Claudia Savelsberg

Die Invasion der gefährlichen Rocker

Es war ein Skandal. So etwas hatte es Jahrzehnte nicht mehr gegeben in dem verschlafenen 1000-Seelen-Dorf, das stolz darauf war, von irgendeiner Kommission, von der man nicht genau wusste, was sie eigentlich zu entscheiden hatte, zum „Dorf mit Zukunft“ ernannt worden zu sein. Das Dorf hatte einen gepflegten Sportplatz, einen gepflegten Tennisplatz und ein gepflegtes Freibad, das gerade erst renoviert worden war. Es war einfach alles so adrett und ordentlich in der kleinen Gemeinde. Und jetzt dieser Skandal, der die Grundfesten der Bürger und Bürgerinnen bis ins Mark erschütterte.

Ein Motorrad-Sport-Club („MSC“) aus der nahegelegenen Großstadt baute ein leerstehendes Haus, das in grauen Vorzeiten einen „Tante-Emma-Laden“ beherbergt hatte, zum Clubhaus um. Unerhört, einfach ein Skandal. Gesprächsthema Nummer 1 im örtlichen Supermarkt, wo es neben Lebensmitteln und Getränken gratis den neuesten Klatsch gab.

Frau Schulz empörte sich: „Wir wollen keine Rocker hier. Man weiß ja, wie die sind. Wir haben ja alle Familie.“ Frau Wagner hatte es eilig, denn ihr Mann wartete auf sein Mittagessen, das er täglich um 12 Uhr zu sich nahm. Aber die Zeit reichte noch, um Frau Schulz beizupflichten: „Heutzutage muss man vorsichtig sein. Die sind gefährlich.“ Frau Jansen sagte mit Nachdruck: „Wir müssen uns wehren. Wie wäre es mit einer Unterschriftensammlung?“

Der Mann von Frau Schulz riet dazu, erst einmal mit dem Bürgermeister zu sprechen. Also machte sich eine kleine Schar aufrechter Bürger auf den Weg in seine Sprechstunde. Der Bürgermeister hatte allerdings höchstselbst dem „MSC“ die Genehmigung für die Umgestaltung zum Clubhaus erteilt, was ihn bei den nächsten Wahlen sicher ein paar Stimmen kosten würde. Die Sache war somit entschieden, das friedliche Dorf rechnete mit einer Invasion von gefährlichen Rockern. Dieser fürchterliche Gedanke bescherte einigen Bürgern und Bürgerinnen schlaflose Nächte.

Verena war vor zwei Jahren aus der Großstadt ins Dorf gezogen. Sie war eine sympathische Erscheinung, wenn sie die täglichen Runden mit ihrem kleinen Hund drehte, grüßte sie die Nachbarn freundlich, blieb bisweilen an einem Gartenzaun stehen, um einen kleinen Plausch zu halten. Natürlich hatte man ihr fürsorglich zugetragen, dass dieser „MSC“ ein Clubhaus baute. Sie zuckte die Achseln, weil sie die ganze Aufregung nicht verstand. Die Nachbarn verziehen ihr gnädig. Verena stammte ja aus der Großstadt, wie sollte sie sich mit den Nöten der dörflichen Bevölkerung auskennen.

Im Supermarkt traf Verena drei Nachbarinnen, die sich vor dem Kühlregal mit Wurstwaren aufgeregt unterhielten. Es ging natürlich um das Clubhaus, und Verena wurde gleich mit den neuesten Erkenntnissen konfrontiert, obwohl sie nur schnell ihre Einkäufe erledigen wollte. Frau Schulz meinte vielsagend: „Man hört ja so viel über diese … äh … Rocker ….“ Frau Wagner sagte mit Betonung: „Die sind doch alle kriminell, das weiß man ja ….“ Frau Jansen senkte vorsichtshalber die Stimme: „Ich will ja nichts sagen, aber die haben doch alle mit Waffen und Drogen zu tun.“ Verena schwieg dazu, aber die drei Damen waren sich einig, dass man es wirklich mit gefährlichen Rockern zu tun hatte. Daran bestand kein Zweifel.

Nachmittags begegnete Verena ihrer Nachbarin Getrud, einer netten älteren Dame, mit der sie oft und gerne plauderte. Gertrud war ein mütterlicher Typ, besorgt sagte sie zu Verena: „Jetzt kannst du abends nicht mehr mit deinem Hund da vorbeigehen, wenn das Clubhaus fertig ist. Wer weiß, was da alles passieren kann.“ Verena lächelte: „Gertrud, was soll passsieren? Diese Motorrad-Clubs haben einen Ehrenkodex. Sie vergreifen sich nie an Schwächeren. Im Gegenteil. Wenn ich stolpern würde und auf der Nase läge, würden die mir sofort helfen.“ Gertrud schaute zweifelnd, manchmal war Verena schon etwas eigenartig.

