Claudia Savelsberg

Die einzigartige Ella

Ella wollte es sich gemütlich machen, Fernsehen schauen und dabei eine Kleinigkeit essen. Sie ging ins Bad und schaute in den Spiegel. „Ich sehe wirklich noch verdammt gut aus“, dachte sie. Sie zog sich aus, nahm ihre Perücke ab und warf einen Bademantel über. Dann entfernte sie sorgfältig ihr Make-up. Ella schaute nochmal in den Spiegel – jetzt war sie wieder Jürgen.

Jürgen wuchs in einer spießigen Kleinstadt auf. Schon als kleiner Junge trug er gerne Frauenkleider und malte sich die Lippen rot an. Dann fühlte er sich wohl. Als sein Vater ihn erwischte, gab es eine Tracht Prügel, Mutter und Schwester reagierten gelassener, es wäre nur eine kindliche Phase. Aber Jürgen zog immer wieder Frauenkleider an. Es machte ihn glücklich, und er liebte sein Spiegelbild.

In der Pubertät merkte er, dass er sich zu Jungen hingezogen fühlte, was ihn vollkommen hilflos machte. Er wusste nicht wohin mit seinen Gefühlen, es gab niemanden, dem er sich hätte anvertrauen können. War er jetzt homosexuell? Waren seine Gefühle normal? Er litt fürchterlich und isolierte sich immer mehr.

Nach dem Realschulabschluss zog Jürgen in die Stadt und begann eine Ausbildung zum Bankkaufmann. In der Berufsschule und der Bank wusste keiner, dass er schwul war. Er wohnte bei seiner Tante, die seine Homosexualität akzeptierte, Jürgen durfte sogar seinen ersten Freund mit nachhause bringen. Er erzählte seiner Tante allerdings nichts von seiner Vorliebe für Frauenkleider.

Nach der Ausbildung bekam Jürgen eine Festanstellung in der Bank. Er zog in eine eigene Wohnung und lebte so, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Im Privatleben kleidete er sich wie eine Frau und bekannte sich dazu, dass er Transvestit war. Am Wochenende besuchte die bekannten Szene-Lokale, in denen sich Schwule und Lesben trafen. Nach Jahren der Heimlichkeit genoss Jürgen diese Freiheiten.

Der Wirt des „Flamingo“, wo Jürgen Stammgast war, veranstaltete einen Gesangswettbewerb. Seine Freunde wussten, dass Jürgen eine schöne Stimme hatte, er sollte unbedingt singen. Zufällig saß an diesem Abend Edmund im Publikum, Besitzer eines kleines Varietés mit dem Namen „Café Pompös.“ Er war begeistert von Jürgens Ausstrahlung und seiner rauchig-erotischen Stimme und fragte ihn, ob er in seinem Varieté auftreten wollte.

Jürgen sagte zu und gab sich den Künstlernamen „Ella“. Mit seinen Auftritten eroberte er das Publikum im Sturm. Edmund kündigte ihn mit den Worten an: „Die einzigartige und einmalige Ella. Viva la Diva!“ Die Schwulen- und Lesbenszene liebte „ihre“ Ella, es begann eine schöne Zeit. Edmund und Ella wurden ein Paar, sie liebten sich und führten eine ganz normale Ehe.

Jürgens Schwester Lydia lebte mit ihrem Mann immer noch in der Kleinstadt, in der sie aufgewachsen waren. Als sie ein Mädchen zur Welt brachte, sollte Jürgen Patenonkel werden. Zur Taufe erschien er ganz selbstverständlich mit seinem Mann Edmund. Natürlich wurden sie neugierig gemustert, aber dabei blieb es. Jürgens Vater verhielt sich reserviert, offensichtlich schämte er sich für seinen schwulen Sohn.

