Christine Wolny

Der Zipfel vom Glück (2)

Vater brachte, als er aus dem Kriege nach Hause kam, eine Frau mit. Er hatte sie in Wien kennen gelernt. Sie war vor den Russen geflohen und arbeitete als Krankenschwester.

Wattinchen, mittlerweile fünf Jahre alt, musste mal wieder ihre Sachen packen und zog in das Haus ein, welches sie nach dem Tode der Mutter verlassen musste. Der Vater hatte es gekauft, und Wattinchen wusste nicht, dass es nur für kurze Zeit war, denn Vater musste es wieder hergeben, weil er die Schulden, die darauf lasteten, nicht zahlen konnte.

Wattinchen betrachtete lange die fremde Frau und konnte einfach nicht warm mit ihr werden. Es war eine Wand zwischen ihnen. Die Schwester tat sich nicht so schwer.

Nun zogen sie in eine ärmliche Fabrikwohnung. Die Toilette befand sich auf dem Flur. Mehrere Familien benutzten sie. Am schlimmsten fand Wattinchen die Tür, die gar nicht richtig schloss. Nur ein verbogener Haken, der die Brettertüre festhielt, jedoch einen beachtlichen Spalt frei ließ, war die Ursache, dass Wattinchen sich sehr beeilte und wieder blitzschnell von dem „Örtchen verschwand.

Am liebsten ging sie draußen im Freien. Da waren genügend Versteckmöglichkeiten wie Holzstöße, Schuppen, Bäume oder Sträucher. Nur wenn es eine längere Sitzung war, beschloss Wattinchen, diesen ihr verhassten Ort aufzusuchen. Dabei beeilte sie sich, sie wollte nicht, dass jemand vor der Türe stand und drängelte, dabei vielleicht noch durch den Spalt sah, wer so lange braucht.

Große Schwierigkeiten gab es auch beim Essen. Wattinchen brachte einfach den Polentabrei nicht herunter. Und diesen gab es fast jeden Tag, es war nach dem Krieg nichts anderes zu bekommen. Der Maismehlbrei, der nach ihrem Geschmack fürchterlich schmeckte, war ein großes Problem für sie.

Die neue Mutter bestand darauf, dass der Teller leer gegessen werden musste. Wattinchen stopfte ihre Wangen voll, sie wurden immer dicker, doch irgend etwas versperrte den kleinen Hals, wenn sie in die fremden Augen sah. Diese funkelten, wenn sie Wattinchens dicke Backen sahen. Die Schwester hatte solche Schwierigkeiten nicht. Ihr schmeckte der Brei sicher auch nicht besonders, doch sie hatte eben keine Sperre im Hals.

Wattinchen musste so lange vor die Tür ins Treppenhaus gehen, bis der Mund leer war. Wie sollte sie das anstellen? Der Brei wurde durch das lange Kauen immer fester. Er wurde zum richtigen Kloß. Doch dann kam Wattinchen eine gute Idee. Sie stopfte die Klumpen unter die Holztreppe des alten, verkommenen Hauses und war so von ihrer Last befreit. Auf die Toilette wollte sie auf keinen Fall und draußen im Freien konnte sie die Last auch nicht entsorgen, denn gleich neben der Ausgangstür war Mutters Küchenfenster. Also war ihr das Versteck vom Himmel geschenkt, und sie benutzte es mehrmals. Heute kann sie sich vorstellen, dass gewisse Tierchen froh über den gut gekauten Maisbrei waren.

Mutter war sehr streng. Wattinchen sang nicht mehr, sie wurde ernst, aber draußen in der Natur fand sie für kurze Momente den Zipfel vom Glück. Das war beim Blumenpflücken, beim Streicheln einer Katze, beim Herumtoben mit den anderen Kindern, beim Puppenwagenschieben oder beim Rollerfahren.

