Helmut Wurm

Sokrates und der Wahlmüde

Sokrates steht am Rande einer Wahlveranstaltung. Die Kandidaten der betreffenden Partei preisen ihre neuen oder erweiterten oder geänderten oder umformulierten Programme an. Man wolle sich besser darstellen, von anderen Parteien abgrenzen, das Profil schärfen…

Denn zum Jahresanfang beginnen überall in der Welt Wahlen der verschiedenster Art oder langfristige Wahlvorbereitungen für Wahlen im Jahresverlauf... Sokrates kennt das schon aus seiner Zeit in Athen. Es war damals zu jedem Jahresbeginn das Gleiche und mit dem gleichen Erfolg, dass schon damals immer mehr Athener immer weniger Interesse an Ihrer Demokratie hatten.

Neben Sokrates steht ein Mann, der ständig nur missmutig vor sich hinredet.

Der missmutige Zuhörer: Ich habe dieses Wählen leid, diese Wahlvorbereitungen, diese Wähleranalysen, diese neuen oder geänderten Programme, dieses entwürdigte Gerangel der Kandidaten, diese Schauspielereien und Versprechens-Gespinste… Ich habe das alles leid. Ich werde einfach nicht mehr wählen oder diesmal radikale Parteien wählen, die unserem Staat eine etwas andere und hoffentlich stabilere Struktur geben wollen….

Sokrates: (versteht den Missmutigen gut, denn solche Demokratie-Enttäuschung gab es ja schon zu seiner Zeit; aber er will den Mann etwas testen): Was hast du denn gegen die Demokratie? Sie ist doch die beste Staatsform? Sie ist in Athen entstanden. Natürlich hatte man damals ideale Vorstellungen von Demokratie, die so nicht ganz in Erfüllung gegangen sind.

Der missmutige Zuhörer: Diese unruhige demokratische Vielfalt habe ich leid… Und sie ist nicht nur mir leid, sie ist heutzutage vielen Menschen auf der Welt leid und war früher vielen Menschen auch schon bald leid… Napoleon, Mussolini, Hitler und Franco kamen an die Macht, weil die Mehrzahl der Menschen diese demokratische Vielfalt nicht wollten oder nicht mehr wollten. Und in der Gegenwart haben deswegen z.B. die Türken Erdogan an die Macht kommen lassen, die Russen Putin, die USA Trump, die Ungarn … Dieser politisch-demokratische Wirrwarr, diese Weimarer-Republik-Zustände sind nicht erstrebenswert…

Sokrates: Die Demokratie-Gutmenschen seit der griechischen Antike locken damit, dass die verschiedenen politischen Gruppierungen ruhig und klar ihre Ziele vorstellen und dann die Bürger ruhig die ihnen zusagenden Ziele wählen können…

Der missmutige Zuhörer: Welch ein Unterschied zur heutigen Realität!... Jede politische Gruppierung modifiziert und entwirft ständig andere Programme, nur mit dem Ziel, die anderen Gruppierungen zu behindern und selbst mehr Einfluss und Macht zu bekommen. Das ist wie bei konkurrierenden Supermärkten… Die Parteien engagieren sich Psychologen, Werbestrategen, Soziologen und Ökonomen und lassen sich Hinweise geben, welche Ziele, welche Versprechungen, welche Formulierungen und welche Verhaltensformen der Politiker am besten „ankommen“ und wie man die „Masse Mensch“ der Wähler am besten gewinnen kann. Noch schlimmer, Parteien und Politiker lassen sich im Hintergrund von den Lobbys beeinflussen oder sogar steuern… Wahlen sind keine Entscheidungswahlen, Wahlen sind heute Werbeveranstaltungen mit allen bekannten Methoden und „Tricks“… Ich habe dieses politische Werbetheater leid. Ich werde einfach nicht mehr wählen oder diesmal radikale Parteien wählen, die unserem Staat eine stabilere Struktur geben wollen….

Sokrates: Aber die Demokratie-Gutmenschen locken seit der griechischen Antike damit, dass die um das Gemeinwohl am besorgtesten Bürger sich politisch engagieren würden… Ist das denn nicht so?

