Bernhard Pappe

Das Spiel mit den Formen des Selbst (Eine Briefgeschichte)


Mein lieber Freund,

 

ich schrieb dieses Gedicht und du hast mir ein paar Gedanken, die dir dazu kamen, zugesendet. Meine Antwort ist nachfolgende Briefgeschichte. Ich habe schon einmal zu diesem Stilmittel gegriffen. Erinnerst du dich? Lach, wenn nicht, dann ist es kein Beinbruch.

 

In mir drin

 

Er ist in mir drin, der rationale Westen.

Er ist in mir drin, der kühle Norden.

Er ist in mir drin, der lebendige Süden.

Er ist in mir drin, der mystische Osten.

Er ist in mir drin, der begrenzende Rand.

Sie ist in mir drin, die energiereiche Mitte.

Sie ist in mir drin, die erschaffene Welt.

Es ist in mir drin, das gefühlte Universum.

Es ist in mir drin, das schier unerfüllbare Sehnen.

Ist etwas in mir drin?

 

Es ist in mir drin – das Selbst.

 

Das Gedicht habe ich der Briefgeschichte vorangestellt, um die Beziehungsstränge eng zu knüpfen. Ich bediente mit eines deiner Fotos, um das Gedicht zu illustrieren. So wurde daraus ein Gemeinschaftswerk, bei dem du gern im Hintergrund bleibst. So sei es, wenn du den Rand der Bühne nicht zu betreten wünschst, um dich so dem Scheinwerferlicht der Aufmerksamkeit entziehen zu können.

 

Kommen wir zu deinen Gedanken. Der Autor, ergo ich, verinnerlicht also das Universum, alle Himmelsrichtungen und Energien, wohl auch alle Temperamente usw. Warum das Sehnen unerfüllbar sein soll, so fragtest du. Warum ein begrenzender Rand? Sprengt das Selbst nicht alle Fesseln, auch die der Gedanken? Gute Fragen!

Ich bin kein Weiser, der den Urgrund erschaut hat. Ich bin eher ein Suchender. Das Bild vom Suchenden können wir als Ausgangspunkt nehmen. Der Suchende schließt nichts aus und alles ein. Er ist offen für das Neue und das Ungewohnte. Komme es aus dem Westen oder dem Osten. Holismus pur. Wer ein Sucher bleiben will, der wird sich sein Sehnen bewusst nicht erfüllen. Die Psychologie bläst in das gleiche Horn. Es gibt immer einen Horizont, zu dem man segeln kann, der seine Geheimnisse, sein Dahinter verhüllt. Du weißt, ich fahre gern ans Meer und blicke auf den Horizont. Eine immer wiederkehrende emotionale Faszination enthüllt sich dann.

Das Selbst, es ist gemäß indische Philosophie allumfassend. Woher die energetische Mitte und der begrenzende Rand? Können wir das Selbst und die Physik miteinander in Zusammenhang bringen? Du meldest Zweifel an? Das ist dein gutes Recht. Durchtunnel wir einfach mal die Barriere der Rationalität.

Das Selbst ist formlos und Form zugleich. Ihm haftet keine Dualität an. So kann es ein Punkt werden unendlich kleiner Dimension, die jenseits der Vorstellungskraft des Ich-Denkens liegt. Weltenbrand oder Urknall, welchen Begriff ziehst du vor? Der eine entstammt der altindischen Philosophie, der andere der Physik. Ein Energieausbruch unvorstellbaren Ausmaßes. Raum und Zeit entstehen. Die Grundkräfte nehmen ihren Anfang, ein waberndes Etwas, in dem sich Teilchen bilden. Das Universum wird durchsichtig, dehnt sich inflationär aus, nimmt Form an und bildet immer mehr Formen -  der Urgrund differenziert sich aus. Da hast du die energiereiche Mitte und den begrenzenden Rand, auch wenn jener weit draußen liegen mag. Gern wird das auf zweidimensionalen Buch- & Journalseiten als Trichter dargestellt und als Symbol dafür, dass es vorher nichts außerhalb dieses Trichters gab.

Der menschliche Geist, unser Ich-Denken, sie werden immer danach fragen, was denn vorher war. Nichts, sagen die Astrophysiker. Löst man die Gleichungen der Allgemeinen Relativitätstheorie, dann findet man darauf keine Antwort, auch wenn die Simulationen heutiger Supercomputer immer ausgefeilter werden. Der Weltenbrand wird sich nach allen Seiten ausgebreitet haben. Beschränkt auf drei, die Zeit eingerechnet, vier Dimensionen? Vielleicht sind es mehr. Niemand vermag das zu sagen.

