Ines Wertenbroch

Auseinandergelaufen


Solange, wie wir zusammen waren, bezahlten wir getrennt. Doch heute lud er mich ein. Er wünschte sich, dass wir den Kontakt aufrecht halten sollten. Zwar wäre jetzt etwas zuende, doch dafür sollte etwas Neues, eine Freundschaft beginnen. Er wäre erleichtert, dass ich es so gut aufgenommen hätte und das Problem auch so sähe wie er. Ich war auch erleichtert, aber von etwas, dass ich lieber behalten wollte.
Bevor wir das kleine Eiscafé verließen, fragte er mich noch, was wir den anderen erzählen sollten, wer nun Schluss gemacht hätte. Ich schaute ihn an. Es dauerte eine Weile bis ich die Frage verstanden hatte. Dann betonte ich, dass wir Schluss gemacht hätten. Dazu gehörten schließlich immer zwei, fügte ich in Gedanken hinzu.

Zum ersten Mal gingen wir getrennt zu unseren Wohnungen. Er nahm einen Umweg und nicht das Stück Weg, das wir gewöhnlich zusammen gegangen waren.
Als ich an der Straße vorbeikam, die zu seinem Haus führte, hielt ich inne. Ich schaute auf die gegenüberstehenden Häuserreihen, zwischen denen sich eine Gasse schlängelte. Es schien, als endete sie bei der Kirche. Auf den Asphalt fiel Sonnenlicht. Ansätze von hellgrünen Blättern waren schon an den sonst kahlen Zweigen der Bäume zu erkennen. Graue Tauben liefen neben den Füßen der Menschen oder vor ihnen her. Einige der Passanten trugen ihre Mäntel an diesem Tag bereits offen. Ein Mann und eine Frau hielten sich bei den Händen.
So schnell wie möglich ging ich weiter. Ich atmete tief ein. Die kühle Luft zog sich durch meinen ganzen Körper und löste die Anspannung der aufsteigenden Tränen.
Ich blieb auf der kleinen Brücke stehen, unter der ein kleiner Fluss vom Wind angetrieben strömte. Das Wasser war trüb und sah kalt aus. Die Ufer waren erdig und fast unbewachsen. Im Sommer war hier alles grün gewesen. Auf dem Weg zu mir sind wir manchmal stehen geblieben und haben den vorbeifahrenden Booten zugesehen. Allein habe ich hier vorher noch nie gestanden.
Im Seitenblick sah ich, dass ein Mann in einem geöffneten schwarzen Mantel auf mich zu-kam. Als ich den Kopf zu ihm wand, schaute er mir ins Gesicht. Ich bemühte mich nicht um ein Lächeln. Ich sah ihm nicht in die Augen, denn ich glaubte, dass er mich prüfend betrachtete.

Meine Glieder waren schwer und in sich zusammengesunken. Meine Schritte langsam. Ich scheute mich davor, nach Hause zu gehen. Bevor ich meine Wohnung verlassen hatte, konnte ich noch nicht ahnen, dass ich so zurückkehren würde.
Mit ihm befreundet zu sein, würde wie die Endlosschleife einer Sterbeszene sein, bei der die Beteiligten lächelten.

Aus der Ferne sah ich schon das Schild meiner Straße. Es schien alles wie immer zu sein. Doch wie sehr wird einem die Scheinheiligkeit der Ruhe bewusst, wenn sich das eigene Leben veränderte.
Beim Aufschließen meiner Tür betrachtete ich den Schlüssel, der ins Schloss glitt. Alles pass-te und alles brauchte ein Gegenstück, um seine Aufgabe zu erfüllen.

Im Wohnzimmer schaltete ich das Radio ein. Ich erkannte das Lied sofort und fürchtete um die nächste Zeile des Refrains: „We can’t go on together...“. Nur Stille wäre in diesem Moment noch unerträglicher gewesen.

Ich setzte mich auf das Sofa und starrte durch das Fenster. Meine Wohnung kam mir fremd vor. Und gleichzeitig war mir die Atmosphäre so bekannt. Auch wenn es nicht mehr wie vorher war.
Ich stand wieder auf, ging durch den Flur und ins Badezimmer. Vor dem Spiegel blieb ich stehen. Meine Augen waren rot und schimmerten. Umso länger ich sie betrachtete, desto kleiner wurden sie. Ich schaute mir beim Weinen zu. Ich wünschte mir, der Spiegel wäre er.
Ich hätte nicht sagen können, warum ich weinte. War es für ihn oder war es das Selbstmitleid beim Gedanken an die Einsamkeit?
Ich sackte nach unten und nur die Anstrengung des Weinens hielt mich ein wenig aufrecht.

Irgendwann klingelte das Telefon. Ich hielt inne. Der Anrufbeantworter war eingeschaltet. Ich nahm meine Stimme wahr. Nach dem Piepton war eine Weile Stille. Dann hörte ich ihn sprechen: „Ich wollte eigentlich nichts sagen. Ich wollte nur deine Stimme hören.“


(7./8. Juni 2003)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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