Sylvia Sagmeister

Rondo Veneziano

Im sanften Licht der nostalgischen Laternen glänzten die schwarzen Steine des Platzes, noch feucht vom letzten Aqua Alta, kaum dass ihr diffuser Schein die dunkle Nacht erhellte. Klassische Musik ertönte leise aus den für das Spektakel am Wochenende rund um den riesigen Platz an den Laternen befestigten Lautsprechern. Der Platz war leer. Sie hätte sich nie vorstellen können, dass er jemals so leer sein würde. Dabei war es noch gar nicht so spät, der letzte Zug aufs Festland, der sie in ihr Quartier zurückbringen sollte, fuhr erst in drei Stunden, kurz vor Mitternacht. Gegenüber, in den tiefen Schatten unter den Arkaden, zu weit weg, um es genauer sehen zu können, bewegte sich etwas, Touristen? Masken? Bewohner? Schräg rechts hinter ihr, unter dem Uhrturm, klapperten Stöckel, entfernten sich in schnellem Schritt Richtung Markuslöwe, verblassten. Wieder Stille, nur die sanften Flötentöne umschmeichelten ihre Ohren. Sie ließ ihre Augen um den Platz schweifen. Die Schatten in der Ferne verdichteten sich. Wahrscheinlich Nachtschwärmer wie sie, die Poesie der fast menschenleeren Stadt genießend. Leichter Dunst verschleierte das Licht der Laternen, nahm ihm die grelle Schärfe. Nicht weit von ihr, vorne links, direkt vor dem Campanile, stand eine maskierte Gestalt und posierte für die nicht vorhandenen Fotografen, sich kunstvoll an dem steinernen Zaun drapierend, der den Glockenturm umrahmte. Das mit silbernen Litzen verbrämte kobaltblau Cape umfloss in künstlerischen Falten die hohe, schlanke Gestalt, ein silberner Turban thronte in ausladenden Stoffbahnen auf dem hocherhobenen Haupt, kobaltblaue Stickereien zierten seine Bahnen, endeten in Quasten, die jede Bewegung des Kopfes mitverfolgen würden, wollte er sich bewegen, silberne Perlenschnüre vervollständigten das orientalische Flair des Kopfschmuckes. Unter dem knielangen Umhang ließ sich eine Weste ausnehmen, deren kobaltblaue Ärmel nach barocker Manier von silbernen Stickereien umrahmt aus den tiefen Schlitzen des Capes hervorlugten. Die Hände in ebenfalls kobaltblau bestickten silbernen Handschuhen hielten einen silbernen Stock, dessen Knauf ein Löwenkopf zu sein schien. Die engen Beinkleider steckten in engen vorne aufgebogenen Schuhen, deren Spitzen ebenfalls mit silbernen Bordüren bestickt waren. Eine weiße Larve verdeckte das Gesicht, machte es unkenntlich. Dem Kostüm und der Größe nach mochte hinter der Maske ein Mann stecken, aus der Ferne war das nicht erkennbar, es war auch egal. Die Maske posierte, verharrte still, wartete darauf, betrachtet, bewundert und fotografiert zu werden. Heute war es wahrscheinlich schon zu spät dafür, vielleicht genoss er – genoss sie? – die Ruhe vor dem Ansturm der nächsten Tage, übte die beste Position für kunstvolles langes Stehen. Noch waren nur vereinzelt Masken zu finden, hier, auf dem Markusplatz, hatte sie bereits einige wenige gesehen. Noch gab es auch kaum Touristen. Morgen würden schon mehr kommen, Touristen, Masken. Am Samstag wäre kein freier Platz mehr zu finden. Keine Stille, keine Ruhe. Nur Masken, Verkleidungen, Touristen und unendlich viel Lärm.

