Claudia Savelsberg

Der kleine Schwan

Mit majestätischer Ruhe drehte der kleine Schwan seine Runden über den See. Er war traurig und dachte über sein Leben nach. Was hatte er erreicht? Was war der Sinn seines Lebens? Die Menschen bewunderten ihn und schauten ihm gebannt zu, wenn er über den See schwamm. Sie waren fasziniert von seiner Schönheit, dem weißen Gefieder und dem langen eleganten Hals. Der kleine Schwan wusste, dass die Menschen in Schwänen ein Symbol für „Schönheit, Reinheit und Anmut“ sehen. So hatte es ihm seine Mutter erklärt. Es gab eine berühmte Oper, in der ein Schwan den Gralsritter Lohengrin in einem Nachen auf die Erde geleitete. Die Musik war wunderschön, und die Menschen waren ganz begeistert. In einem berühmten Ballett gab es eine Schwanenkönigin, ein überirdisch schönes Wesen, das eine verzauberte Prinzessin war. Die Menschen liebten dieses Ballett sehr. Auch das hatte ihm seine Mutter erzählt.

Der kleine Schwan plusterte sein Gefieder in männlichem Stolz auf, dadurch wirkte er imposanter. „Ich will aber nicht nur schön sein“, dachte er, „ich möchte lieber ein Held sein.“ Er wusste allerdings noch nicht, wie er das anstellen sollte. Davon hatte ihm seine Mutter nichts erzählt.

Eines Tages, als er seine Runden auf dem See drehte, sah er am Ufer eine Mutter mit ihrer Tochter. Er schwamm etwas näher heran. Die Kleine trug ein hellblaues Kleidchen und einen Strohhut. Mit einer roten Schaufel buddelte sie im Sand, den sie voller Vergnügen ins Wasser schippte. Als sie den kleinen Schwan sah, lief sie aufgeregt zu ihrer Mutter, die auf einem Strandtuch lag und sich sonnte: „Mama, guck mal. Ein Schwan, ein schöner Schwan.“ Der kleine Schwan seufzte: „Ich bin immer nur schön, das ist langweilig. Ich möchte mal ein Held sein.“

Der kleine Schwan schwamm jetzt öfter zu dem Ufer, weil ihn der Anblick des spielenden Mädchens mit Freude erfüllte, ein friedliches Bild. Die Kleine gewöhnte sich an ihn und wartete auf sein Erscheinen. Wenn er nah genug war, dann sprach sie mit ihm: „Willst du nicht mit mir nachhause kommen? Du kannst in unserem Gartenteich schwimmen. Du bist wirklich schön. Am liebsten würde ich dich streicheln.“ Der kleine Schwan hatte sich noch nie von einem Menschen anfassen lassen, also wusste er mit diesem „Streicheln“ kein Gefühl zu verbinden. Aber es musste es wohl etwas Angenehmes sein.

Eines Tages bemerkte der kleine Schwan einen Mann, der auf seinem Strandstuhl saß und das Mädchen intensiv anschaute. Der kleine Schwan plusterte sein Gefieder auf, um imposanter zu wirken, sein Instinkt sagte ihm, dass von diesem Mann eine Gefahr ausging. So patrouillierte er schwimmend am Ufer auf und ab, bis die Mutter und das Mädchen den Strand verlassen hatten. Der Mann kam jetzt öfter und starrte das Kind immer wieder an. Der kleine Schwan blieb in der Nähe des Mädchens und ließ es nicht aus den Augen.

Wieder einmal schwamm der kleine Schwan zum Ufer, er spürte plötzlich eine innere Unruhe. Als er nah genug war, hörte er, dass die Mutter den Mann fragte, ob er ein paar Minuten auf ihre Tochter aufpassen könnte, sie müsste schnell etwas aus ihrem Auto holen. Der Mann setzte sich neben das Mädchen, streichelte ihren Rücken und ihre nackten Arme, dann drückte er sie fest an sich. Das Mädchen wehrte sich und schrie.

Der kleine Schwan breitete seine Schwingen aus, reckte sich mit einer Drohgebärde in die Höhe und lief auf den Mann und das Mädchen zu. Dabei schlug er wild mit den Flügeln und fauchte angriffslustig. Seine Mutter hatte ihm beigebracht, wie man Feinde abwehrt. Der völlig überraschte Mann fluchte laut, ließ das Kind los und verschwand.

Das Mädchen schaute den kleinen Schwan glücklich an, schmiegte sich an ihn und schlang ihre Arme um seinen schlanken Hals. Er bedeckte sie mit seinen Schwingen und umfasste sie ganz zart. Das Mädchen lächelte ihn liebevoll an: „Du hast mich gerettet. Du bist ein Held. Ein richtiger Held.“ Dann streichelte sie liebevoll über sein Gefieder, und der kleine Schwan verspürte ein angenehmes Gefühl. Nach einer Weile nahmen sie Abschied voneinander, sie würden sich nie mehr wiedersehen. Der kleine Schwan entschwand mit majestätischer Ruhe auf dem See in Richtung Horizont. Stolz plusterte er sein Gefieder auf: Endlich war er ein Held! Das Mädchen vergaß den kleinen Schwan nie: Er war ein Held, ein schöner Held!

 

 

 

 

 

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