12 Rezensionen, aus der Musikzeitschrift "Mucke", aus den Jahren 2012 - 2019
JEDE WOCHE EINE DIESER ARBEITEN, IMMER SONNTAGS
HEUTE TEIL 2 - DIE FALTIGEN PICKEL-ÄRSCHE
Ist das wirklich möglich? Krautrock feiert fröhliche Urständ?! „Die faltigen Pickel-Ärsche“, eine deutsche Band aus Gelsenkirchen-Buer, sorgt für Furore. Ein Unikum unter den Musikgruppen: Seltsam, bizarr, äußerst befremdend und extrem, es ist die Wiederauferstehung des Krautrock. Ein Krautrock-Revival? Mitnichten! Hier scheint diese Musikrichtung völlig neu erfunden zu werden, erfunden worden zu sein...
„Im Zentrum des Krebs-Nebels befindet sich ein Pulsar. Ein Neutronenstern, der alle 30 Sekunden hell aufblitzt, für Milliarden von Jahren. Dies erklärt unsere Existenz ziemlich gut: Supernova, Magnetar, Pulsar, vielleicht sogar eine Hypernova, wir, ja wir sind dies alles und noch so viel mehr“, verkündet, aufgeblasen von fast schon unmenschlich wirkendem Selbstbewusstsein, leicht verklärt und durchgeistigt, der charismatische Frontmann Ziggi Stummel, 57.
„Wir senden Gamma-Blitze aus, wir sind Plasmajets, wir kreieren schwarze Löcher! Wir durchdringen jede Ecke des Universums, das uns bald zu klein zu werden droht. Ja, wir sind die absoluten Champions des Lichts und der vollkommenen Dunkelheit. Eine Million mal heller als eine Supernova und dunkler als jede noch so unheimliche Düsternis, die absolute, kategorische Finsternis! Die alles durchdringende Schwärze eines schwarzen Lochs. Wir sind beides: Licht und Schatten! Wir strahlen heller als jeder Edelstein, wir verschwinden aber auch bisweilen in der Finsternis einer Nacht, die keiner von Euch jemals wird erleben dürfen. Wir sind eine voll gedopte, detonierte Supernova wie WR 104. Eine riesige Energiemenge. Episch!
Wir Band-Mitglieder nennen uns Neutrinos. So heißen auch unsere zahllosen Fans!“
Stummel wurde befragt, welches Vorbild er habe. Die Frage zielte natürlich auf die musikalischen Vorbilder ab. Doch statt Popol Vuh, Amon Düül II, Ash Ra Tempel, Tangerine Dream oder Embryo zu benennen, meinte er nur lakonisch: „Supernova 1987A ist unser Vorbild! Denn exakt dann haben wir uns gegründet, am 24.2.1987, als die Strahlung dieser Ausnahme-Supernova unsere gute alte Erde traf, direkt aus dem Tarantelnebel kommend. Ohne jeden Zweifel eine Sternstunde der deutschen Musikgeschichte! Wir alle sechs werden durch pure kosmische Energie gespeist, die wir aus bekannter, heiliger, hier nicht zu nennender, geheim zu haltender Ur-Quelle regelmäßig erhalten. Diese Quelle wird versiegen, sobald wir den Ursprung verraten. Unsere Lippen sind daher stets versiegelt, was dieses Energie-Zentrum betrifft. Wir sind die Bosse der ur-dunklen Energie, wir sind die Herren aller schwarzen Löcher, wir sind die Chefs aller 1 A- Supernovae! Wenn du unsere Musik hörst, wirst du ein Teil dieses unseres Universums!“
Ist Stummel nun ein extrem selbstverliebter Spinner, ein Narzisst, Sternen-Staub- Phantast oder schlicht ein irrer Aufschneider und Hochstapler? So, wie unser aller Schicksal in der Asche sterbender Sterne liegt, so sehr wie der Punkt, da sich die Schöpfung und die totale Zerstörung treffen, so unfassbar eitel und selbstbezogen ist der Mensch. Und Ziggi Stummel ist der Prototyp eines Ruhm saugenden, hypermega Aufmerksamkeit heischenden, multigestörten, Applaus süchtigen, mental instabilen „Fame Sucker“. Ein genialer Egomane. Stummel spielt 9 Instrumente, spricht sieben Sprachen. Er ist ohne jeden Zweifel ein hervorragender Musiker.