Vorsichtig trat sie von den auf dem Boden liegenden Holzplanken, aufgelegt, um die Füße der Besucher bei Aqua Alta trocken zu halten, auf die nassen Steinplatten. Sie fühlten sich griffig an, keine Gefahr auszurutschen. Die leise Musik erreichte wieder ihre Ohren, Geigentöne umschmeichelte ihr Gehör, ihren Körper und entführte sie in die Welt der Töne. Ein störendes, klirrendes Geräusch veranlasste sie sich umzuschauen. Hatte eine Fahne in der leichten Brise an die Stange geschlagen? War jemand an die metallenen Laternenpfosten gestoßen? Sie begann in ihrer schwarzen Wolljacke die Kälte der Stadt, das klamme Gefühl des Lagunenwassers zu spüren und ballte die Fäuste in ihren zu dünnen Handschuhen, um ihren Fingern ein wenig Handwärme zukommen zu lassen. Auf ein Stirnband, eine Haube hatte sie verzichtet. Wie sollte sie sonst ihre blonden Locken herzeigen, ihre mit wunderschönen goldfarbenen langen Gehängen geschmückten Ohren den bewundernden Blicken preisgeben können? Morgen wäre sie sicher gescheiter, auch ein Stirnband konnte hübsch sein. Den weichen weiß-schwarz gemusterten Wollschal eng um ihren Hals schlingend bereute sie, unter ihrer schwarzen Jeans keine Strumpfhose angezogen zu haben und aus lauter Eitelkeit zugunsten der modischen Stiefletten mit den goldenen Verzierungen, die so gut zu ihren bestickten Jeans passten, auf die warmen, gefütterten, aber unansehnlichen Winterstiefel verzichtet zu haben. Nicht daran denken! Die Kälte aussperren, sich lieber Wärme, Kaminfeuer und Glühwein vorstellen! Sie schloss die Augen, um die Musik intensiver zu empfinden, in ihr zu versinken, in ihr aufzugehen und die klamme Kälte zu vergessen. Wie von selbst führten sie ihre dem Takt nachempfundenen Schritte in die Mitte des Platzes, weg vom Markusdom, vorbei am Campanile, hin zu den Lautsprechern. Mit geschlossenen Augen tauchte sie in die Musik ein, konzentrierte sich auf die klassischen Walzertöne und begann sich zu bewegen. Eins zwei drei, eins zwei drei. Wie von selbst setzten sich ihre Füße, drehte sie sich im Tanz, fühlte den Walzer in ihrer Seele.

