Heinz-Walter Hoetter

Die Frau in Weiß

Sind wir allein im Universum? Allein in Raum und Zeit? Allein in der Ewigkeit? Bis heute sind diese Fragen die interessantesten überhaupt, die es in der Astrophysik gibt. Doch eine schlüssige Antwort haben wir bis heute nicht gefunden. Wir Menschen können nur spekulieren. Kann im Universum noch anderes Leben entstanden sein und hat es sich bis zur Intelligenz entwickelt? Ist Bewusstsein und Intelligenz an ein Gehirn, wie das unsrige, gebunden oder kann beides auch außerhalb eines Gehirns existieren? Ich denke..., ja.



***

 

 

Die Amper nahe Fürstenfeldbruck bei Einbruch der Dunkelheit: aufsteigender Nebel; aus dem flachen steinigen Flussbett murmeln die vielen Stimmen des dahin plätschernden Wassers.

 

Ich war auf einem Spaziergang und hatte es gut bis zu einem abgelegenen Stück in den Amperauen bei Schöngeising geschafft. Gerade warf ich einen Blick über das vorbeifließende Wasser, als ich eine Gestalt am Ufer stehen sah.

 

Eigentlich nichts besonderes, doch in diesem Falle war ich sehr erstaunt darüber, denn das, was ich da sah, hatte ich nicht erwartet: eine große Blondine in einem eng anliegenden weißen Kleid, das über und über mit kleinen roten Blumen bedruckt war, die aussahen wie Rosen. Sie hätte die Zwillingsschwester von Marilyn Monroe, dieser verstorbenen, legendären US-amerikanischen Schauspielerin sein können, die ich mal irgendwo auf einem alten schwarz-weiß Poster gesehen habe, wie sie mit gespielter Laszivität versucht, ihren nach oben wehenden Rock zu bändigen, um der lüsternen Männerwelt das vorzuenthalten, wonach sie naturgemäß dürsten.

 

Die unbekannte Frau stand zögernd im ufernahen Gebüsch und fingerte mit ihren Händen ziemlich nervös an den Seiten ihres Kleides herum, gerade so, als ob ihr daran nichts gefallen würde. War ihr das deplatzierte Outfit peinlich? Ich vermutete jedenfalls so was ähnliches in diesem Moment. Aber vielleicht gab es ja auch noch andere Gründe für ihr ungewöhnliches Verhalten.

 

Wie auch immer. Sie hatte mich jedenfalls ziemlich stark abgelenkt, sodass ich für einige Augenblicke nicht so recht wusste, warum ich überhaupt hier draußen in der grünen Wald- und Wiesenlandschaft herum spazierte.

 

„Hallo“, sagte ich halblaut etwas verlegen und ging einige Schritte auf sie zu.

 

Sie antwortete mir nicht.

 

Ich bemerkte rein zufällig ihren wuchtigen Unterkiefer, der sie irgendwie unvorteilhaft erscheinen ließ und einfach nicht zu ihrer Gesamterscheinung passen wollte. Aber sie hatte eine unglaublich schöne Haut.

 

Die ganze Zeit über war ich mir bewusst, dass sie mich beobachtete. Ich empfand das als grobe Unhöflichkeit, zumal sie auf meine freundliche Begrüßung nicht reagierte. Vielleicht war sie nicht von hier oder verstand meine Sprache nicht, fiel mir dazu ein. Ich sinnierte darüber nach, warum sich eine derart schicke Frau in den matschigen Boden eines Flussufers stellte, nur um vorbeigehende Spaziergänger anzustarren.

 

Schließlich ging ich mit der nötigen Zurückhaltung weiter auf die blonde Schönheit zu.

 

„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“ fragte ich sie direkt, als ich sie fast erreicht hatte.

 

Ich empfand nicht die geringste Vorahnung einer drohenden Gefahr.