Das gewagte, opulente Werk (Design, Artwork und alle extravaganten Zeichnungen sind von Ziggi himself!) wurde benannt: Chronos & Kairos (Ablauf der Zeit / günstiger Zeitpunkt, entscheidender Augenblick). Der Fluss der Zeit steht dem so besonderen, flüchtigen Momentum gegenüber. Kairos ist etwas Besonderes, Seltenes, geprägt von eminenter Tragweite. Chronos: Der lange Zeitabschnitt, Kairos: Der exakt rechte Zeitpunkt! Hier ist es der 24. Februar 2019.
Und exakt zu DIESEM Zeitpunkt, dem Kairos-Moment, kam dieses Album auf den Markt, mit 12 Titeln, und einem hidden track: „Chronos & Kairos“ (Instrumental, 17 Minuten lang, exakt der Entfernung zur SN 1987A bemessen, 170.000 Lichtjahre!).
Hier sind die 12 Tracks:
1) Ein stringenter Suspektiker
2) Feloniously and vicious
3) Miser sot aun narish bokher
4) Hypernova (12:21 lang!)
5) Sof tov, hakol tov
6) Chigiy Tubbs née Honeystone
7) Der Tanz der Neutrinos (das wohl beste Stück des Albums)
8) Mach a soff!
9) Fino alla fine
10) Tater tots today!
11) Koksen mit Lexy Roxx (verstörend!)
12) Plurimum mali credulitas facit (Vertrauen ist ein sehr schlechtes Geschäft!)
Ziggi Stummel ist mosaischen Glaubens und nicht unerheblich stolz darauf. Er will die mystische Tradition des Judentums völlig durchdringen, studiert daher Kabbala und Talmud, möchte in die Seele des Judentums tief eindringen, das „Unendliche Licht“ im Kosmos erreichen (Allegorie für Gott). Stummel spricht perfekt jiddisch, hat dies auch in seine Texte einfließen lassen, fernab vom Klezmer (Titel 3, 5 und 8). Am Schabbat, sollte an einem Samstag ein Gig der Gruppe stattfinden, tritt Ziggi Tzvi A. Stummel mit Kippa (Jarmulke), mitunter sogar mit Schtreimel auf. Diese Eigenart wurde zu seinem Markenzeichen!
Die Konzerte der faltigen Pickel-Ärsche (Der Band-Name ist gewöhnungsbedürftig, aber im Drogenrausch hatte man sich 1987, zunächst rein aus „Jux und Dollerei“ heraus, so benannt, später beließ man es dabei, weil erste Erfolge, rund um 1989, mit dem Album „Die Zäsur“, pünktlich zum 9.11.89, zur Öffnung der Berliner Mauer, aufkamen, eben unter diesem Namen zu verzeichnen waren) sind rar, aber wenn es denn dann wirklich passiert, spricht man noch monatelang von diesen Ereignissen...
Mehr als 3 Stunden lang, mit all der für den Krautrock üblichen Extravaganz wie z.B. überlangen Titeln, Variationen der Original-Titel, Endlos-Soli und Improvisationen. Die Neutrinos feiern mit ihren Neutrinos ein Fest. Man munkelt, es würden in nur 1 Konzert gute 20 Gramm Cannabis-Produkte „verbaut“, in fetten Tüten.