Die Biker auf ihren Harleys wurden aus Vorgärten und hinter geschlossenen Gardinen kritisch beäugt. Wie die schon aussahen in ihrer schwarzen Lederkluft. Es wurde gemunkelt, dass sie heute im Clubhaus feierten. Man erwartete laute Musik, Schlägereien und irgendwelche Orgien, obwohl im Dorf wohl niemand so recht wußte, was eine Orgie ist. Seltsamerweise geschah nichts. Es blieb ruhig. Es gab noch nicht einmal einen Polizei-Einsatz. Merkwürdig, oder?

Wieder einmal ging Verena mit ihrem kleinen Hund am Clubhaus vorbei. Die Front zierte ein großer Totenkopf mit dem Motto „Death before dishonor“, im Eingang hing ein Schild mit der Aufschrift „Achtung! Militärische Sperrzone. Zutritt strengstens verboten.“ Vor dem Haus werkelte ein junger Mann, der einen Grill aufstellte und Bierkästen schleppte. Er war groß, ein richtiger Hüne, trug eine schwarze Lederhose mit Fransen an den Seitennähten, dazu ein schwarzes T-Shirt mit aufgedrucktem Totenkopf. Sein beachtlicher Bizeps war tätowiert, Piercings zierten Ohren und Augenbrauen.

Verena war klein und zierlich, trug ihre blonden Haare im Nacken zu einem Pferdeschwanz gebunden, was ihr ein mädchenhaftes Aussehen verlieh. Der Hüne drehte sich um und sprach sie an: „Hallo, Püppi. Hast 'nen hübschen Hund. Ich hatte auch mal einen.“ Sie gerieten ins Plaudern, und schließlich zeigte der Hüne ihr sichtlich stolz das Clubhaus. Verena durfte sogar einen Blick ins „Allerheiligste“ werfen, den Raum, in dem sich die ranghöchsten Mitglieder des „MSC“ zu Besprechungen trafen. Verena sagte wenig, ließ allerdings bei passender Gelegenheit den Begriff „Ehrenkodex“ fallen. Der Hüne strahlte sie geradezu verliebt an.

Vor dem Haus stand mittlerweile ein anderes Clubmitglied, offensichtlich ein Alpha-Tier des „MSC“. Er schnappte sich eine Flasche Bier, ließ den Bügelverschluß ploppen und schaute Verena amüsiert an: „Meinste, dein Hund passt auf den Grill?“ Sie baute sich vor ihm auf: „Du, sach mal. Ihr habt doch immer so'n Motto, oder?“ Zustimmendes Nicken. „Ich hab auch eins: Keine Angst vor dem Hund, aber vor dem Frauchen!“ Das Alpha-Tier grinste anerkennd, der Hüne lachte: „Püppi, wenne nochmal kommst, kriegste 'ne Grillwurst. Dein Hund auch.“

Verena wußte, dass die Nachbarn diese Szene aus den Vorgärten oder hinter den Gardinen beobachtet hatten. Sie spürte die Blicke geradezu in ihrem Rücken. Was dachten die jetzt wohl? Sie machte sich auf den Heimweg und grinste, sie hatte es ganz allein mit zwei gefährlichen Rockern aufgenommen. Das würde sich im Dorf sicher schnell rumsprechen. Ein neues Thema für die Damen Schulz, Wagner und Jansen. Verenas Grinsen wurde breiter.

Einige Zeit später wurde das Clubhaus offiziell eingeweiht, ab dem späten Nachmittag fuhren immer mehr Biker auf ihren Harleys durch das beschauliche Dorf. Alle Mitgleider des „MSC“ und Delegationen anderer Clubs. Hinter geschlossenen Gardinen mit Argwohn beäugt. Vermutlich lagen die Smartphones schon griffbereit, damit man im Fall der Fälle schnell die 110 wählen konnte. Abends wollte Verena mit ihrem kleinen Hund die letzte Runde drehen, dazu musste sie über die Straße, aber zwischen den Motorrädern fand sie einfach keine Lücke. Plötzlich stand der Hüne neben ihr: „Püppi, willste mit dein Hund rüber? Augenblick.“ Breitbeinig, mit ausgestreckten Armen, stellte er sich auf die Fahrbahn und hielt den Verkehr an: „Püppi, jetzt kannste, brauchst aber nich rennen.“ Verena lächelte, dann überquert sie mit hoch erhobenem Haupt und grazilen Schritten die Straße. Hoffentlich hatten die Nachbarn diese Szene beobachtet.
Das waren also die gefährlichen Rocker. Liebenswerte Kerle, hilfsbereite Männer, nahezu Kavaliere in schwarzer Lederkluft.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.03.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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