 

Dann stand ich unmittelbar vor ihr, sozusagen von Angesicht zu Angesicht. Auch sie bewegte sich ein Stück auf mich zu und kam mir jedoch für meinen Geschmack viel zu nah, sodass ich gleich wieder einen Schritt zurückwich, um die neu eingetretene Situation nicht peinlich erscheinen zu lassen. Dafür konnte ich sie jetzt aber umso besser erkennen.

 

Anscheinend musterte sie mich ebenfalls interessiert von oben bis unten.

 

Sie war größer als ich, und ihre Augen waren dunkle, schattenhafte Löcher, als wären sie zu stark geschminkt worden. Um die breiten Lippen hatte sie einen hinterhältigen Zug, und aus der Nähe betrachtet verlor ihre Schönheit schnell an Faszination. Um ehrlich zu sein, war ich mehr als enttäuscht. Vielmehr rief in mir diese unbekannte Frau irgendwie eine unbestimmte, nicht näher erklärbare Angst hervor.

 

Ich schaute mich deshalb vorsichtig um und musste feststellen, dass ich mit ihr ganz allein hier am Flussufer stand. Weit und breit war niemand zu sehen und jede Hilfe fern.

 

Es wurde langsam noch dunkler.

 

Schattenhaft konnte ich die Konturen ihrer Muskeln sehen; offensichtlich war sie kräftig. Die komische Vorstellung drängte sich mir auf, dass diese Frau möglicherweise ein Produkt hinterwäldlerischer Inzucht sein könnte, da sich besonders in dieser Gegend in den letzten Jahren immer mehr Fremde herum trieben. Es konnte durchaus sein, dass sie eine von diesen herumvagabundierenden Personen war.

 

Dann roch ich etwas Schreckliches. Ich war wie vom Donner gerührt und beinahe hätte es mich umgehauen. Ein vertrauter und doch lähmender Geruch nach Schwefel haftete diesem weiblichen Geschöpf an.

 

Wieder stieg eine unbestimmte Furcht in mir hoch. Mein Gefühl sagte mir, dass hier irgendwas nicht stimmte. Ich wollte nur noch weg.

 

Anstatt zurück zum Wanderweg zu laufen, sprang ich einfach vom seichten Ufer hinab in den Fluss, der an dieser Stelle um diese Jahreszeit sehr niedrig war. Mühselig kämpfte ich mich mit meinen klobigen Wanderschuhen durchs fließende Wasser, indem ich mich vorsichtig über das flache Kiesbett vorwärts tastete, so schnell es mir nur möglich war. Hier gab es überall von der Strömung ausgespülte Strudeltöpfe.

 

Die seltsam anmutende Blondine schien mir zu folgen. Ängstlich schaute ich zu ihr hinüber, wobei ich voller Entsetzen noch aus dem Augenwinkel mitbekam, dass sich ihr makelloser Körper scheinbar unablässig und Schritt für Schritt in ein außerirdisches Wesen veränderte, das aussah wie ein Alien mit Teller großen Augen, schlankem Hals und einem oval geformten Schädel.

 

Am anderen Ufer angekommen griff ich in panischer Angst nach einem herab hängenden Busch und zog mich daran hoch. Ich stieß auf ein Gewirr von herum liegenden morschen Ästen und losen Zweigen im Unterholz. Ich sah nichts mehr und rannte kopflos in die wachsende Finsternis hinein, bis mich schließlich eine knorrige Wurzel zu Fall brachte.

 

Meine Gedanken kreisten wie ein Wirbelwind im Kopf herum, als ich auf dem feucht-kalten Waldboden lag. Dieser komische Geruch. Aber das war doch eine Frau, eine ganz normale Blondine, wie man sie überall antreffen kann, dachte ich halb benommen. Wieso kann sie sich ein Alien verwandeln? So was kann es nicht geben. Nie und nimmer, dachte ich.

 

Ich rappelte mich schnell wieder auf und schaute hinüber auf das vorbeifließende Wasser der trübe glitzernden Amper. Ich war schon ziemlich weit von der Stelle weg, wo ich das unheimliche Wesen gesehen hatte.