In ihrem Tanz erahnte sie das Näherkommen eines anderen, bevor sie Zeit fand ihre Augen zu öffnen ergriff eine Hand zart die ihre, hatte sich die andere auf ihren Rücken gelegt, jemand nahm sie fest in den Arm und bewegte sich mit ihr im Takt weiter. Sie blickte auf und erkannte die barocke Maske, die sie am Campanile bewundert hatte, die Augen in den tiefen dunklen Höhlen der weißen Larve deutete ein Lächeln an, kobaltblaue Quasten am silbernen Turban wippten dem begrüßenden Nicken noch nach. Der maskierte Mann war groß, sicher eins neunzig, größer als man Italiener normalerweise schätzte, unter ihrer Verkleidung wohl athletisch ohne zu muskulös zu sein. Das im Licht der Laternen silbern und kobaltblau oszillierende Cape umhüllte die Figur, darunter zeigten die engen Beinkleider wohlgeformte Waden. Die barocken Schnabelschuhe fügten sich problemlos zwischen ihre Stiefletten mit dem kleinen Absatz, fanden ihren Weg in der Drehung zwischen die Beine. Eins zwei drei, eins zwei drei. In der Dunkelheit suchte sie hinter den Augen der Larve nach irgendeinem Makel, nach einer Gefahr, während sie sich in den starken Armen des Mannes zum Walzertakt drehte, fand aber nur warmes Lächeln, von vermuteten kleinen Lachfältchen umrahmt. Sie entspannte sich, lehnte sich zurück und tauchte wieder in die klassischen Klänge ein. Sich sicher umfangen fühlend schloss sie ihre Augen, gab sich ganz der Musik hin, festgehalten von den starken Armen des Mannes drehten sie sich in fast perfekter Tanzhaltung im Dreivierteltakt über den riesigen Platz. Gemeinsam schwebten sie über die nassen Steinfliesen, der Platz gehörte ihnen, ihnen alleine. Irgendwo in der Ferne verschwanden gerade Schritte, unter den Arkaden schienen vereinzelt Menschen zu stehen. Doch die Musik spielte nur für sie beide, alle anderen Geräusche waren ausgeblendet, verstummten, die Musik umhüllte sie, enthob sie der Realität, ließ sie im Tanze schweben, so wie zarte Nebelschleier nur für sie beide um die Laternen wogten, um dem Licht alles Grelle zu nehmen und einen Weichzeichenfilter auf ihre Welt zu legen. Wie von selbst drehten sie sich im Walzertakt, links, rechts, im Wechsel voneinander lösend, nur um gleich wieder eine Einheit zu bilden. Im Wirbel der Drehungen verschwamm das glänzende Pflaster, hob sie weg aus der Realität in ein Traumland der Emotionen, in die Atmosphäre explodierender Gefühle. Als sie kurz ihre Augen wieder öffnete, erfasste sie der leidenschaftliche Blick dunkelbrauner, feurig glänzender Augen, die sie aus den Öffnungen der Maske unverwandt anstarrten, sie hatten ihr Lächeln zwar nicht verloren, aber waren eindringlicher, emotionaler und intensiver geworden. Zwischen ihren Schulterblättern spürte sie durch die unvermeidliche dicke Jacke die rechte Hand ihres Tanzpartners, sie im richtigen Ausmaß fest an sich drückend, in der linken hatte sie ihre abgelegt, hauchzart spürte sie die Berührung seiner Finger, wünschte sich, der störende Stoff der Handschuhe wäre nicht notwendig. Sicher lag sie in seinen Armen, brauchte sich nicht festzuhalten. Sie bereute, nicht ebenfalls eine Maske, eine Verkleidung angelegt zu haben. Silber mit Gold, einen weiten Reifrock, ein enges Mieder, wie sie es in ihren Träumen oft sah. In ihrer Fantasie entstand das Bild zweier Menschen, verhüllt in den so kunstvollen Masken dieser Stadt, die über dem Platz schwebten. Was brauchte sie Realität, wenn der Traum so perfekt war. Weiter und weiter tönte die Musik, erfüllten klassische Harmonien die Welt um sie herum und fanden den Weg in ihr Herz.

Dann legte die Musik eine kurze Pause ein, das Stück war zu Ende, vor dem nächsten eine kurze Pause. Der maskierte Mann beendete die Drehungen mit ihr, hielt sie noch einen Moment lang fest, der feurige Blick aus dunkelbraunen Augen versenkte sich in ihre dunkelblauen, fast grauen. Ihre Hand an seine Lippen – nein, die Lippen der Larve – führend hauchte er einen imaginären Kuss auf ihren Wollhandschuh. Dennoch spürte sie ihn wie einen Sonnenstrahl bis in ihr Herz. Eine kleine Verbeugung, mehr ein sanftes Nicken ließ wieder die Quasten des Turbans erbeben, ein kurzes Schließen der Augen, gerade nur angedeutet, unterstrich die Verabschiedung. Sie dankte lächelnd mit demselben Nicken, demselben kurzen Schließen der Augen und sah dem Mann im kobaltblauen, mit silbernen Litzen verzierten Cape wie verzaubert hinterher, während er im Schatten unter den Arkaden verschwand, als hätte er nie existiert. Hatte sie das gerade geträumt? Noch immer lächelnd wandte sie sich zum Markusdom, um ihrem Freund, der sie an der Mole bei den Gondeln sicher schon mit einem Becher Glühwein erwartete, im Takte der wieder einsetzenden Musik entgegen zu gehen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.04.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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