Rituale gehören natürlich mit dazu, wenn eine Gruppe schon so lange besteht. Seit 1989, also nur zwei Jahre nach der Gründung, hat die Catchphrase aus dem Album Zäsur Einzug in die Live Gigs gehalten: Die Fans skandierten zur Begrüßung ihrer Helden „Baya Baya Honkelkesch!“ Ähnlich wie einst bei den Ramones, die Gabba Gabby Hey ins Publikum riefen (catchphrase aus „Pinhead“), worauf es dann sofort mit Gabba Gabby Hey antwortete. Das Ende eines Gigs der faltigen Pickel-Ärsche: Eine Art Raumschiff entschwebt, mit sanftem Brummen, nach links oben von der Bühne. Hierbei stehen die Musiker still und sehen dem UFO gebannt nach, wobei dieser Ruf ertönt: „Baya Honkelkesch - Adieu!“, laut unterstützt vom Publikum. Dieser Augenblick ist sehr ergreifend. Während des LIVE Acts ist das Raumschiff zu sehen, aber es ist teilweise verhüllt. Erst nach und nach wird es vollständig sichtbar. So kann der Fan auch, in etwa, absehen, wie lange das Konzert noch dauert. Wenn das Baya Honkelkesch - Adieu! ertönt, ist das eine kraftvolle, mächtige Emotions-Welle, die in diesem Augenblick das Publikum erfasst. Man muss das erlebt haben, Beschreibung unmöglich! Nicht wenige Neutrinos weinen dabei. Nicht nur, weil das Konzert vorbei ist, sondern auch, weil es solch hehre Momente im Leben einfach nicht sehr oft gibt. Das muss man erleben, das muss man mitnehmen... Pures Gänsehaut-Erlebnis, mit Nachbeben!
Was nun genau Baya Baya Honkelkesch bedeutet, Ziggi Stummel hat sich darüber nie ausgelassen, liegt im Bereich des nebulösen Mysteriums rund um diese Gruppe. Manche behaupten, es sei eine „Sternensprache“, die nur von den „Kosmosianern“ in aller Welt, von den Wissenden, verstanden werden könne. Nun, wir von „Mucke“ sind nicht in der Lage „kosmosisch“ zu sprechen oder zu verstehen, wir sind allerdings tief beeindruckt von der Wucht der Präsenz und der Mystifizierung rund um diese Gruppe aus Gelsenkirchen. Es wurden Bücher geschrieben (Cleophus Twiller: Honkelkesch!) und es gibt mehrere Konzert-Mitschnitte, in einem Spielfilm wirkt auch Stummel mit, es ist der seinerzeit positiv aufgenommene Experimental-Streifen „Tosch“ (2002). Es gibt einen ziemlichen Hype, der aber irgendwie stets intern ausgelebt wird. Neutrinos intern. Ähnlich wie bei den Juggalos. Außerhalb der Bewegung weiß kaum einer, was das überhaupt bedeutet, ein Juggalo zu sein.
Seit der EP „Nootropics“ (2016) war es etwas still um die Gruppe geworden. Bislang hatte man abstrusen Experimental-Rock mit allerlei elektronischen Spielereien auf die Bühne und ins Studio gebracht. Jetzt die Kehrtwende. Die Besinnung auf DAS WESENTLICHE, die Ur-Substanz, die Wurzeln der Band. Krautrock! Kraftvoll und exakt auf den Punkt gebracht. Erstaunlich und überraschend neu. Ein wenig NEU! und auch etwas CAN, sehr viel FAUST, aber im eigentlichen Sinne doch durch und durch Die faltigen Pickel-Ärsche. Mittlerweile, so Ziggi Tzvi, sei der Name auch auf alle Mitglieder der Band (Neutrinos) zutreffend. Stummel ist Jahrgang 1963.Dieses Album ist mit so viel Liebe und tiefer innerer Freude/Überzeugung erarbeitet und produziert worden, dass wir ihm eine glatte 9 geben. Imposant die Spielfreude, sehr schön: Texte und Arrangements (Streicher/Bläser/Schlaginstrumente aller Art), und immanent erfreulich: Die Tontechnik! Cover Art Work (Stummel): gigantisch! Musik: Extraterrestrisch, extraordinär, exponentiell anwachsend, einfach genial. Alle 12 Titel sind von Ziggi Stummel, und vor allem „Der Tanz der Neutrinos“ hat uns alle von der Redaktion voll überzeugt. Selbst Karen, die Krautrock rein gar nicht mag.
Hut ab vor Stummel und seinen 5 Neutrinos. Mögen sie alle noch lange galaktische Reisen unternehmen, sich im Sternenstaub wälzen und dem hehren Tanz der Sterne zuschauen dürfen. Wir wollen Euch niemals als „Weißen Zwerg“ erleben, Neutrinos!
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2019.
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