 

Offenbar hatte ich die Kreatur abgehängt. – Dachte ich jedenfalls.

 

Dieser auffällige Geruch – nie werde ich ihn vergessen, und wenn ich alt wie ein Methusalem werden sollte.

 

Dann sah ich hinter mir das kurze Aufflackern eines Lichtscheins.

 

Ich verlor keine Sekunde. Das unheimliche Wesen verfolgte mich hartnäckig wie der böse Wolf das scheue Reh.

 

Ich rannte noch weiter vom Fluss weg. Ich musste schnell machen, sonst konnte ich sie seitlich nicht umgehen, denn ich wollte wieder zurück auf die andere Seite der Amper, wo sich der Wanderweg befand.

 

In der Dunkelheit knackten auffällig hinter mir einige trockene Äste und dürre Zweige. Mir wurde buchstäblich schwindlig vor Angst.

 

Ich lief noch weiter in den Wald hinein, zerriss mir dabei Jacke und Hose und schürfte mir die Hände blutig.

 

Die Frau in Weiß, jetzt zu einem außerirdischen Alien mutiert, war mir immer noch dicht auf den Fersen und..., sie kam näher. Wie ein Geist schien sie mit Leichtigkeit durch die Bäume und Sträucher zu huschen, wobei ihr das sporadisch aufleuchtende Licht offenbar der Orientierung diente. Auch glaubte ich zu hören, dass sie einen Laut von sich gab, das wie ein schwaches Pfeifen klang.

 

Plötzlich stürzte ich eine baumlose Anhöhe hinunter und rutschte in eine mit hohem Laub bedeckte Waldmulde, die von einem kleinen Felsvorsprung überdeckt wurde. Ich presste mich instinktiv fest auf den Boden liegend in eine kleine Nische am Fuße des Felsens.

 

Nur wenige Sekunden später konnte ich aus dem Blickwinkel heraus meine außerirdische Verfolgerin deutlich am oberen Rand der Mulde wie einen dunklen Schatten erkennen. Ihr schwefelartiger Geruch drang mir in die Nase. Sie bewegte sich nicht und war ganz still. Ich konnte sie sogar atmen hören. Sie lauschte.

 

Wieder blitzte ein heller Lichtstrahl über mir auf.

 

Ich schob mich noch weiter unter den Felsen, scharrte so leise es ging Laub über meinen Körper und verhielt mich ganz ruhig.

 

Kurz darauf sah ich eine knöcherne Hand über dem kleinen Felsvorsprung hervor schießen, gefolgt vom ovalen Kopfansatz der außerirdischen Kreatur. Sie war also schon da und hatte mich die ganze Zeit scheinbar wie eine blutrünstige Jägerin verfolgt. Sobald ihre Augen über der kleinen Felskante auftauchten, würde sie mich sehen.

 

Mir stockte der Atem.

 

Ich zwang mich noch weiter an den schroffen Fels und unter das feucht faule Laub. Ich wollte so tief wie möglich darunter kriechen, bis ich vollständig darin verschwunden war. Moos und Erde rutschten mir in den Mund. Krabbelnde Insekten verhedderten sich in meinen Haaren und krochen mir in den Nacken hinab.

 

Dann schien plötzlich etwas ganz in meiner Nähe zu sein. Überall um mich herum hörte ich ein seltsames Keuchen und Rascheln.

 

Ich war wie gelähmt und verhielt mich mucksmäuschenstill. Auf einmal nahm ich kurz hinter einander drei gedämpfte Schreie wahr. Sie hatten irgendwie einen zärtlichen Ton, doch in meinen Ohren klang es wie die Liebe des Löwen zu einer scheuen Gazelle oder wie die Liebe einer hungrigen Riesenschlange zum verängstigten Kaninchen.

 

Die drei Schreie wurden wiederholt, diesmal aus kürzer Entfernung. Es waren drängende, verführerische Laute.

 

Da.

 

Mir standen die Haare zu Berge. Eine Gänsehaut überzog meinen zitternden Körper.