Eine Frage habe ich bisher geschickt umgangen. Es ist die Frage nach dem Warum. Auch wenn vorher nichts war, bleibt die Frage unangenehm im Raum des Ich-Denkens stehen. Sind wir nur zu sehr im Kausaldenken verhaftet? Auf eine Ursache hin ergibt sich eine Bewegung, wenn auch eine mehr als heftige. Das Prinzip von Actio & Reactio? Sir Isaac Newton winkt lässig herüber. Das anthropische Prinzip? Kurz und knapp – Wir sind hier, damit wir all das beobachten und uns Gedanken über das Universum machen können. Niemand weiß, ob das Universum, welches wir zu erforschen meinen, offen oder geschlossen ist. Ist es geschlossen, dann wird es gemäß der Theorien implodieren und in einem Weltenbrand untergehen. Da sind wieder der Rand und die energiereiche Mitte. Altindische Yogis hatten mit dem Warum kein Problem. Das Universum atmet einfach. Wiederkehrende Weltenbrände waren für sie normal. Ganz ohne Einstein, Weltraumteleskope und Supercomputer. Eine Schau nach innen reichte, denn das Selbst ist ja in jedem Menschen drin und ist zugleich das Universum dort draußen.

Das Selbst spielt mit Formen und Farben, spielt mit dem, was unsere Sinne wahrnehmen, was unser Bewusstsein verarbeitet und durchdenkt. Das Selbst durchtränkt alles. Atmen wir, du und ich, einmal tief durch. Stellen wir uns einfach vor, dass wir Spieler und Spiel zugleich sind. Faszinierend! Was meinst du? In Wirklichkeit gibt es die Dualität Spieler – Spiel nicht. Sie löst sich, gleich Salz, in Wasser auf.

 

Die Briefgeschichte findet ihren Abschluss. Ich hoffe, ich habe mit meinen Worten einen ausreichend bunten Teppich der Möglichkeiten und Ansichten gewebt. Ein kruder Mix aus Denkansätzen. Ist dir etwas aufgefallen? Nein? In der kompletten Briefgeschichte fehlt ein Wort – Gott. Kann man das Selbst mit Gott gleichsetzen? Ich würde denken, das ist Ansichtssache. Im Hinduismus gibt es einen reichlichen Götter-Pantheon. Die Upanischaden sagen, dass auch die Götter sich dem Selbst beugen müssen. Das Selbst steckt in dir und in mir. Du kannst den Weg des Suchers gehen. Es würde dein eigener, sehr persönlicher Weg sein. Kein Altar markiert den Wegesrand, kein Ritus verhindert das Weiterkommen. Den Weg gehen, das ist und bleibt deine Entscheidung.

In deinen Träumen, so sagen es alte Schriften, tritt das Selbst unverhüllter hervor. Lach, schaue genau hin. Aus dem bunten Teppich wird dann ein fliegender Teppich, der keine Barrieren kennt.

 

Mit diesem Bild und herzlichen Grüßen möchte ich hier meinen Schlusspunkt setzen.

 

© BPa / 03-2019

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Bernhard Pappe).
Der Beitrag wurde von Bernhard Pappe auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.03.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

Bild von Bernhard Pappe

  Bernhard Pappe als Lieblingsautor markieren

Buch von Bernhard Pappe:

cover

Leben & Tod: Eine transzendente Spionage-Story von Bernhard Pappe



Erzählt wird im Kern die Geschichte von Menschen, die sich durch widrige Umstände zufällig begegnen. Lebenswege kreuzen sich und führen hinein in eine Spionageaffäre, deren Dynamik sich am Ende alle nicht entziehen können. Jeder spürt die Dynamik des Lebens und begegnet doch sich selbst und dem Phänomen Tod auf ureigene Weise.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Einfach so zum Lesen und Nachdenken" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Bernhard Pappe

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Das Gesicht des neuen Jahres (Eine kurze Kurzgeschichte) von Bernhard Pappe (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Haben wir es Verdient? von Helmut Wendelken (Einfach so zum Lesen und Nachdenken)
Die Champagner-Wette von Rainer Tiemann (Wie das Leben so spielt)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen