unerträglich. Doch Forrester hörte sie nicht mehr.

 

Die Meute kam näher und näher, und der Abstand zu ihm war schon auf ein bedrohliches Minimum geschrumpft. Bald hätten ihn die Zwänge wieder. Sie griffen schon nach ihm.

 

Walter Forrester tat entschlossen den letzten Schritt und schwang seine Arme wie im Flügelschlag langsam rauf und runter. Er war bereit dazu, alles hinter sich zu lassen. Er sah die untergehende Sonne, die schönen Berge und den quirlig rauschenden Gebirgsbach unter sich in der tiefen Schlucht nicht mehr, als er langsam nach vorne kippte.

 

Jetzt gab es kein Zurück mehr.

 

Immer weiter fiel er nach vorne, bis er sich von der Steinbrücke ganz gelöst hatte. Sein Körper stürzte in die Schlucht, doch etwas löste sich plötzlich vom fallenden Forrester und flog so sanft und majestätisch wie ein Engel davon.

 

Seine Verfolger kamen zu spät.

 

Endlich grenzenlos frei.

 

Das Ziel seiner Lebensreise war erreicht.

 

FREIHEIT!

 

 

 

(c)Heinz-Walter Hoetter

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.02.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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