Der missmutige Zuhörer: Welch ein Unterschied zur heutigen Realität!... Psychologen, Anthropologen und Soziologen haben schon längst erkannt, dass viele Politiker ähnliche Persönlichkeitsstrukturen wie Models oder Schauspieler haben, nämlich sich vor der Masse zu produzieren und Applaus zu sammeln… Die denken doch nur daran, wie sie am besten bei der Wählermasse „ankommen“. Politiker wie Theodor Heuss, Helmut Schmidt, Walter Scheel, Heiner Geisler, Richard von Weizäcker gibt es leider immer weniger. Denen konnte man mit gutem Gewissen das Allgemeinwohl anvertrauen… Ich jedenfalls habe diese Polit-Schauspieler und Massengunst-Bewerber leid. Ich werde einfach nicht mehr wählen oder diesmal radikale Parteien wählen, die unserem Staat eine stabilere Struktur geben wollen….

Sokrates: Aber besonders positiv ist doch, dass die Demokratie-Gutmenschen seit der griechischen Antike damit locken, dass die Vielfalt der politischen und ökonomischen Kräfte und Bestrebungen eine Gesellschaft am besten mit Gütern versorgt, eine Gesellschaft sich am vielfältigsten und gerechtesten entfalten lässt und der Jugend die besten Entwicklungs-chancen geboten werden…

Der missmutige Zuhörer: Wieder welch ein Unterschied zur heutigen Realität!... Wir sollen nur noch kaufen, kaufen, kaufen… Die Qualität der Güter wird immer kurzlebiger und schlechter, damit wir immer wieder neu kaufen müssen… Die Reichen werden immer reicher und die Armen werden mit einer Grundrente abgespeist… Die Sucht nach Vielfalt und dauernd neuem Lebensspaß zerstört Heimatgefühl, Familiendenken, gesellschaftliche Bindungen und Traditionen… Und die Jugend verliert durch die Überflutung und Gaukeleien der modernen globalen Medien- und Kommunikation den Realitätssinn, die Fähigkeiten zu Einfachheit, Sich-Bescheiden-Können, zäher Vorsorge und Sich-Mühen-Müssen. Die Jugend wird nur negativ geprägt… Ich habe diese Reduktion des Lebens auf Spaß, Konsumieren, Vielfalt genießen leid. Ich werde einfach nicht mehr wählen oder diesmal radikale Parteien wählen, die unserem Staat eine stabilere Struktur geben wollen….

Sokrates: Einerseits kann ich dich verstehen, aber andererseits halt!... Hitler wurde ja gewählt, weil man die Weimarer Demokratie-Zerfledderung nicht mehr wollte. Und dann kam es noch unangenehmer als vorher… Wenn wieder so ein neuer radikaler starker und gleichzeitig ungeeigneter Politiker käme, den man nicht mehr los würde?

Der missmutige Zuhörer (nachdenklich geworden): Ich glaube, ich werde diesmal doch noch einmal wählen - aber nur noch einmal, Denn ich habe diese Werbe-Wahlen, diese Sich-produzieren-Politiker, diese plastischen Polit-Programme und diesen entfesselten Konsum- und Medienrausch satt.

Damit geht der missmutige Zuhörer nachdenklich weiter. Sokrates schaut ihm nach und denkt:

Sokrates: In der Geschichte wiederholt sich alles in den Grundzügen. Derzeit ist gerade die Marktwirtschaft und die Demokratie dabei, sich selbst „gegen die Wand“ zu fahren… Die Sehnsucht nach einem starken Politiker oder einer Politikerin wird in Deutschland und Europa weiter zunehmen, so wie bei den alten Römern zur Zeit des Cicero. Und ein solcher starke Mann/starke Frau wird nach meiner Einschätzung kommen. Aber hoffentlich wird es noch eine Weile dauern.

(Aufgeschrieben vom discipulus Sokratis, der auch bei dieser Wahlveranstaltung dabei war;

März 2019)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.03.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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