Eines Tages rettete Mutter eine Katze vor dem Tode. Sie war in eine Jauchegrube gefallen. Mutter wusch sie, und das fand Wattinchen ganz lieb von ihr. Es hat ihr gefallen, wie Mutter das kleine Wesen streichelte und Wattinchens Seele tat so eine Begebenheit besonders gut. Auch so etwas hat sie nicht vergessen.

Einmal sollte Wattinchen Milch holen. Sie stolperte jedoch, die Kanne fiel ihr aus der Hand, und die Milch lief auf die Straße. In ihrer Not rannte Wattinchen zu der Milchfrau zurück und erzählte ihr von ihrem Missgeschick. Die Milchfrau füllte wieder ihre Kanne, und so konnte Wattinchen erleichtert nach Hause gehen. Sie fürchtete sich, daheim geschimpft zu werden, und so wählte sie diesen Weg. Doch die Milchfrau erzählte es irgendwann der Mutter, und da gab es doch Ärger.

Wattinchen musste öfters in einer Ecke des Zimmers stehen mit dem Gesicht zur Wand. Das war hart für sie, wenn sie die Kinder draußen lärmen hörte, die Sonne schien und sie nicht dabei sein konnte. In solchen Momenten war sie unsagbar traurig. Den wahren Grund, warum sie so gestraft wurde, weiß sie heute nicht mehr. Vielleicht war sie öfters unfolgsam?

An eine besondere Begebenheit kann sich Wattinchen noch genau erinnern. Sie war bereits Schulkind, wurde mit Scharlach ins Krankenhaus in Gmunden eingeliefert und lag dort zwei Wochen alleine in einem Zimmer. Das war schlimm. Es ging ihr sehr schlecht, alles tat ihr weh. Die Eltern durften nur durch eine Fensterscheibe ins Krankenzimmer sehen. Sie brachten ihr Briefe von Klassenkameraden und ein paar Naschereien mit, die ihr von einer Nonne überreicht wurden.

Dann kam der nächste Winter. Wattinchen sollte in ein Kloster nach Lambach kommen. Die Mutter begleitete sie zum Bus, der ganz früh an der Fabrik, wo Vater arbeitete, abfahren sollte. Ihr Köfferchen war gepackt, und sie war nicht traurig darüber, von Zuhause weggehen zu müssen, denn dort fühlte sie sich nicht wohl. Sie standen lange an der Haltestelle. Der Bus kam nicht. Vielleicht war er durch den hohen Schnee verhindert gewesen. So kam Wattinchen nicht ins Kloster. Ob es damals ernst gemeint war oder ob man ihr nur Angst machen wollte, weiß sie bis heute nicht. Sie hat die Wahrheit nie erfahren.

Nun bekam die Familie Zuwachs. Im Februar 48 kam ein „Stammhalter“ zur Welt. Vater freute sich besonders über den Jungen, denn bis jetzt hatte er ja nur Mädchen. Die gesamte Aufmerksamkeit galt jetzt dem Kleinen.

Ein gutes Jahr später bekam sie auch noch eine kleine Schwester.

Die alte Behausung war viel zu klein geworden. Vater erhielt eine schöne Fabrikwohnung in einem Neubau. Diese war nicht weit von der alten entfernt. Wattinchen benützte beim Spazierenfahren mit ihren kleinen Geschwistern diese Möglichkeit, dort ihre alten Spielkameraden zu treffen. Zu einem kleinen Schwätzchen reichte es immer, und sie erhaschte einen Zipfel vom Glück.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Die Autorin, geboren 1960, wohnt im Dreiländereck Nordrhein-Westfalen/Hessen/Rheinland-Pfalz. Erst spät hat sie ihr Talent zum Dichten entdeckt und ihre Gedanken und Erfahrungen zusammengetragen. So entstand eine Gedichtsammlung, an der die Autorin gerne andere Menschen teilhaben lassen möchte, und daher wurde der vorliegende Band zusammengestellt.

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