 

Knochige Hände schlossen sich von einer Sekunde auf die andere unvermittelt um meine beiden Fußgelenke. Ich strampelte mich verzweifelt mit einem Ruck los und schrie laut auf. Ein heftiger Wind umwehte mich daraufhin. Ich schlug mit den Armen um mich und schrie wie von Sinnen.

 

Dann fiel ich scheinbar ins Bodenlose. Ich schlug nirgendwo auf; ich fiel und fiel und fiel.

 

Schlagartig HELLIGKEIT, als würde jemand einen Lichtschalter betätigen.

 

Ich öffnete meine Augen und betrachtete zu meiner allergrößten Überraschung eine großartige Aussicht. Ich verstand gar nichts mehr. Wo war die mit dichtem Laub bedeckte Mulde und dem kleinen Felsen im nächtlichen Auenwald geblieben?

 

Träumte ich nur alles?

 

Ich erhob mich über den spätabendlichen Sonnenuntergang hinaus in die wolkenlose Atmosphäre und befand mich kurz darauf im hellen Tageslicht, das zu erreichen sich aufsteigende Lerchen bemühten.

 

Das pure Entsetzen erfasste mich über diesen plötzlichen Ortswechsel. Ich war derart überwältigt, dass ich auf eine primitive Stufe der Entwicklung zurückfiel. Mein Menschsein zerbröckelte. Ich spürte, wie die Hülle der menschlichen Natur wie ein dünnes Kostüm von mir abglitt und mit dem Wind davon flatterte.

 

Ich heulte wie ein kleines Kind. Aber meine lauten Schreie verhallten ungehört. Hier oben hörte mich niemand.

 

Nichts hielt mich auf oder begrenzte mich in irgendeiner Weise. Ich befand mich noch immer im freien Fall. Oder war es genau umgekehrt? Wurde ich nach oben gerissen?

 

Die unzähligen Lichter meiner schönen Stadt an der sich durch die weite Landschaft schlängelnden Amper verschwanden abrupt in der umfassenden Dunkelheit einer aufsteigenden Erdkugel. Als ich versuchte zu atmen, schien das anfangs nur schwer zu funktionieren. Doch ich riss mich zusammen. Die Kälte kroch mir unter die Haut. Ich fror wie ein Schneider.

 

Was hatte man mit mir vor? Wer oder was tat mir das an?

 

Dann bemerkte ich etwas seltsames.

 

Um mich herum war kein Wind zu hören, obwohl ich fiel. Aber wohin? Nach oben oder unten oder zur Seite? Ich wusste es nicht, weil ich meinen Orientierungssinn total verloren hatte.

 

Meine Haut fühlte sich an, als würde sie sich spannen. Meine Augäpfel traten heraus.

 

Die Welt unter mir war ein einziger purpurfarbener Schatten, zweigeteilt durch eine leuchtende Linie des Sonnenlichts. Auf der einen Seite breitete sich der Abend über das weite Land, und auf der anderen Seite ruhte es gleichzeitig im Licht des Tages. Ein ungewöhnlicher Anblick.

 

In meinem Körper rumorte es plötzlich. Mein Magen verkrampfte sich, meine Knie wurden weich und schlotterten unkontrolliert hin und her. Mein Herz pochte in meinem Brustkorb wie nach einem Tausend-Meter-Lauf. Ich hatte das Gefühl, dass sich meine Kehle langsam aber sicher zuschnürte. Es gab kein Entrinnen für mich. Ich dachte schon, ich müsste sterben. Weißer Schaum flog mir vom Mund, und genau in diesem Augenblick allerhöchster Pein meinte ich, wieder auf dem Boden zu sein.

 

Ich hustete und würgte; ich konnte den Brechreiz nicht mehr zurückhalten. Das Zusammenwirken von Schock, Kälte und Sauerstoffmangel hatte offensichtlich diese heftige Reaktion hervor gerufen. Ich erlitt einen Anfall, spuckte und keuchte, bis ich beinahe daran erstickt wäre.