Lydia respektierte die Homosexualität ihres Bruders, sie freute sich, dass Jürgen und Edmund glücklich waren. Aber sie konnte nicht wirklich verstehen, warum er als Transvestit lebte. Jürgen hatte nie an eine Geschlechtsumwandlung gedacht, weil er sich in seinem männlichen Körper wohl fühlte, das hatte er Lydia oft erzählt. Er war ein Mann, der sich gerne wie eine Frau kleidete. Wenn Lydia Bilder von Ella sah, dachte sie oft: „Mein Bruder ist eine schöne Frau.“ Sie liebte ihn sehr, und für sie war es die Hauptsache, dass er glücklich war.

In seinem Beruf als Bankkaufmann war Jürgen erfolgreich, er leitete eine große Zweigniederlassung seiner Bank. Die Kollegen und viele Kunden wussten, dass er schwul war, aber das stellte kein Probleme dar. Wenn die Ehepartner zu betriebsinternen Feiern eingeladen waren, brachte Jürgen selbstverständlich Edmund mit, was vor Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre. Sie konnten sich noch an die Zeiten erinnern, in denen sie als Schwuchteln, Tunten und Tucken diskriminiert wurden.

Im Beruf war Jürgen der seriöse Filialleiter mit Anzug und Krawatte. Im Privatleben war er die schillernde Ella. Viele seiner Freunde konnten nicht verstehen, wie er dieses Doppelleben bewältigte, wie er den Spagat zwischen „Spießer“ und „Paradiesvogel“ schaffte.

Nach seiner eigenen Philosophie führte Jürgen kein Doppelleben. Ein Mann, der seinen Partner/seine Partnerin heimlich betrog, führte ein Doppelleben, weil er sich verstecken musste. Jürgen versteckte sich nicht, er lebte beide Facetten seiner Persönlichkeit offen aus. Die männliche Seite im Beruf, die weibliche Seite im Privatleben. Jürgen und Ella waren eine Person, sie gehörten untrennbar zusammen.

Jürgen war jetzt 61 Jahre alt, vor sechs Jahren war Edmund bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Jürgen vermisste seinen „Eddie“, mit dem er 26 Jahre eine glückliche Ehe geführt hatte. Nach Edmunds Tod wurde das „Café Pompös“, das jetzt bei einer jüngeren Generation von Schwulen und Lesben absoluten Kultstatus genoss, weiter geführt, aber der neue Besitzer gab diskret zu verstehen, dass Ella zu alt für die Bühne war.

Jürgen bekam oft Besuch von seiner Nichte Stefanie, die 29jährige liebte ihren schwulen Onkel sehr. Sie war hübsch, klug und tolerant. Ihre Mutter Lydia hatte ihr schon recht früh erklärt, dass Jürgen Männer liebte, und damit wurde für Stefanie Homosexualität so normal wie Heterosexualität. Auch als sie erfuhr, dass Onkel Jürgen Frauenkleider trug, war sie nicht schockiert. Als sie zum ersten Mal „die einzigartige und einmalige Ella“ auf der Bühne des Varietés erlebte, war sie hingerissen und applaudierte wild. „Mein Onkel ist wirklich eine schöne Frau“, dachte Stefanie. Er sollte ihr unbedingt erklären, wie man sich so toll schminkt. Die beiden verstanden sich wirklich gut.

Heute wollten sie zusammen mal wieder einen Stadtbummel machen. Stefanie sagte wie immer liebevoll zu ihm: „Mach dich richtig schick. Du bist die einzigartige und einmalige Ella. Denk dran!“ Wenn sie unterwegs Bekannte trafen, stellte sie ihn stolz vor: „Das ist Ella, meine Tante.“ Ella liebte die anerkennenden Blicke der jungen Männer und den Respekt, der ihr von Stefanies Freunden entgegen gebracht wurde.

Jürgen wollte es sich gemütlich machen, Fernsehen schauen und dabei eine Kleinigkeit essen. Heute würde er ein Glas Rotwein trinken. Es war wieder ein schöner Nachmittag mit Stefanie gewesen. Jürgen zog den Bademantel an und streckte sich auf dem Sofa aus. Kritisch schaute er an sich herunter: „Morgen muss ich mir unbedingt die Beine rasieren.“ Die einzigartige und einmalige Ella mit stacheligen Waden? Nie im Leben. Viva la Diva!

 

 

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 27.03.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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