 

Ganz langsam erholte sich schließlich mein Körper wieder. Nach einiger Zeit hatte ich mich dann soweit im Griff, dass ich klar denken konnte. Ich stemmte mich auf die Beine. Scheinbar befand ich mich in einem total finsteren Raum, alles um mich herum war pechschwarz. Nichts konnte ich erkennen, noch nicht einmal meine Hand vor mein Gesicht.

 

Ich erinnerte mich daran, dass ich ein Benzinfeuerzeug in meiner Tasche mit herum trug. Ich holte es heraus und rieb den Feuerstein.

 

Dann erschrak ich bis aufs Innerste meiner Knochen. Einen Augenblick lang verstand ich nicht, was ich da in der zitternden Flamme erblickte.

 

Waren das Raumanzüge? Reihen von glitzernden Objekten lösten sich wie von selbst auf: Dutzende von riesigen Augenpaaren glotzten mich aus der schummrigen Dunkelheit an.

 

Mit einem Schreckensgebrüll schleuderte ich das Feuerzeug vom mir weg, mitten in die mich anstarrenden Augen hinein. Ich machte einen Satz nach hinten, aber die Augenwesen verfolgten mich und griffen sogar mit ihren knöchernen Fingern nach mir. Bald spürte ich, wie sich ihre Klauen in meine Haut krallten.

 

Ich wusste nicht, was das für Kreaturen waren, aber ihre langen Arme fühlten sich irgendwie pflanzlich an, fast so wie biegsame Lianen.

 

Ich schrie und kämpfte um mein Leben wie ein wildes Tier in der Falle.

 

Immer wenn ich nach den aufdringlichen Augenwesen schlug, zogen sie sich ins Dunkel zurück. Danach herrschte für eine Weile absolute Ruhe.

 

Ich kämpfe mit der Kraft eines Wahnsinnigen. Beim Atmen brannten mir die Lungen, und meine Beine wackelten vor Erschöpfung. Um mich herum gurrte und wisperte es, und direkt in meinem Kopf hörte ich eine Frau, die ein sanftes Lied in einer unbekannten Sprache sang.

 

Ich spürte, wie ihre weichen Hände über meinen Rücken glitten. Eine der Kreatur zog mich näher zu sich heran. Ich war vom dauernden Kämpfen so erschöpft, dass ich die Arme nicht mehr hochbrachte.

 

Dann stand noch jemand hinter mir, und noch einer und noch einer. Es wurden anscheinend immer mehr.

 

Ich war umzingelt und schrie mit aller Kraft, so laut ich konnte.

Die unbekannten Wesen gurrten und wisperten in einem fort, und schließlich sprach eine Stimme zu mir. Es war fast so, als spreche ein Automat.

 

„Was müssen wir tun, damit du aufhörst zu schreien?“

 

Ich hörte nicht auf ihre Worte, sondern schrie einfach weiter. Nichts konnten sie für mich tun. Irgendwann versagten schließlich meine Stimmbänder und meine Schreie gingen in ein armseliges Krächzen über, bis ich gänzlich verstummte.

 

Ich kippte nach hinten weg und fiel der Länge nach auf den Boden. Die außerirdischen Wesen waren jetzt überall und streichelten mich mit ihren weichen, knöchern aussehenden Händen am ganzen Körper.

 

Sie redeten in meiner Sprache zu mir.

 

„Sollen wir dich ausziehen oder willst du das lieber selbst machen?“

 

Die Stimme war ohne Atem und klang etwa wie die eines zwölfjährigen Kindes.

 

Dann wieder ein gleißend heller Lichtblitz.

 

Von einer Sekunde auf die andere befand ich mich auf einem goldgelben Stoppelfeld, weit ab einer kleinen Siedlung, wo ich früher einmal in meiner Jugendzeit gewohnt hatte. Dann sah ich das Buchenwäldchen, das dunkel vor mir lag. Ich spielte Cowboy und Indianer mit meinen damaligen Schulfreunden. Wir hatten uns versteckt, als plötzlich diese außerirdischen Wesen wie aus dem Nichts vor mir standen und mich zu sich hochzogen.

 

Ich war damals noch ein kleiner Junge gewesen, und sie hatten mich getragen. Ja, sie hatten mich getragen. Ich konnte es mir bis heute nicht erklären, warum sie es getan haben. Dann muss ich wohl bewusstlos geworden sein. Später fanden mich meine Freunde schlafend am Waldrand vor. Meine rechte Körperseite war stellenweise blau angelaufen und schmerzte fürchterlich. Alle glaubten, ich sei vom Baum gefallen und hätte mich dabei verletzt.

 

Wie im Fieberwahn fing ich wieder an zu schreien.

 

„Lasst mich endlich in Ruhe. Ihr..., ihr...“

 

Die fremden Wesen fingerten abermals an mir herum, zogen mir die Jacke aus und öffneten mein Hemd. Ich vernahm ein schnelles Atmen und schnell hintereinander folgende kurze Schnapplaute. Dann zog man mir die Hose und den Rest meiner Kleidung aus. Offenbar wurde ich von ihnen eingehend untersucht. Hin und wieder summte eine Apparatur im Hintergrund und ein blaues Licht tastete meine Haut ab.

 

Ich spürte, wie man vehement an mir herum fummelte. Es gab ein Geknuffe und Gezerre. Nach einer Weile war Schluss damit.

 

„Ihr habt mich ausgezogen. Warum tut ihr das? Mir ist kalt.“

 

„Wir sind auch nackt“, antworteten sie.

 

Dann fuhr einer von ihnen fort. „Erinnerst du dich überhaupt nicht mehr an uns? Wir haben dich schon oft besucht, Erdenkind. Sieh her!“

 

Ich erblickte plötzlich mein kleines gelbes Holzauto. Es stand da, von einem pulsierenden Lichtkranz umgeben. Der verlorene Schatz meiner Kindheit. Ich hatte so sehr daran gehangen. Ich streckte meine Hand danach aus und legte sie behutsam darauf. Ja, es war wirklich mein über alles geliebtes gelb farbenes Holzauto, das ich im Alter von etwa vier oder fünf Jahren verloren hatte.

 

Noch viele Jahre später hatte ich davon geträumt. Ich habe es lange Zeit vermisst. Wie niedlich es doch war. Tränen liefen mir über die Wangen. Mein Herz tat mir weh, als ich es liebevoll von allen Seiten betrachtete. Dann verschwand es langsam wieder vor meinen Augen.

 

Schon damals waren diese fremden Wesen also bei mir gewesen. Ich erinnerte mich daran, wie ich als kleines Kind von ihnen besucht worden bin. Ich war mit ihnen zusammen geflogen..., ja geflogen. Sie haben mich in ihrem Raumschiff mitgenommen und danach wieder zurückgebracht.

 

Wieder ein heller Lichtblitz.

 

Ich war plötzlich allein und stand einsam auf dem schmalen Wanderweg in den nächtlichen Amperauen zwischen Fürstenfeldbruck und Schöngeising.

 

Obgleich ich rein körperlich die einzig anwesende Person war, hatte ich nicht das Gefühl, geistig allein zu sein. Von überall her hörte ich flüsternde Stimmen und leise Kommandos. Es war so, als würde unmittelbar vor mir ein unsichtbares Raumschiff gestartet. In der abendlichen Stille vernahm ich die verstümmelten Botschaften einer außerirdischen Rasse, die von ganz weit her irgendwo aus einer Ecke des Universums zu uns Menschen auf die Erde gekommen war.

 

Wie lange taten sie das schon, diese fremden Besucher aus dem All?

Vielleicht schon länger, als es uns Menschen auf der Erde gibt?

 

Irgendwann, wenn ich einmal alt und grau geworden bin, werden sie mich bestimmt für immer mitnehmen.

 

 


 

ENDE

 

© Heinz-Walter Hoetter

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.03.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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